„Du?! Aber...“ Luises Blick wanderte zu ihrem jüngsten Sohn, der sie zufrieden und stolz anlächelte, den tropfenden Lappen noch in der Hand. „Nikolaus ist doch noch viel zu klein und auch viel zu zart, um zu arbeiten! Es wäre völlig unverantwortlich...“
Hubert räusperte sich. „Tut mir leid, Mutter“, mischte er sich ein, den Hammer zwischen seinen Händen drehend. „Aber das war die Bedingung, damit uns gestattet wurde, die Maultiere in der Scheune unterzubringen.“
„Ich bin nicht klein!“, rief der Junge protestierend. Er hasste es, immer von seiner Mutter beschützt und zurückgestellt zu werden, als wäre er aus Porzellan und zu nichts zu gebrauchen. „Ich kann genauso hart arbeiten wie Hubert! Weißt du denn nicht, dass ich ein Meister bin im Ausmisten von Ställen und Füttern der Tiere?“
„Es ist nur morgens und abends“, warf sein großer Bruder hastig ein, als er die Sorgenfalten auf der Stirn ihrer Mutter entdeckte. „Sie brauchen dringend ein paar helfende Hände! So viele Pferde und Mulis und Ochsen, die jeden Tag kommen und gehen. Außerdem können wir so gleich ein bisschen Geld für unser neues Zuhause sparen.“
„Ich muss zugeben, damit hat der Junge nicht unrecht!“ Friedrich sprach als erster nach einer langen Minute Stille. „Jeder von uns muss seinen Teil dazu leisten. Du solltest lieber dankbar dafür sein, dass wir unsere Mulis somit in besten Händen wissen, solange wir sie nicht benötigen.“
Luise starrte hinab in ihren Kochtopf. Sie wusste aus Erfahrung, dass es sinnlos wäre, mit ihrem Mann einen Streit vom Zaun zu brechen, wenn er einmal eine Entscheidung getroffen hatte.
„Und was ist nun mit mir?“, wollte Hubert wissen. Das waren Neuigkeiten, mit denen er nie im Leben gerechnet hatte! Kaum, dass sein Vater kurz in die Stadt verschwand, kam er mit Möglichkeiten zurück, die ihr Leben einmal um hundertachtzig Grad drehten. Woher das wohl kommt, fragte er sich und betrachtete das silberne Kreuz um den Hals seines Vaters, das sich deutlich von seiner schwarzen Kutte abhob. Ob es an seinem festen Glauben und an Gott liegt?
„Du kannst bei der Eisenbahn arbeiten“, eröffnete Friedrich seinem ältesten Sohn. „Dort brauchen sie immer junge, kräftige Burschen, die zupacken können.“
„Bei...der...Eisenbahn“, wiederholte Hubert gedehnt. Die Vorstellung, von früh bis abends Kohlen zu schippen, konnte bei ihm nicht wirklich Begeisterungsstürme auslösen, doch er fügte sich. Was blieb ihm auch anderes übrig? „Gut. Wann soll ich anfangen?“
„Morgen früh wirst du dich im Bahnhofsgebäude melden“, erläuterte sein Vater geduldig und nickte zufrieden. Alles schien gut zu werden und sich positiv für sie zu entwickeln und das sogar schneller und einfacher, als er es sich je erträumt hätte.
„Morgen schon?“ Hubert unterdrückte einen Seufzer.
„Und was hast du dich für mich überlegt?“ Juliane stand beim Planwagen und starrte ihren Vater mit einem eigensinnigen Ausdruck im Gesicht an.
Friedrich hob die Augenbrauen. „Wir werden sehen“, antwortete er ausweichend. „Erst einmal wirst du deiner Mutter mit den Arbeiten hier im Lager helfen. Insbesondere beim Kochen gibt es genügend Aufgaben, von denen dir noch immer jedes Wissen fehlt und das ist eine wahre Schande für mich, für deine Mutter und insbesondere für dich selbst. In deinem Alter sollte ein Mädchen zumindest über die Grundkenntnisse verfügen und wie sie ihren Ehemann zu versorgen hat.“
Das Mädchen ächzte, schwieg jedoch, da sie nicht wild darauf war, eine entsprechende Bestrafung für freche Bemerkungen zu erfahren. Zuhause bleiben mit ihrer Mutter! Es gab ganz sicher einer Schule in dieser Stadt, die sie St. Louis nannten, vielleicht sogar eine für Mädchen und ihr war nicht gestattet, dort am Unterricht teilzunehmen! Sie fühlte den Blick ihrer Mutter auf sich ruhen, zog es jedoch vor, zornig auf ihre Fußspitzen zu starren. Sie war nicht gewillt, so einfach nachzugeben! Sie war ebenso ein individueller Mensch wie ihr Vater und ihre Brüder und sie wusste ganz genau, was sie wollte und was nicht!
