„Amen“, hörte sie aus den Mündern ihrer Familie und sie drehte den Kopf zur Seite.
„Und jetzt ‚Gute Nacht‘“, befahl Friedrich und wartete, bis er seine Familie rechts und links neben sich liegen und die Decken über sich gezogen sah. Dann drehte er den Docht der Lampe zurück, die er an einen Haken über seinen Kopf gehängt hatte. Es war dunkel im Wagen, dunkel und schrecklich kalt. Julie zog die Wolldecke bis an ihren Hals und drückte sie fester an die Holzwand, doch sie fror. Sie war furchtbar müde und doch viel zu aufgeregt, um gleich einschlafen zu können. Außerdem drangen die ungewohnten Geräusche des großen Lagers durch die Plane und hielten sie wach.
Morgen, dachte sie und malte sich aus, was sie da wohl erwarten würde. Vermutlich Holz sammeln, damit sie Kaffee kochen oder sonst etwas Warmes zubereiten konnten. Und dann werden wir gezwungen sein, Arbeit zu finden, wenn wir länger hierbleiben müssen, schoss es ihr durch den Kopf und sie betrachtete den sternenklaren Himmel, den sie durch den schmalen Schlitz in der Plane erkennen konnte. Irgendwo erklang der leise Schrei einer Eule und sie wunderte sich, dass es diese Vögel hier, in diesem Erdteil ebenfalls zu geben schien. Sie wurden in diesem Land so vieler Dinge beraubt, doch je länger sie darüber nachdachte, desto mehr überkam sie ein eigenartiges Vertrauen. Vielleicht würde morgen schon alles ganz anders sein! Morgen wartete vielleicht eine Überraschung auf sie oder vielleicht würde alles doch noch gut werden und sie konnten sofort glücklich und gesund weiter, Richtung Westen, ziehen.
Der Schein von Licht, der durch die Plane fiel, weckte sie am nächsten Morgen. Von draußen waren viele hundert, völlig unterschiedliche Stimmen zu vernehmen und dazwischen andere, ihr fremde Geräusche, die sie nicht einzuschätzen vermochte.
„Gütiger Himmel!“, entfuhr es Friedrich und er richtete sich auf, nach seiner Taschenuhr suchend. „Wir haben schon viertel nach sieben! Los, los! Alles aufstehen!“
Müde und verschlafen räkelten sich seine drei Kinder und rieben sich die Augen.
„Luise?“, fragte Friedrich als er ihren Platz leer und die Decke säuberlich zusammengelegt neben sich fand. Sie musste irgendwann, unbemerkt von ihnen allen, aufgestanden und über sie hinweggestiegen sein. Er schob seinen ältesten Sohn beiseite, der sich noch immer verschlafen die Hand über die Augen legte und wollte aus dem Wagen klettern. Dabei brach das hintere Holzbrett von den Seitenwänden ab, über das sie ständig zu klettern hatten. Friedrich verlor den Halt und stürzte mitsamt dem Brett in die Tiefe, auf den vom Raureif überzogenen Boden. Ein leiser Fluch entfuhr ihm.
„Vater!“ Erschrocken zog Hubert die Plane beiseite. Draußen herrschte noch Dämmerung und er stellte fest, dass jede Menge Leute sie beobachteten. „Bist du verletzt?“
„Nein!“, rief Friedrich mit Verärgerung. „Aber du wirst dich heute als erstes daran machen und diese Konstruktion hier reparieren und ordentlich festnageln! Das ist ja lebensgefährlich!“
„Ja, Vater“, entgegnete sein ältester Sohn und ließ den Stoff zurückfallen. Nur mühsam konnte er sich aufrappeln. Er fühlte sich wie erschlagen.
„Tut euch auch alles weh?“, fragte Nikolaus und rieb sich den Rücken.
„Allerdings!“, beklagte Julie sich mürrisch und schlug ihre Decke zurück. „Mehr als ein paar Tage halte ich das nicht mehr durch!“
„Da wird dir nicht viel anderes übrigbleiben!“ Hubert kämpfte sich auf die Beine und sprang hinab, auf den gefrorenen Boden. „Ich sehe mal nach unseren Mulis!“
„Ja!“, rief Julie ihm hinterher. „Und komm bloß nicht so schnell zurück mit deiner schlechten Laune!“
„Schlechte Laune“, murmelte Hubert ungehalten. „Wenn das so weitergeht, werde ich eine gewisse, verzogene Schwester von mir übers Knie legen!“
„Was war das?“, fragte Friedrich, der sich auf dem Weg befand, Feuerholz zu suchen. Diese Aufgabe stellte sich als nicht ganz einfach heraus, denn alle Siedler des Trecks waren darauf angewiesen und strömten hinaus in die angrenzenden Wälder, um dort alles zu zerkleinern, was sie finden konnten.
