Die flüsternde Mauer. Manuela Tietsch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Manuela Tietsch
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753195094
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da hörte ich es. Als würde jemand nach einem tiefen Tauchgang Luft holen. Ich hatte das Gefühl, mein Herz würde stehen bleiben. Da stand jemand, irgendwo, ganz in meiner Nähe. Sollte ich ihn einfach ansprechen? Warum sagte er oder sie nichts? Im Gegensatz zu mir kannte sich dieser Jemand bestimmt hier in der Dunkelheit in diesem Raum aus. Und warum hatte dieser Jemand keine Taschenlampe an? Meine Sinne waren bis zum Zerreißen gespannt, geschärft. Doch was konnte ich tun, wenn derjenige mir wirklich Böses wollte. Vielleicht hatte ich auch schon den Verstand verloren? Ich versuchte ganz flach zu atmen, damit er mich nicht hörte. Möglicherweise wusste er nicht, wo ich stand? Und wenn es ein Geist war? Das Gespenst des Schlosses? Ein spukender Urahn, der sich durch List Frauen in diese Kammer lockte, um ihnen beim langsamen Sterben zuzusehen?

      Da war es wieder. Dieses Mal war der Atemzug kürzer und ein weiterer folgte. Am liebsten hätte ich laut losgeschrien. Ich spürte, wie mein Körper unwillkürlich zitterte. Es gab keinen Ausweg! Oder doch? Vorsichtig schob ich meine Hand weiter in das Loch, welches ich in den letzten, vermutlich, Stunden geschaffen hatte. Vielleicht lag dahinter die Rettung und Freiheit, die ich jetzt brauchte? Ich versuchte ganz leise zu sein und weiterhin jedes Geräusch wahrzunehmen. Da war nur das Atmen, das inzwischen gleichmäßiger geworden war. Konnte ich mich nicht in Luft auflösen? Ich sollte ihn oder sie einfach ansprechen, was konnte schon passieren? Alles, schoss es mir durch den Kopf! Ich hatte nichts zu verlieren, schob meine Hand weiter durch das Loch. Dahinter war nichts. Tatsächlich also ein Hohlraum, wie ich es mir erhofft hatte. Meine Hand befühlte die Umrandung des Lochs in der zweiten Mauer. Mein Herz schlug so laut, dass jeder es hören musste, egal wo er stand. Ich gestattete meinen Händen, die schützende Wand zu verlassen und weiter in die Leere, den Hohlraum, hineinzufühlen. Was würde ich wohl finden? Eine weitere Wand? Nichts? Ich hatte solche Angst!

      Sorgen

      Luisa hatte den Markt schon zum zweiten Mal abgesucht. Alanis war unauffindbar. Sie hatte mit Mattes und Leonhard die Burg von oben bis unten durchkämmt, nichts. Allmählich machte sie sich doch Sorgen. Das sah Alanis nicht ähnlich, sie verschwand nicht einfach ohne ein Wort. Irgendetwas musste geschehen sein. Sie trat aus dem Zelt. Den Markt schaffte Luisa auch ohne sie, wenn Mattes oder Leo ab und zu halfen, aber wie konnte sie einfach so verschwinden? Sie überlegte scharf, was hatte Alanis ihr erzählt? Sie kannte diese Burg schon länger, war ganz aus dem Häuschen gewesen, als sie erfahren hatte, dass dieses Jahr ausgerechnet hier ein mittelalterlicher Markt veranstaltet wurde. Und was hatte sie alles angestellt, um bloß dabei sein zu können! Vielleicht sollte sie doch noch einmal zur Burgverwaltung gehen und ein weiteres Mal mit dem Burgführer alles absuchen?

      Mattes kam ihr entgegen. „Schon was Neues?“

      Luisa schüttelte den Kopf. „Sollten wir mal nachfragen, ob es irgendwelche geheimen Gänge gibt, die nicht für Besucher zugänglich sind?“

      Mattes nickte. „Wer geht zum Stand?“

      Luisa überlegte kurz. „Geh du, ich suche noch mal nach ihr.“

      Während Mattes zum Zelt ging, sagte er: „Ich zieh mich um, bis gleich.“ Er verschwand im Zelt.

      Luisa schritt mit zügigen Schritten die Treppe, die vom großen Hof zum kleinen Vorhof führte, hinauf und weiter zum Eingang, in dem sich das Kartenhäuschen befand. Sie trat an die offene Scheibe. „Ich bin es schon wieder. Meinen Sie, es wäre noch einmal möglich mit dem Burgführer zu reden?“

      Die Kassiererin blickte nicht sehr begeistert zu ihr auf, nickte ergeben. „Ich werde ihn rufen, Augenblick.“ Sie griff nach dem Telefonhörer, wählte eine Nummer und horchte. Nach einem Augenblick sagte sie in die Sprechmuschel: „Hier ist noch einmal die Frau wegen der Vermissten.“ Sie horchte auf das, was am anderen Ende gesagt wurde und nickte, während sie auch schon wieder auflegte. „Gehen Sie bitte durch die Halle und warten dort auf Herrn Lesinski, er kommt gleich.“

