Das Phänomen. Karin Szivatz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karin Szivatz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754171868
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Licht, als ob sich ein Blitz darin verstecken würde. Ein kleines Gewitter in jeder Wolke, in der es von grellem Weiß bis zum sanften Gelb schillerte und leuchtete. Rosalie wusste nicht, ob sie dieses unnatürliche Schauspiel als bedrohlich oder als faszinierend betrachten sollte. Vermutlich war es beides, doch sie war sich ihrer Gefühle nicht sicher. Sie hatte auch Hemmungen, aus dem Schutz des breiten Verandadachs hinaus unter den freien Himmel zu treten. Mit einem Schirm über dem Kopf fühlte sie sich zwar nicht sicher, aber doch ein wenig besser, obwohl ihr bewusst war, dass er im Fall eines kontaminierten Regens völlig sinnlos war. Manchmal aber braucht der Mensch nur etwas, um sich daran fest zu halten, dachte sie und stürmte im Laufschritt auf das Haus ihrer Nachbarin zu.

      Als sie die Tür öffnete, blieb sie stehen und lauschte. Sie rechnete irgendwie damit, dass Marisha herumkramte, doch sie hörte nicht den geringsten Laut. „Marisha?“, fragte sie zögerlich in den Raum hinein, erhielt jedoch keine Antwort. Mit fröstelnden Oberarmen schlich sie vorsichtig zum Schlafzimmer und spähte um die Ecke. Ihre Nachbarin und Freundin lag in ihrem Bett und war tot. So tot wie vor vierundzwanzig Stunden.

      Rosalie atmete hörbar aus und setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. Aber dieses Mal nicht, um ihr eine Geschichte vorzulesen, sondern um sich endgültig von ihr zu verabschieden. Marisha war tot und würde wohl nicht wieder lebendig werden. Und das war gut so! Sie freute sich über diese Normalität wie über ein Wunder.

      Nachdem sie der alten Frau die Decke über den Kopf gezogen hatte, warf sie wieder einen Blick auf das Meer. Die spitzen Wellen drängen sich nun in Richtung Himmel, der jetzt noch tiefer zu hängen schien als noch vor wenigen Minuten. Sie hatte den Eindruck, als wollten die Spitzen der Wellen die Wolken aufstechen, um das gelb-weiße Farbenspiel ins Meer laufen zu lassen. Rosalie fröstelte erneut und sie lief geduckt unter dem Schirm zu ihrem Auto um in die Ordination zu fahren. Zu allererst würde sie Marishas Tochter sowie den Leichenbestatter informieren. Den ärztlichen Totenschein hatte sie gut sichtbar auf dem Küchentisch hinterlassen.

      Obwohl in der Praxis schon sieben Patientinnen warteten, nahm sie sich die Zeit für ein ausführliches Gespräch mit Marishas Tochter. Sie hatte sie nie so richtig kennen gelernt, denn sie war nur sehr selten zu Besuch bei ihrer Mutter gewesen, und sie wollte sie auch jetzt nicht mehr kennen lernen. Ihr war nur wichtig, dass ihre Freundin und Nachbarin ein wirklich gutes Begräbnis bekam. Das hatte sie sich allemal verdient.

      Als sie sich wieder fit für die Aufgaben des Alltags fühlte, öffnete sie die Tür zum Warteraum und wollte ihre erste Patientin in den Untersuchungsraum bitten, doch ihr Lächeln erstarb sofort, als sie sah, dass alle sieben Frauen heftig miteinander stritten. Sie zischten wie Schlagen, weil sie gelernt hatten, ihre Stimmen in einer Arztpraxis zu dämpfen, aber es war eindeutig ein schlimmer Streit.

      „Meine Damen, was ist denn hier los?“, fragte sie entsetzt und sah eine nach der anderen vorwurfsvoll an.

      „Die da“, keifte Mrs. Blackwood, „behauptet, sie müsse zur Arbeit und möchte vorgelassen werden. Aber ich war als Erste hier und verlange, als Erste untersucht zu werden. Das ist mein gutes Recht!“ Sie verschränkte die Arme vor ihrer bombastischen Brust und setzte eine zornige Miene auf.

      „Als ob sie wüssten, was es heißt, pünktlich in der Arbeit zu erscheinen!“, zischte die Beschuldigte zurück. „Sie haben nur die Beine breit gemacht, damit ihr Mann Sie durchfüttert. Alle wissen das!“

      „Also woher sie ihre drei Kinder haben, möchte ich nicht wissen“, stichelte Mrs. Drawling auf die von Mrs. Blackwood beschuldigte Frau ein. „Sie sehen einander überhaupt nicht ähnlich und keine einziges davon ihrem Mann.“

      Während diese bösen Worte ausgesprochen wurden, hatte sich Mrs. Blackwood von ihrem Stuhl erhoben und prügelte mit der ziemlich großen Lederhandtasche auf ihre Kontrahentin ein. „Wagen Sie es ja nicht, meine Ehre in den Dreck zu ziehen!“, schrie sie nun hemmungslos und ließ ihre Tasche erneut auf die Frau hernieder sausen.