„Nichts“, murmelte Hubert und seufzte. „Überhaupt nichts!“
Seine Mutter hatte bereits begonnen, ein Feuer zu entfachen und lächelte zärtlich zu ihm hinüber. „Warum schnappst du dir nicht Nikolaus und ihr seht zu, ob ihr drüben bei den Tieren gebraucht werdet?“, schlug sie vor.
„Das ist das erste vernünftige Wort, das ich heute höre“, warf Friedrich mit einem strengen Blick auf seinen ältesten Sohn ein. „Nimm deinen kleinen Bruder und sieh zu, was du zustandebringst!“
„Jawohl, Sir!“ Hubert nickte, während er seinem Vater nachblickte, der zwischen den anderen Wagen und Zelten verschwand. „Was auch immer du sagst!“
„Hubert Kleinfeld!“, entrüstete sich Luise mit Nachruck. „Ist das eine Art, mit deinem Vater zu sprechen?“
„Nein, ist es nicht“, pflichtete ihr Sohn bei, ehe er seinen Kopf in den Wagen streckte. „Auf geht’s, Kleiner! Komm in die Gänge, damit wir vor dem Frühstück zurück sind!“
„Das ist eine gute Idee! Juliane ist heute so blöd!“ Nikolaus streckte ihr die Zunge heraus und kroch schnell an den Rand des Wagens, um seinem großen Bruder zu folgen.
„Selber blöd!“, rief das Mädchen und zog eine Grimasse.
„Na, na!“, machte Hubert beschwichtigend und hob seinen kleinen Bruder vom Wagen herab. „Anstatt zu streiten, solltet ihr euch lieber ein bisschen herrichten! Du siehst aus, als hättest du einen ganzen Heuschober umgegraben!“ Lächelnd zerraufte er Nikolaus das Haar. „Und so wie du im Moment aussiehst“, er deutete auf Julie, „findest du nicht mal hier in Amerika einen Ehemann!“
„Ich will überhaupt keinen Ehemann!“, rief seine Schwester entrüstet, tastete jedoch prompt nach ihren zerzausten, rotblonden Haaren.
„Komm, lass uns mal schauen, wo wir helfen können“, erklärte Hubert, um dem Zank ein Ende zu setzen und betrachtete das weggebrochene Brett, an dessen Stelle jetzt ein Loch unter der Plane des Wagens klaffte. Er musste seinem Vater recht geben – diese Bauweise war alles andere als sonderlich brauchbar, wenn sie ständig darüber hinwegklettern mussten und sobald er Zeit fand, würde er in die Stadt hinüber laufen und sich ein paar Nägel und einen Hammer besorgen. Während er im kühlen Morgen durch das Lager lief, dachte er, dass es am besten sei, wenn er sich während ihres Aufenthalts hier eine Arbeit suchte. Wer wusste schon, wie lange sie wirklich auf eine Weiterreise warten mussten?
Nikolaus folgte ihm, so gut es seine kurzen Beine vermochten und schließlich packte der Junge ihn bei der Hand. „Mach’ doch nicht so schnell! Ich bin noch nicht so groß wie du!“
Jetzt, bei Tageslicht, konnten sie die Ansammlung von Zelten und Wagen erst richtig erkennen. Es war nichts weiter als ein Lagerplatz, übervölkert mit Einwanderern. Nun wollte er aber nach ihren beiden Mulis sehen. Sie waren abhängig von den beiden Tieren. Ohne sie wären sie nie dazu in der Lage, die Rocky Mountains zu überqueren und weiter dem Oregon Trail zu folgen.
Friedrich streifte zwischen den eng beieinanderliegenden Zelten und Wagen umher. Er lächelte und nickte den anderen Siedlern zu, die ihn an seiner schwarzen Kutte erkannten und von denen er nur teilweise wusste, dass sie mit ihnen zogen. Die meisten sah er zum ersten Mal in seinem Leben. Dennoch grüßten sie ihn, denn jeder erkannte ihn als Geistlichen. Ein paar Kinder rannten im taufeuchten Gras umher, der sich über Nacht gebildet hatte. Sie lachten und freuten sich und Friedrich musste schmunzeln. Wie unbeschwert und herrlich zufrieden Kinder sein mussten! Sie lebten von einem Tag zum anderen, ohne Ängste und Überlegungen, was die nächste Woche, der nächste Monat ihnen bringen würde.
Zwischen ihrem Lager und den ersten Häusern von St. Louis bahnte ein schmaler, flacher Fluss sich seinen Weg, über den eine einfache Holzbrücke führte. Friedrich schlug diese Richtung ein. Von irgendwoher hörte er leises, helles Glockengeläut und sein Herz schlug schneller. Irgendwo musste es hier also auch eine