Kaum, dass Friedrich die Haustür hinter Doktor Retzner geschlossen hatte, legte Luise ihre Strickarbeit beiseite. Sie fixierte ihre Tochter mit strengem, unerbittlichem Blick.
„Ich hoffe“, stieß sie leise hervor, „du wirst uns keine Schande bereiten!“
„Nein, Mutter“, antwortete Julie, ohne sie anzusehen. „Natürlich nicht!“
„Ich möchte keine Beschwerden von Hardy hören, dass du dich daneben benimmst und ständig dein Mundwerk aufreißt!“, grummelte ihr Vater leise, während er sich wieder zu ihnen an den Tisch setzte. Es war ihm nicht recht, dass seine Tochter dem Arzt assistieren würde und er sie somit aus seiner führenden Obhut geben musste. Er hoffte im Stillen, aus ihr eines Tages doch noch eine anständige, wohlerzogene junge Dame machen zu können, die einen geeigneten Ehemann für sich finden konnte. Nur Hardy zuliebe hatte er eingewilligt, das war der einzige Grund. Er seufzte. Nein, es war ihm ganz und gar nicht recht.
Jeden Tag, außer Sonntag, ging Julie von nun an zu Doktor Retzner in die Praxis. Sie half ihm bei all seinen Tätigkeiten, lernte Krankheiten zu erkennen und Verbände anzulegen, fuhr mit ihm und der kleinen Kutsche hinaus zu den umliegenden Farmen und da der Boden so matschig war, kamen sie häufig nur langsam voran.
„Lassen wir es gut sein“, entschied der Österreicher an diesem Tag resigniert. Er sprach mit Julie immer Deutsch, wenn sie allein waren, obwohl sie ihn darum bat, es nicht zu tun, denn so würden seine Englischkenntnisse nie besser werden!
„Aber...wir müssen doch hinaus und nach Mrs. O’Sullivan sehen!“, rief Julie verzweifelt, während sie sich an der überdachten Kutsche festhielt, als die beide Pferde stapfend und keuchend umdrehten und die Räder aus dem schmierigen Morast zerrten. Der Wagen schaukelte gefährlich.
„Mit dem Wagen schaffen wir es nicht!“ Doktor Retzner war damit beschäftigt, die Pferde unter Kontrolle zu halten, die – als sie merkten, dass es zurück in Richtung Stadt ging – durchgehen wollten. „Der Boden weicht immer mehr auf mit dem Regen und wenn es so weitergeht, bleiben wir noch irgendwo stecken! Wir müssen reiten!“
„Aber...ich kann doch gar nicht reiten!“, entgegnete Julie wahrheitsgemäß. Sie war ihr Lebtag noch nie auf einem Pferderücken gesessen – ihr Vater hätte es niemals zugelassen. Eine Tracht Prügel hätte sie sich damit eingehandelt, nichts weiter.
Doktor Retzner antwortete nicht sofort, sondern beruhigte zuerst die Pferde. Als diese wieder in gleichmäßigem Trab vorwärtsgingen, wandte er sich dem jungen Mädchen zu. Er atmete tief durch, wobei sich weiße Atemwölkchen vor seinem Gesicht bildeten. Es hatte sich dramatisch abgekühlt.
„Dann müssen wir das ändern. Hier draußen haben Sie sonst keine Überlebenschancen, wenn Sie sich noch nicht einmal im Sattel halten können!“
„Ja, aber...“, wollte Julie protestieren. „Meine Eltern!“
Der junge Arzt winkte ab. „Ah, geh! Die brauchen doch gar nichts davon zu erfahren! Ich gebe Ihnen heimlich Reitstunden und ich hoffe, Sie lernen schnell, denn wir haben nicht ewig Zeit!“ Er überlegte kurz. „Besser gesagt, in einer halben Stunde sollten Sie mit mir hinaus zur Farm der O’Sullivans reiten können!“
Julie wurde blass. Sie schluckte. Du gütiger Himmel, worauf hatte sie sich da bloß eingelassen? Sie konnte doch unmöglich mit ihm einfach hinausreiten, quer über die aufgeweichte Ebene, um Patienten zu besuchen! Was, wenn sie herunterfiel? So ein Pferd war schließlich hoch!
Ihr blieb jedoch keine Wahl. Kaum zurück in St. Louis angelangt, brachte der Österreicher das Gespann und den Wagen zurück in den Mietstall.
