Oh, mein Gott. Hält Lena auch mal die Luft an? Seit unserem Treffen in meinem Zimmer taute sie regelecht auf und plapperte ohne Punkt und Komma.
Zurück im Wohnbereich setzte ich mich aufs Bett.
»Hier, ich habe einen Flyer auf unserem Zimmer gefunden. Wir könnten uns das Wildwest - Museum ansehen.«
»Ich weiß nicht. Ich glaube, ich werde lieber hierbleiben.« Ich nahm den Flyer. »Außerdem weiß ich nicht, wie wir dort hinkommen. Und, sieh her.« Ich deutete auf die Route. »Du kannst sehen, dass es nicht weit von Midwest City liegt. So würde ich eher vorschlagen, dort morgen oder den Tag darauf hinzufahren.«
»Okay.« Lena zog einen Schmollmund. »Dann gehe ich jetzt wieder zurück zu Kevin. Wir sehen uns morgen früh.«
»Lena, warte doch. Sei nicht beleidigt.«
»Nein, bin ich auch nicht.« Damit verschwand sie aus meinem Zimmer und ließ mich mit einem schlechten Gewissen zurück.
Ich zog die Vorhänge zu und beschloss mir über den morgigen Tag Gedanken zu machen. Dr. Stein hatte uns telefonisch mit Mr. Ralph Norris bekannt gemacht, ebenfalls ein Anwalt. Er war bis zum Ende der Familienanwalt meiner Großeltern. Ihm war es zu verdanken, dass ich gefunden worden war und mein rechtmäßiges Erbe antreten durfte. Über die Jahre war Ralph Norris eine Art Ersatzkind von Mary-Ann und Brian geworden. Deswegen war es ihm persönlich auch sehr wichtig, die einzige Verwandte, also mich, zu finden. Morgen früh würden wir uns mit ihm hier im Hotel treffen und alles Weitere besprechen, doch bis dahin wollte ich mich ausruhen.
Mr. Norris saß schon an unserem Tisch, als meine Eltern mit mir am nächsten Morgen ins Restaurant kamen. Die Sonne schien durch die großen Fenster und erhellte den Raum, durch die Boxen an den Wänden erklang eine beruhigende Melodie. Als er uns erkannte, stand er auf und kam auf uns zu. Dabei nahm er seinen Hut ab, der ihn wie Sherlock Holmes hatte aussehen lassen. Durch sein lichtes Haar schien seine weißliche Kopfhaut. »Hallo, ich bin Ralph«, sagte er und reichte zuerst mir, dann meiner Mutter und meinem Vater die Hand. »Ist es nicht ein wunderschöner Tag? Ich liebe diese Jahreszeit, wenn einem die Sonne den Tag versüßt.« Er schloss kurz seine Augen. »Setzt euch, setzt euch.« Er schob mir einen Stuhl zurecht. »Es ist so aufregend, dir endlich ins Gesicht sehen zu können. Du siehst deiner Mutter so ähnlich.« Ralph setzte sich mir gegenüber.
»Wirklich?«
»Hier, such dir etwas aus.« Papa reichte mir die Frühstückskarte, obwohl er wusste, dass ich Buffet wollte. »Ja, danke, aber ich nehme vom Buffet.« Ich gab ihm die Karte zurück.
»Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages«, sagte Ralph und deutete zum Buffet. »Das Essen ist hier vorzüglich, besonders für Gäste des Hauses, denn sie bekommen natürlich einen Sonderpreis.« Er blinzelte.
»Ralph, hast du ein Foto von meiner Mutter?«
Die Kellnerin kam und nahm die Bestellung unserer Getränke auf.
»Nicht hier, aber im Haus gibt es mehr als genug Fotos. Gerne bin ich bereit, dir alle Fragen zu beantworten. Deine Großeltern waren meine Ersatzfamilie.«
»Begleitest du uns denn?«, fragte meine Mutter und bedankte sich, als die Kellnerin eine Thermoskanne Kaffee auf den Tisch stellte.
»Ja, selbstverständlich. Dr. Stein hat mir erzählt, dass ihr noch zwei Söhne habt.«
»Das ist richtig.« Mein Vater schenkte sich ein. »Sie sind auch hier im Hotel. Mein Sohn Kevin hat sogar seine Freundin mitgebracht. Doch wollten wir das erste Gespräch klein halten.«
»Eine Großfamilie ist immer etwas Schönes.«
»Dr. Stein hat dir viel von uns erzählt.« Mama trank einen Schluck Kaffee und strich sich über die Nasenspitze.