Luise beobachtete den Gesichtsausdruck ihrer Tochter und erkannte augenblicklich, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen war bezüglich dieses Themas. Es würde noch mehr Zank geben zwischen ihrer einzigen Tochter und Friedrich, sie fühlte es in ihren Knochen. Dieses Land, dachte sie, mit all seinen Sorgen und dem harten Leben, wird dazu führen, dass ich wieder genauso dünn werde, wie vor den Kindern.
St. Louis
Der Regen hatte nachgelassen als Julie den Weg vom General Store die Straße hinab antrat, in Richtung der protestantischen Kirche der ihr riesig erscheinenden Stadt. Sie war froh, dass sie in diesem Pfarrhaus leben konnten, auch wenn es sehr klein und beengend dort war. Immerhin konnten sie einen Ofen beheizen und ihre nasse Kleidung darüber trocknen und der kalte Wind konnte ihnen nichts anhaben. Sie empfand großes Mitleid für all die Familien, die während dieser Regenperiode, bis der Treck weiterziehen konnte, in ihren Wagen und Zelten verbringen mussten, weil sie es sich nicht leisten konnten, sich in einer Pension einzumieten.
Julie marschierte den Weg alleine, ohne Nikolaus. Obwohl sie gemeinsam losgeschickt worden waren von ihrer Mutter, um Einkäufe zu erledigen, hatte ihr kleiner Bruder auf halber Strecke andere Ideen verfolgt. Längst hatte er Freunde gefunden, mit denen er herumtobte und seine wenige Freizeit beim Spielen genoss und ein ganzer Haufen davon war ihnen auf dem Weg zum General Store vor die Füße gelaufen. Julie verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr fröstelte. Gerade einmal fünf Tage hielten sie sich jetzt in St. Louis auf oder besser gesagt, ein Stück daneben, denn die Kirche stand auf einem Hügel, auf einer Wiese hinter den ersten Häusern. Ihr kam es jedoch viel länger vor. Nur wenige Menschen kamen ihr bei diesem Wetter entgegen, doch als sie um das Eck des nächsten Hauses auf die Hauptstraße bog, stieß sie fast mit einem kleinen Mann mit strohblonden Haaren zusammen.
„Ah, geh!“, rief dieser erfreut. „Ist das aber eine Überraschung!“
„Hardy!“ Sie lächelte. „Dass ich Sie hier treffe! Ich dachte ja eigentlich, Sie würden uns mal besuchen kommen!“
„Tja, das hatte ich auch wirklich vor“, versicherte der österreichische Arzt und hob bedauernd die Schultern. „Ich habe schon von eurem Glück erfahren, dass Ihr Vater vorübergehend als Pastor angestellt wurde. Ich wäre schon längst mal vorbeigekommen, aber ich habe so viel zu tun, dass ich gar nicht weiß, wo mir der Kopf steht!“
„Gibt es denn so viele kranke Menschen hier?“, fragte Julie und konnte den Schreck darüber nicht ganz verbergen.
Doktor Retzner lächelte. „Das Problem ist, dass es in der ganzen Gegend nur einen einzigen Arzt gibt und der ist hier in St. Louis. Im Umkreis von dreißig Meilen gibt es keinen anderen!“
„Oh!“, machte Julie ungläubig. Sie konnte kein Verständnis für diese Tatsache aufbringen, da sie gar nicht wusste, was ein Umkreis von dreißig Meilen an Fläche und Bevölkerung bedeutete.
„Ja, leider, so sieht es aus!“ Der Österreicher runzelte die Stirn. „Es gab wohl noch einen anderen Arzt, aber er starb an...wie nennen sie es hier doch gleich? Schwindsucht, glaube ich.“
„Was soll das sein?“
„Was ich herausgefunden habe, ist das der gebräuchliche Ausdruck für pulmonale Tuberkulose.“
„Oh!“, sagte Julie noch einmal mit großen Augen. Sie begriff auch das nicht, weil ihr die lateinischen Wörter fremd waren und gleichzeitig ärgerte sie diese Tatsache. Am liebsten hätte sie mit dem Fuß wütend auf den Boden gestampft, weil sie sich vorkam, wie eine dumme, törichte Gans. Natürlich, ja, sie war nur ein Mädchen und Mädchen brauchten keinen Verstand, sie mussten nur kochen können. Jetzt konnte sie den Drang nicht länger unterdrücken – ihr Fuß erzeugte auf den Holzbohlen des Gehsteigs vor den Häusern ein dumpfes Poltern.
„Und Doktor Stankovski ist auch nicht mehr der Jüngste“, fuhr der Österreicher unbeirrt fort. Er schien ihren inneren Aufruhr