Wind über der Prärie. Regan Holdridge. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Regan Holdridge
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742769848
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Abend, als wir hier angekommen sind, nichts mehr von Ihnen gehört.“

      „Ich weiß und es tut mir auch wirklich ungeheuer leid.“ Er fasste sie rechts und links an den Oberarmen und lächelte liebevoll. „Ich wohne bei Doktor Stankovski und seiner Frau im Haus, aber der Gute lebt schon in der zweiten Generation hier und ich verstehe so gut wie kein Wort von dem, was er sagt! Er könnte genauso gut russisch mit mir sprechen! Wir verständigen uns immer bloß durch Handzeichen und das ist nicht gerade besonders sinnvoll.“ Bedauernd hob er die Schultern. „Mein Englisch ist nicht unbedingt besser geworden. Ich hatte noch nie Talent für Sprachen.“

      „Vielleicht...vielleicht kann ich es Ihnen beibringen“, schlug Julie eifrig vor. „Das ist nicht so schwer! Zu Anfang hab’ ich mir auch nicht leicht getan, aber man gewöhnt sich ganz schnell daran! Englisch ist viel einfacher als Deutsch!“

      „Julie-Mädchen, wann soll ich mich um Grammatik und Vokabeln kümmern?“ Er ließ sie los und warf einen Blick auf seine Taschenuhr. „Ich bin eigentlich schon wieder spät dran.“

      „Hardy, kann ich Ihnen nicht irgendwie helfen, solange wir hier sind?“ Julie schaute ihn flehend an. Zum einen fühlte sie sich verpflichtet, ihm ihre Unterstützung anzubieten, denn er war immerhin mit ihrem Vater geschäftlich verbunden. Schließlich gehörte ihm eins ihrer Maultiere und die Hälfte des Planwagens. Zum anderen mochte sie den österreichischen Arzt und ihr entging nicht, wie müde und erschöpft er aussah.

      Seine grünen Augen starrten sie regungslos an, als hätte ihn soeben in dieser Sekunde eine Idee durchzuckt. „Ja“, sagte er dann leise. „Ja, Julie-Mädchen, es gibt sogar jede Menge für Sie zu tun!“

      „Ja?“ Ihr Herz machte einen Satz. Seit ihrer Ankunft tat sie nichts anderes, als in dem kleinen Pfarrhaus zu sitzen und ihrer Mutter zur Hand zu gehen. Es ging ihr mächtig auf die Nerven, denn sie musste sich ständig von ihr vorwerfen lassen, nicht zur Hausfrau zu taugen! Und sie hasste diese eintönige Hausarbeit! Sie wollte sich genauso nützlichen machen, wie Hubert und Nikolaus! „Kann ich das wirklich?“

      „Allerdings!“ Aufgeregt fasste Doktor Retzner sie am Handgelenk und zog sie in einen Hauseingang, damit sie nicht noch mehr durchnässten, weil der Regen erneut begonnen hatte, wie aus Eimern auf sie herabzuprasseln. „Passen Sie auf!“ Beschwörend hob er die Hand. „Sie sprechen inzwischen beinahe genauso gut Englisch wie jeder Amerikaner und Sie sind jung und geschickt! Ich könnte Sie mit zu den Hausbesuchen nehmen, damit Sie mir übersetzen! Und nach einer Weile könnte ich Sie auch alleine zu Patienten schicken, wo es nur einfache Verbände zu wechseln gibt oder ähnliches! Dann wären ich und Doktor Stankovski entlastet und könnten uns für die komplizierteren Patienten mehr Zeit nehmen! Würde Ihnen das gefallen?“

      „Oh, natürlich!“, hauchte Julie freudestrahlend. Er traute ihr zu, solch wichtige Aufgaben zu übernehmen, Patienten zu verarzten und ihnen zu helfen und... Ein Schleier legte sich auf ihre jungen, weichen Gesichtszüge. „Mein Vater wird das nie erlauben!“

      „Ah, geh!“ Eine abweisende Handbewegung war die Antwort, die keine Widerrede duldete. „Das lassen Sie mal meine Sorge sein! Ich komme heute Abend bei Euch vorbei und schildere ihm die Situation. Er kann überhaupt nicht ablehnen! Außerdem ist es bestimmt sinnvoll, wenn Sie sich ein bisschen mit Medizin auskennen, bevor wir weiter auf den großen Treck gehen!“

      „Sie kennen meinen Vater nicht!“ Unsicher wich Julie seinem Blick aus. „Außerdem kann er ausgesprochen ungehalten werden! Er hält nichts davon, wenn Frauen einer Arbeit nachgehen.“

      „Papperlapapp!“, rief Doktor Retzner entschlossen. „Ach ja, können Sie eigentlich reiten, Julie?“

      „Reiten? Sie meinen, auf einem Pferd?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, warum?“

      Er lächelte über ihre unschuldige, ahnungslose Art, mit der sie ihn betrachtete. „Na, weil Sie sonst doch nicht hinaus kommen, zu den Patienten, die auf dem Farmen rundherum leben! Oder lassen Sie sich Flügel wachsen?“

      „Ach...so“, machte Julie und ihre Freude trübte sich immer mehr.