      Luisa bedankte sich und ging zum Ende der Halle. Sie musste nicht lange warten, sie hatte ihn wohl beim Essen gestört. „Tut mir leid, ich mach mir Sorgen, das entspricht nicht ihrer Art, ohne ein Wort zu verschwinden.“

      Herr Lesinski kniff die Lippen zusammen. „Wir haben doch schon alles abgesucht.“

      „Ich dachte mir, dass es noch irgendwelche Geheimgänge gibt, wo die Besucher sonst nicht hin dürfen. Alanis ist neugierig und sie war schon öfter hier auf dieser Burg, deswegen.“

      „Es gibt keine Gänge und auch keine Verstecke oder Verliese, jedenfalls nichts, wo neugierige Besucher einfach so hineinspazieren könnte.“

      Luisa versuchte ihn flehentlich anzusehen. „Fällt Ihnen nichts ein?“

      Er schüttelte schon ungehalten den Kopf. „Ich sagte es bereits. Wenn Sie wollen, gehen wir noch einmal durch die Burg, das ist mein letztes Angebot.“

      Luisa nickte dankbar. „Das ist nett, wirklich, danach bin ich bestimmt beruhigter.“

      Sie folgte ihm durch die Gänge und er schloss sogar den einen oder anderen Raum auf, damit sie hineinsehen konnte. Von Alanis fehlte jede Spur. Am Ende erreichten sie die große Halle von einem anderen Gang aus. Luisa bedankte sich noch einmal und machte sich auf den Weg zum Stand. Sie verstand nicht, was hier geschah. War Alanis womöglich nach draußen gegangen und den Berg herunter gestürzt? Sollten sie einen Suchtrupp auftreiben und den Berg um die Burg absuchen? Mit einem schlechten Gefühl in der Magengegend ging sie zum Markt. Vermutlich war es das Beste, wenn sie noch wartete? Wie viele Stunden waren inzwischen vergangen, sechs oder schon sieben, acht? Sie hatte den Überblick verloren. Wahrscheinlich rief Alanis bald an und entschuldigte sich, weil sie nicht Bescheid gegeben hatte. Luisa glaubte selber nicht, was sie dachte. Ein Unglück war passiert, Alanis war die Zuverlässigkeit in Gestalt. So etwas hatte Luisa noch niemals erlebt. Sie beschloss, Mattes und Leo loszuschicken, um einen Suchtrupp zusammenzustellen. Sie mussten sich beeilen, denn in ein, zwei Stunden wurde es bereits dunkel.

      Nicht allein

      Ich hielt die Luft an, als sich meine Hand weiter in der dunklen Leere umsah. Jäh stieß ich auf Widerstand. Die Leere war gar nicht so leer wie gedacht. Es fühlte sich an wie Stoff. Das Gewebe eines Stoffes, der auseinanderzufallen drohte, als ich darüber strich. Unwillkürlich zuckte ich zusammen, als mir klar wurde, dass der Stoff sich warm anfühlte. Und da war es wieder, das Atmen, ganz nah. Meine Hand lag noch auf dem Stoff in der Dunkelheit, ich spürte, wie der Stoff sich in gleicher Regelmäßigkeit wie der Atem hob und senkte. Meine Hand lag offenbar auf einem Brustkorb und der Atem, den ich die ganze Zeit vernommen hatte, kam aus dem Loch. Dort auf der anderen Seite stand ein Mensch und dem Brustkorb nach ein Mann. Ein eisiger Schauer lief mir über den Rücken. Ich musste meine Hand herausziehen, sofort! Noch bevor ich meinem Trieb nachgeben konnte, wurde sie plötzlich gegriffen und festgehalten. Ich schrie laut auf. Ich hatte solche Angst. War das der Geist? Ich konnte die langen gekrümmten Fingernägel spüren, wie Krallen.

      Der Mann auf der anderen Seite schrie ebenfalls auf. Ich versuchte meine Hand wegzuziehen, doch er hatte Kraft und hielt mich fest. Leise, beschwörend begann er zu sprechen:

      „Helfet mir, wer auch immer ihr seyn möget.“

      Er ließ los, allerdings nur, um seine Hände an meinem Arm entlang zu führen bis zur Öffnung des Loches. Ich zog erneut, doch er hielt mich.

      „Bitte,“ rief er mit verzweifelt klingender Stimme, „bitte gehet nicht fort, lasset mich nicht alleyn!“

      Noch während ich am Zerren war, um meinen Arm loszubekommen, drang der Sinn seiner Worte zu meinem Bewusstsein durch. Er hatte Angst, wie ich. War er womöglich wie ich hier heruntergefallen und wartete auf Hilfe? Das würde bedeuten, meine Hoffnung einen Weg nach draußen zu finden, war umsonst gewesen. Er hatte die gleiche Angst, hier in der Dunkelheit allein zu sein, wie ich. Warum wusste ich nicht, doch mein Widerstand wurde bedeutend schwächer. Ich rang mich durch, ihn anzusprechen.

      „Wer sind Sie und was machen Sie da drinnen? Wo gibt es einen Weg nach draußen?“