Gungo Large - Spiel mir das Lied vom Troll. Thomas Niggenaber. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Niggenaber
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754118160
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Ding. Unserem Anführer werde ich nachher aber noch einen Besuch abstatten.«

      Er sah in den Himmel und stellte fest, dass die Lichtverhältnisse es nur noch für kurze Zeit ermöglichen würden, weitere Nachforschungen anzustellen. Wenn er noch einen Blick auf die Spuren werfen wollte, die von den Totenstätten wegführten, würde er sich damit sputen müssen.

      »Da!«, rief Finstere Krähe plötzlich erschrocken und sein ohnehin schon bleicher Teint wurde noch ein wenig blasser. »Da war etwas! Hast du es auch gehört?«

      Der Schamane horchte angestrengt in die Dämmerung hinein. Außer den Geräuschen, die der Wind verursachte, nahm er nichts Außergewöhnliches wahr.

      »Mumpitz«, erwiderte er deshalb. »Da ist nichts. Du wirst wohl schon paranoid. Also chill mal und nerv mich nicht.«

      Der Wächter über die Toten ließ nicht locker. »Doch da war was«, beharrte er. »Irgendein Schleichen oder Schlurfen. Es kam von den Totenstätten da hinten.« Er deutete nach Westen.

      Obwohl Träumender Lurch dort im Halbdunkel nicht viel erkennen konnte, war er sich sicher, dass die Sinne des Totenwächters selbigem nur einen Streich gespielt hatten.

      »Du solltest ernsthaft mal über einen Berufswechsel nachdenken«, schlug er vor. »Zweiter Bildungsweg oder so.«

      Er ging in die Hocke, um die Abdrücke in dem grasbewachsenen Boden zu untersuchen. Wie Finstere Krähe es beschrieben hatte, führte von jedem Totengerüst nur jeweils eine Spur fort und all diese Spuren stammten eindeutig von Elfen. Dies konnte der Schamane an Breite und Länge der Abdrücke erkennen. Langsam hatten sie sich bewegt, so stellte er weiterhin fest, und bei einigen hatten weder Schuhwerk noch Haut oder Fleisch die blanken Fußknochen bedeckt.

      Der alte Elf sah auf und folgte mit seinen Blicken den Spuren nach Nordwesten. Jemand würde dieser Fährte folgen müssen, um herausfinden zu können, wohin sie führte. Der Schamane beschloss, dass er am nächsten Tag den Bruder des vermissten Greifenreiters darum bitten würde. Dieser war ein erfahrener Krieger und Fährtenleser, ihm würde es leicht fallen, den Spuren über viele Meilen hinweg zu folgen. Vielleicht würde das Wissen über den Verbleib der abhanden gekommenen Toten ja auch Aufschluss über das Verschwinden von Grimmiger Hirsch bringen. Die Ahnen hatten ja erwähnt, dass all die seltsamen Geschehnisse der letzten Zeit in Zusammenhang standen.

      Träumender Lurch richtete sich wieder auf und für einen kurzen Augenblick glaubte auch er ein leises, schlurfendes Geräusch zu hören. Er hielt inne und lauschte, dann jedoch schüttelte er den Kopf. Bestimmt hatte der Wind nur irgendeinen Gegenstand in Bewegung versetzt, so dass dieser sich an irgendwas gerieben und so das Geräusch verursacht hatte. Oder der memmenhafte Totengräber hatte es nun endlich geschafft, ihn mit seiner übertriebenen Furchtsamkeit anzustecken.

      Dessen Erleichterung war deutlich sichtbar, als der Schamane wenig später das Signal zum Aufbruch gab. Die Dunkelheit herrschte nun beinahe schon vollständig über das Land.

      Sie hatten die letzten Totenstätten, die ihren Weg zurück ins Dorf säumten, auch schon fast erreicht, als plötzlich eine tiefe Stimme hinter ihnen langsam zu sprechen begann.

      »Wer … hat mich … gerufen?«

      So dunkel und hohl klangen diese Wörter, als hätte sie jemand durch ein Rohr gesprochen. Ein merkwürdiges Rasseln begleitete sie, als hätte dieser Jemand gleichzeitig eine Blechdose voller Nägel geschüttelt.

      Totenwächter und Schamane blieben abrupt stehen, dann wandten sie sich der Stimme zu.