      „Ah, was soll’s“, entschied Doktor Retzner mit seinem österreichischen Akzent und lächelte zuversichtlich. „Das bringe ich Ihnen bei! Sie werden sehen, bald reiten Sie besser als jeder Mann!“

      Julie kicherte, die Vorstellung gefiel ihr. „Das würde mein Vater Ihnen nie verzeihen!“

      Doktor Retzner lächelte und fasste sie kurz mit Daumen und Zeigefinger am Kinn. „Er muss mit der Zeit und den Umständen gehen, Julie-Mädchen. Es wird ihm nichts anderes übrigbleiben als einzusehen, dass die europäischen Werte einer Frau hier, im Wilden Westen, nicht aufrechterhalten werden können. Ganz einfach.“

      „Hoffentlich“, entgegnete sie seufzend und trat einen Schritt beiseite. „Ich muss nach Hause, meine Mutter wartet. Auf Wiedersehen.“

      „Bis heute Abend!“, rief Doktor Retzner ihr nach und seine Augen verfolgten sie, während ihre langen Röcke und Unterröcke über die Holzbohlen des Gehsteiges glitten.

      Hubert blickte der letzten Lok nach, die heute den Bahnhof verließ. Er hörte, wie sich die Türe des Büros hinter ihm schloss, wo er heute den ganzen Tag damit beschäftigt gewesen war, neue Regale für die Dokumente einzubauen. Seit er seine Arbeit bei der Eisenbahn begonnen hatte, war er dem Zimmerertrupp zugeteilt worden, was ihn ein wenig erleichterte. Das war zwar nicht unbedingt sein Fachgebiet, aber immerhin eine Aufgabe, der er sich mit etwas Menschenverstand und logischem Denken gewachsen sah.

      Die Dunkelheit brach bereits über St. Louis herein. Er war hungrig und erschöpft und trotz des klammen, feuchten Wetters spürte er, wie seine Wangen glühten. Seine Finger schmerzten, er hatte sich mehrfach Nägel in die Haut gestochen und mit dem Hammer seine Glieder malträtiert. Er konnte wahrlich nicht behaupten, der geschickteste Handwerker zu sein, soviel er sich auch bemühte.

      „Hier, Junge!“ Der Zahlmeister reichte ihm ein paar Dollarscheine. „Das ist für die Überstunden und die hervorragende Arbeit! Mach’ was Schönes damit!“

      „Oh, danke!“ Hubert konnte es noch nicht recht glauben. Gut, er hatte in den zurückliegenden Tagen mehr als nur gerackert, aber dass er dafür einen extra Lohn erhalten würde... Er zählte die Dollarscheine, einmal, zweimal und überlegte. Das war sein eigenes Geld, mit dem er tun und lassen konnte, was er wollte, dass er nicht nach Hause bringen musste, zu seinem Vater, wie seinen regulären Lohn. Hubert überlegte eine ganze Weile. Musik drang an seine Ohren und er wusste, dass sie aus dem Saloon kam. Der Saloon. Er lächelte. Schon seit sie hier angekommen waren, wollte er dort hinein, wie die Cowboys und die anderen jungen Männer. Niemand würde ihn vorerst zu Hause vermissen, denn sein Dienst endete immer unterschiedlich und nie zu einer bestimmten Zeit, je nachdem, was an Arbeit anfiel. Sein Herz schlug schneller. Nun gut, sein Vater hatte ihm streng verboten, in den Saloon zu gehen, in diesen „Sündenpfuhl“, wie er ihn bezeichnete, doch Hubert konnte beim besten Willen keine Sünde daran entdecken, einfach hineinzuspazieren und ein Bier zu trinken. Das war nichts anderes, als wenn er in Deutschland eine Gastwirtschaft betreten hätte. Außerdem war er kein kleiner Junge mehr und allmählich konnte er wahrhaftig für sich selbst entscheiden, was er wollte.

      Entschlossen marschierte Hubert die dunkle Hauptstraße hinab. Sein Hunger und die Erschöpfung waren vergessen. Viel zu aufgeregt und neugierig beschäftigte ihn jetzt das Unbekannte. Es hatte wieder wie aus Eimern zu gießen begonnen und er stieß die verschlossene Tür eilig auf. Verrauchte, stickige Luft schlug ihm entgegen. Der Saloon war voll mit Männern, die sich dicht um Tische und die Bar drängten. Eine Kapelle, die auf einem erhöhten Podest saß, spielte Melodien mit einem flotten Rhythmus, die er nicht kannte, doch sie gefielen ihm. Eine Sekunde stand Hubert unschlüssig da und beobachtete, was vor sich ging. Die meisten Männer saßen an Tischen, tranken und spielten mit Karten. Andere hatten junge, stark geschminkte Mädchen auf dem Schoß. Sie lachten und gröhlten und übertönten dabei die Musik. Hubert gab sich einen Ruck und trat an die brusthohe Theke. Der Rest, der keinen Platz fand, stand in Gruppen daneben, sie lachten und unterhielten sich in breitem, genuschelten Englisch, das er bisweilen immer noch schwer