      „Halt! Stopp! Aus! Ruhe! Wer sich nicht benehmen kann, der geht auf der Stelle nach Hause, das ist mein Ernst! Ich werde jede einzelne eigenhändig aus meiner Praxis schmeißen, wenn nicht sofort Ruhe herrscht. Wir sind doch hier nicht in der Gosse!“, keifte Rosalie lautstark, um sich Gehör zu verschaffen und die Frauen aus ihrer Fokussierung auf den Streit zu holen.

      Sie spuckte vor Aufregung dünne Speichelfäden in den Raum und ihr Gesicht lief dunkelrot an. Noch in derselben Sekunde herrschte Stille im Raum und die Damen sahen sie einen Moment völlig entgeistert an, denn so kannten sie ihre Ärztin nicht. Dr. Baxter war stets ruhig, nett, besonnen und vernünftig, doch jetzt zeigte sie eine ganz andere Seite von sich.

      Zähneknirschend setzte sich Mrs. Blackwood und hielt ihre Handtasche schützend vor ihren Bauch. Auch die anderen sechs Damen hielten ihren Mund und blickten finster an die Wand, auf die Decke oder auf den Boden. Rosalie war mit ihrer Zurechtweisung zufrieden und bat die erste Patientin ins Sprechzimmer. „Kommen Sie bitte herein, damit sie noch rechtzeitig zur Arbeit kommen“, sagte sie und behielt Mrs. Blackwood im Auge, die tatsächlich noch nie berufstätig war.

      Nachdem sie die letzte Patientin verabschiedet hatte, legte sie ihren weißen Mantel ab, schulterte ihre Handtasche und stellte sich zum Anmeldeschalter.

      „Was war denn heute morgen mit den Damen los? Und wieso waren es nur Damen? Ist dir aufgefallen, dass heute kein einziger männlicher Patient hier war? Nur zickige, streitsüchtige Weiber. Sorry, der letzte Satz war nicht so gemeint“, entschuldigte sie sich sofort bei ihrer Sprechstundenhilfe.

      „Du kannst es ruhig aussprechen, sonst muss ich es machen. Der Streit, den die alte Blackwood vom Zaun gebrochen hat, war echt nicht nötig. Es ist doch seit jeher bekannt, dass wir die Berufstätigen vor den Pensionisten drannehmen. Trotzdem war es ein sehr aggressiver Streit und nicht nur zwischen den beiden, es haben sich alle eingemischt. Ich habe keine Ahnung, was da los war. Und wo die Männer abgeblieben sind, weiß ich auch nicht. Ein vernünftiger, ruhiger Mann wäre heute ein echter Gewinn gewesen. Selbst dann, wenn es ein hässlicher gewesen wäre“, witzelte die Sprechstundenhilfe und Rosalie legte ihr lachend die Hand auf den Unterarm.

      „Ich gehe heute früher nach Hause, die Befunde diktiere ich morgen. Du kannst auch Schluss machen. Dreh’ mit deinem Hund eine Extrarunde, er wird es dir danken!“

      Rosalie trat auf die Straße hinaus und sah sich um. Die Farben der Natur boten nun ein völlig anderes Bild als noch am Morgen. Was sie allerdings sehr wundert war die Tatsache, dass niemand über das Phänomen sprach. Eigentlich musste jeder einzelne Bürger besorgt sein. Sie sah sich um und verspürte keine Panik, sondern eher etwas Friedliches in sich. Und vielleicht war es genau das, was die anderen auch spürten und sich deshalb nicht besorgt zeigten. Bevor sie jedoch nach Hause fuhr, lenkte sie ihren Wagen zur Greißlerei, weil sie keine Lust hatte, in den Supermarkt der nächsten Stadt zu fahren. Die wenigen Lebensmittel, die sie im Moment brauchte, bekam sie auch hier. Und sie war im Moment auch bereit, die unverschämt hohen Preise dafür zu bezahlen. Sie wollte weder noch eine halbe Stunde im Auto sitzen noch stundenlang an einer Supermarktkasse mit einer übermüdeten Kassierin anstehen. Und von Menschen hatte sie an diesem Tag auch schon die Nase voll.

      11

      Eine kleine Gruppe Menschen verließ gerade den Bahnhof. Wie in jedem kleinen Dorf kannten die Bewohner einander und deshalb unterhielten sie sich ausgelassen miteinander, während sie am Gehsteig entlang schlenderten. Der Tag war zwar heiß, aber sie hatten dennoch keine Eile nach Hause zu kommen. Sie erfreuten sich am Small Talk und noch mehr über einen handfesten Skandal, von dem sie vielleicht erfuhren.

      Gerade als sie in die Mainstreet eingebogen waren, verlangsamte eine der Frauen ihren Schritt. Sie spürte einen kalten Schauer über ihren Rücken laufen, der seine Eiszapfen sogar in ihre Ohren bohrte; gleichzeitig stellten sich ihre feinen Nackenhärchen auf. Sie blieb stehen und drehte sich vorsichtig um. Irgendjemand oder irgendetwas beobachtete sie, das war deutlich zu spüren. Und richtig. Hinter ihnen standen vier Hunde, die sie aus kalten Augen beobachteten. „Los, gehen wir schneller, das ist mir nicht geheuer!“, forderte sie die anderen auf und die Gruppe bewegte sich nun eiligen Schrittes die Hauptstraße