»Eigentlich nicht viel. Wir haben uns mehr über das Wichtige unterhalten. Ich hatte ihm alle Formulare zugemailt und er mir mit der Unterschrift versehen zurück. Das ging ja alles recht fix, obwohl ich die Erbermittlungsagentur einschalten musste. Es war schwer, dich zu finden, aber ich bin sehr froh.«
»Ja, ich auch.« Der Geruch von Bacon stach mir in die Nase und ich entschuldigte mich, um das Buffet unsicher zu machen. Ich nahm von jedem Teller eine Kleinigkeit, zum Schluss sogar eine kleine Schüssel mit Frühstücksflocken. Würstchen, Spiegeleier mit Bacon und Pancakes mit Ahornsirup. Bei so vielen leckeren Sachen konnte ich nicht widerstehen.
»So, ich bin wieder da.« Ich schob mir den Stuhl zurecht, und schnitt den Pancake klein, um ihn danach tief in den Ahornsirup zu tauchen. »Mm, lecker.«
»Ja, das amerikanische Frühstück.« Ralph nippte an seinem Kaffee und ich hatte das Gefühl, dass er die Augen nicht von mir nahm.
Eine halbe Stunde später trafen wir Kevin, Lukas und Lena in der großen Lobby.
Ralph begrüßte sie höflich. Mittlerweile hatte er seinen Hut wieder aufgesetzt und einen Mantel angezogen, der zwar dünn, doch viel zu warm für dieses Wetter war. Ich trug ein gestreiftes T-Shirt und eine Dreiviertelhose mit Ballerinas.
»Ich habe einen großen Van, in dem wir alle Platz finden. Ich fahre euch zum Autoverleih und von dort folgt ihr mir einfach.« Unser Vater setzte sich auf den Beifahrersitz, während die Jungs hinter ihnen Platz nahmen und wir Mädchen uns im hinteren Teil des Autos auf die Schlingelbank setzten.
Ralph fuhr sehr langsam, ob es beabsichtigt war oder ob er immer die Straßen entlangkroch, war mir ein Rätsel. Ich öffnete das Fenster und hatte sofort einen leicht sandigen Geschmack im Mund, also schloss ich es wieder.
Wieso macht er die Klimaanlage nicht an?
Als mir der Schweiß wie Suppe von der Stirn tropfte, schloss ich die Augen und hoffte, dass wir bald da wären. Wer weiß, wärmer konnte es ja wohl nicht werden.
Als wir in den Leihwagen stiegen, schaltete Papa sofort die Klimaanlage an und Mama suchte verzweifelt die Frischhaltetücher in ihrer Tasche. »Oh Mann, ist das heute warm.« Sie reichte Lena und mir ein Tuch. »Hier, damit könnt ihr euch etwas frischmachen.«
»Ich weiß gar nicht, wie Ralph das in seinem Mantel aushält«, sagte ich.
»Das möchte ich auch wissen. Vielleicht hat er ja keine Wärmeempfindung oder keine Schweißdrüsen.« Lena fächerte sich mit ihrem Flyer Luft zu.
»Mm, vielleicht.«
Mein Vater fuhr in eine Straße mit einem Wendehammer und hielt auf einer Auffahrt mit einem weißen Garagentor und einer amerikanischen Flagge im Vorgarten gleich hinter dem Van.
Es war das Haus auf dem Foto, ein Bungalow!
Ralph stieg aus und kam auf uns zu. »Bevor wir reingehen…« Er holte ein Schlüsselbund aus seiner Manteltasche. »möchte ich dir den Schlüsselbund geben. Dieser da, ist der Haustürschlüssel.« Er deutete auf einen Schlüssel mit roter Silikonhülle. »Dort sind alle Schlüssel, die zu diesem Haus gehören. Es wurde nichts ausgeräumt oder verändert. Ich hatte gedacht, dass du dir alles so ansehen möchtest, wie sie es hinterlassen haben.«
Ich nickte stumm. Mein Herz hämmerte und meine Füße fühlten sich an wie Blei. Wenn ich durch diese Tür gehen würde, dann öffnete ich das Tor zu meiner Vergangenheit. Ich könnte Dinge erfahren, die mir den Boden unter den Füßen wegziehen könnten, doch war es für einen Rückzieher zu spät. Die Formulare waren unterschrieben und das Haus gehörte mir. Da ich aber noch nicht volljährig war, sollten meine Eltern bis dahin mein Erbe verwalten. Erst fand ich das ungerecht, doch nachher war ich froh, dass mein Vater den ganzen Papierkram übernahm und ich nur ab und zu unterschreiben musste.
Ich öffnete die Tür und wir fanden uns in einem geräumigen Wohnzimmer mit angrenzender großer Wohnküche wieder. Es war altmodisch eingerichtet, alte, vielleicht schon antike Schränke standen an den Wänden und eine große dunkelbraune Vitrine, passend zu dem Rest der Möbel, stand in der Küche.
»Einmal in der Woche kommt Señora Diaz und macht hier ein bisschen sauber. Staub