„War wohl nichts, was?“, lachte der Eigentümer leise. „Hätte ich Ihnen gleich sagen können, Doktor! Bei dem Morast kommen Sie nur im Sattel durch und das dürfte schon schwierig genug werden!“
„Ja, das sehe ich allerdings auch so“, erwiderte er in erstaunlich gutem Englisch. „Hätten Sie zwei Reitpferde für uns?“
„Selbstverständlich!“, versicherte der Mietstallbesitzer eifrig. „Ich sattle Ihnen gleich zwei meiner Besten!“
„Sie brauchen sich nicht zu beeilen“, sagte Doktor Retzner und fasste Julie am Arm. „Zuerst müssen wir meine Assistentin noch mit praktischerer Kleidung ausstatten!“
„Praktischerer Kleidung?“, wiederholte Julie verständnislos, ließ sich jedoch mit ihm die Straße hinabführen, in Richtung des Damenmodengeschäfts.
„Natürlich! Sie können doch nicht mit diesen fünfzig Unterröcken auf ein Pferd sitzen! Wir sind nicht am kaiserlichen Hof in Wien, wo die Damen in schicken Kleidchen durch den Park promenieren! Das hier ist Amerika!“
„Ja, aber...“ Julie wusste zwar nicht, wovon er sprach, doch sie spürte, dass es nichts sein konnte, mit dem ihre Eltern einverstanden wären.
„Ruhe!“, entschied Doktor Retzner. „Ich habe das bereits entschieden!“ Und er zog sie durch die Eingangstür des Damenmodengeschäfts.
Als sie dieses keine zehn Minuten später wieder verließen, musste zuerst der Österreicher durch die Türe und nachsehen, ob jemand unterwegs war, den sie kannten.
„Alles klar“, sagte er. „Die Luft ist rein, niemand da!“
Vorsichtig lugte Julie durch die Tür, sich selbst noch vergewissernd, dann erst trat sie hinaus ins Freie. Sie kam sich schrecklich unangezogen und nackt vor. Mit mulmigem Gefühl in der Magengegend blickte sie an sich hinunter. Der knöchellange Reitrock und die hohen Stiefel dazu waren ihr fremd und es fühlte sich eigenartig an, den dicken Webstoff bei jedem Schritt zwischen den Beinen zu haben.
„Das steht Ihnen, Julie-Mädchen“, fand Doktor Retzner lächelnd und bot ihr galant den Arm. „Aber jetzt sollten wir uns ein wenig sputen! Wir haben noch einen weiten Weg vor uns!“
Julie hatte damit gerechnet, dass es nicht ganz einfach sein würde, sich im Sattel eines Pferdes zu halten, doch dass es so holprig und unsanft sein würde, versetzte sie nun doch in Angst und Schrecken. Der Erdboden schien entsetzlich weit entfernt zu sein. Tapfer stapfte ihr Pferd hinter dem von Doktor Retzner her, den schmierigen Fahrrillen folgend, die viele Kutschen auf dem Weg hinterlassen hatten. Julie fragte sich, woher er wissen wollte, dass sie sich nicht schon verirrt hatten, während sie mit einer Hand die Zügel festhielt und mit der anderen das Sattelhorn umklammerte. Das gab ihr ein vermeintlich sicheres Gefühl, sich zumindest im Notfall irgendwo halten zu können.
„Na, alles in Ordnung?“, rief er von Zeit zu Zeit nach hinten und jedesmal antwortete Julie mit einem „Ja, ja!“, was zwar nicht ganz stimmte, aber immerhin dazu führte, dass er weiter ritt. Ihr Hintern schmerzte und sie verspürte große Sehnsucht nach festem Boden unter den Füßen. Sie betete zu Gott, er möge nicht zulassen, dass ihre Eltern sie in diesem Aufzug zu sehen bekamen und dazu noch auf einem Pferd sitzend wie ein Mann – mit einem Bein rechts und dem anderen links. Eine Sünde wäre das wohl in den Augen ihres Vaters auf jeden Fall und sie wollte sich die Konsequenzen für ihr Handeln lieber gar nicht ausmalen.
Der April verging und Julie hatte ausschließlich in den Sattel eines Pferdes zu steigen, wenn sie nach einem Patienten sehen musste, nachdem Doktor Retzner herausgefunden hatte, wieviel praktischer und schneller das ging, anstatt mit einer Kutsche zu fahren. Zu Anfang hatte sie mit dem Gedanken gespielt, deswegen nicht mehr in der Praxis zu helfen, doch mit jedem Mal fühlte sie sich dabei sicherer. Sie fand bald heraus, wie sie das Pferd am einfachsten schneller und langsamer werden ließ, es nach rechts oder links lenken konnte. Es dauerte nicht lange, bis sie nicht nur keine Angst mehr davor hatte, in den Sattel zu steigen, sondern es sogar gerne tat, sehr gerne! Sie ließ