      »Ach du Scheiße!« Finstere Krähe wich ein paar Schritte zurück, als hätte ihn eine unsichtbare Faust getroffen. Dann blieb er jedoch wie versteinert stehen. Mit weit geöffneten Augen blickte er der unheimlichen Gestalt entgegen, die sich ihnen langsam näherte. Mit einem lebenden Elfen hatte dieses Wesen noch so viel gemein, wie es Fleisch auf den Knochen hatte – nämlich sehr wenig. Das Gesicht war nur noch zum Teil vorhanden. Vom Nasenbein abwärts bestand es nur noch aus Knochen, einigen Sehnen und faulendem Muskelfleisch. Dieses hing stellenweise in fransigen Lappen vom Schädel herunter. Auch das unvollständige, braungelbe Gebiss war nahezu gänzlich von fleischlichem Gewebe befreit. Ein permanentes, viel zu breites Grinsen zierte deshalb das vermoderte Antlitz des auferstandenen Leichnams. Die beiden milchig getrübten, leblosen Augen darin strahlten hingegen keinerlei Frohsinn aus. In den traurigen Überresten einer einstmals üppigen Haarpracht steckten noch ein paar Adlerfedern, die jedoch zerrupft und geknickt waren wie die eines Vogels in der Mauser.

      Die weit vorangeschrittene Verwesung hatte sich natürlich auch des restlichen Körpers angenommen. Meist waren es nur blanke Gebeine, die durch die Löcher der verrotteten Wildlederkleidung zu erkennen waren. Nur hier und da bedeckte noch ein wenig bleiche Haut die morsch erscheinenden Knochen.

      »Habt ihr mich … gerufen?« fragte der wandelnde Tote. Sein Kiefer verrichtete dabei deutlich sichtbar und knirschend seine Arbeit. Unterbrochen wurde seine Rede immer wieder von einem Seufzen und Stöhnen, das tief aus seinem modernden Brustkorb kam.

      Natürlich war es der Schamane, der als erster Anwesende seinen Schreck überwand und seine Sprache wiederfand.

      »Ich glaube du bist ein wenig spät dran, mein magersüchtiger Freund«, mutmaßte er. »Die anderen Toten sind alle gestern schon verschwunden.«

      »Gestern?« Der Untote blieb stehen. Wäre seine zerfledderte Miene noch fähig gewesen, ein Gefühl auszudrücken, so wäre dieses wohl jetzt Verwirrung gewesen. »Als ich … den Ruf vernommen habe, dachte ich … ich könnte noch … ein wenig liegenbleiben. Das ist … schon einen ganzen Tag her? Im Reich … der Toten … vergeht die Zeit … wohl tatsächlich … etwas schneller!«

      Träumender Lurch kniff die Augen zusammen und betrachtete den ehemaligen Elfen eingehend. Trotz des fortgeschrittenen Verfalls konnte er noch ausreichend viele persönliche Merkmale entdecken, um sich an dessen frühere Identität zu erinnern.

      »Ich kenne dich«, stellte er fest. »Du bist … äh warst … ein Elf namens Früher Vogel! Du warst ein Greifenreiter und damals schon dafür bekannt, dass du stets zu spät kommst.«

      »Mein Zeitmanagement … war mit dem … der anderen … nicht kompatibel«, rechtfertigte sich Früher Vogel.

      Voller Abscheu beobachtete der Schamane, wie sich ein fetter, weißer Wurm aus der Stirn des Untoten herausbohrte und langsam zwischen seinen Augen herab kroch. Augenscheinlich war das unregelmäßige Loch inmitten der verfaulten Fratze sein Ziel, auf dem sich einst eine Nase befunden hatte.

      »Äh … du hast da ...«, begann er, mit dem Finger auf das Gesicht des Verwesenden deutend. Dann jedoch ließ er es bleiben, Früher Vogel auf den Wurm aufmerksam machen zu wollen.

      Es hätte ihn wohl eh nicht interessiert.

      Stöhnend und langsam setzte sich der Leichnam wieder in Bewegung. Erst als er Finstere Krähe erreicht hatte, der immer noch starr vor Schreck ein paar Schritte neben dem Schamanen verharrte, blieb er stehen. Der Wurm hatte mittlerweile auch sein Ziel erreicht und war wieder in dem Schädel verschwunden.

      »Hast du...mich...gerufen?«

      »Ich? Nee, nee, nee!«, erwiderte der Wächter über die Toten hektisch, beinahe schon hysterisch. »Auf gar keinen Fall! Ich bin hier nur der Aufseher und hab mit der Sache nichts zu tun. Ich mache hier nur meinen Job, weißt du? Der wird übrigens total schlecht bezahlt – unter Tarif sogar. Der Urlaub entspricht auch nicht der allgemein gültigen Regelung und vom Arbeitsschutz will ich gar nicht erst anfangen. Man glaubt ja gar nicht ...«

      Sein Redefluss wurde unterbrochen von einem Tomahawk. Der agile Tote trieb es ihm mit einem raschen Hieb zwischen die Augen. Lediglich ein kurzer Laut des Erstaunens drang aus dem weit geöffneten Mund des Totenwächters. Dann ging er – das Tomahawk noch aus seiner Stirn ragend – zu Boden.

      »Boah, Alter!«, rief der Schamane. »Voll uncool! Warum hast du das denn gemacht?«

      »Die Toten...hassen...alles Lebende«, erklärte Früher Vogel. »Das kann man … in einschlägiger Fachliteratur … nachlesen.«