„Ich muss sagen“, bemerkte Doktor Retzner an einem Donnerstag, Anfang Mai. „Diese Reitsachen stehen Ihnen wirklich ausgezeichnet, Julie-Mädchen!“
Sie lächelte und spürte, wie sie errötete. Es war das erste Mal, dass sie von einem Mann ein Kompliment wegen ihres Aussehens erhielt.
„Danke sehr“, erwiderte sie leise und starrte auf ihre Stiefelspitzen hinab. „Ich werde Ihnen das Geld dafür geben, sobald ich es habe und...“
„Nein!“, fiel der Arzt ihr entschieden ins Wort. „Das ist mein Dank für Ihre Hilfe! Ich schenke sie Ihnen! Ich will kein Geld dafür!“ Er lächelte über ihr verblüfftes Gesicht. „Ich habe Ihrem Vater übrigens nach dem Gottesdienst am vergangenen Sonntag erzählt, wieviel Sie gelernt haben und welch ungeheure Hilfe Sie mir sind. Ich glaube, er war sehr stolz.“
„Oh“, machte Julie und fühlte sich ausgesprochen geschmeichelt. „Aber er ist bestimmt nicht mehr stolz, wenn er mich auf einem Pferd reiten sieht, wie einer der Cowboys!“
„Ach was!“ Doktor Retzner winkte ab. „Das findet er doch nie heraus! Wie denn auch?“
Unsicher hob Julie die Schultern. Sie musste sich eingestehen, wirklich sehr viel neues Wissen aufgenommen zu haben in den vergangenen Wochen – mehr Nützliches, als in der Schule. Sie konnte Verbände wechseln, anlegen und einfache Diagnosen wie Mandelentzündung oder Grippe stellen. Sie kannte die Begriffe der einzelnen Instrumente und konnte sie Doktor Retzner reichen, wenn er eines davon benötigte. Oft nahm sie auch eines seiner medizinischen Bücher mit nach Hause, in denen sie dann las – auch, wenn ihre Mutter das nicht gerne sah.
„Da stehen Dinge drin, die nicht gut sind für ein junges Mädchen“, hatte sie ihr erklärt, doch Julie begriff nicht, was sie damit meinte und sie hatte es bisher auch nicht gewagt, ihre Mutter danach zu fragen. Es hätte vermutlich auch wenig Sinn gemacht. Ihre Mutter sprach immer nur dann über Dinge, die ihr unangenehm waren, wenn es keinen anderen Ausweg gab.
„Heute habe ich mir überlegt, dass es Zeit ist, Sie in die Dinge einzuweisen, für die ich Sie am meisten gebrauchen kann, Julie!“ Die warme Stimme mit dem österreichischen Akzent riss sie aus ihren Gedanken.
„Ja?“, fragte Julie vorsichtig und legte abwartend den Kopf schief.
„Ja“, bestätigte Doktor Retzner und lehnte sich an den Behandlungstisch. Es würde nicht ganz einfach für ihn werden und er überlegte schon seit Tagen, welche Worte wohl die richtigen wären. „Und zwar deshalb, weil Sie eine Frau sind und Frauen fühlen sich unter gewissen Umständen bei einer Frau besser aufgehoben, als bei einem Mann.“
„Unter...gewissen Umständen?“
Doktor Retzner schmunzelte. „Ganz recht! Haben Sie sich das Buch angesehen, dass ich Ihnen mitgegeben hatte?“
Julie blickte auf ihre kleine Ledertasche hinab, die sie immer bei sich trug. Er hatte sie ihr gegeben und alles darin untergebracht, was sie gebrauchen konnte und was er in der Praxis bereits liegen hatte und somit entbehren konnte.
„Ich...ich bin nicht sehr weit gekommen“, gab sie gedehnt zu. „Dann hat meine Mutter mir verboten, weiterzulesen.“
„Hmm“, machte Doktor Retzner und kratzte sich nachdenklich am Hals. Er hatte befürchtet, dass ihre Eltern auf diese Art reagieren würden oder womöglich noch schlimmer, wenn sie den Inhalt des Buches genauer betrachteten, aber es half nichts. Wenn sie über die natürlichsten Vorgänge in ihrem Leben nicht Bescheid wusste und keine Ahnung hatte, was in ihrem Körper vor sich ging, konnte er sie auch nicht zu einer Gebährenden schicken.
„Also gut“, meinte er schließlich. „Dann lassen Sie uns das gemeinsam ansehen. Ich verstehe die Bedenken Ihrer Eltern. Unter normalen Umständen dürften Sie dieses Buch tatsächlich nur dann lesen, wenn Sie bereits verheiratet wären und ein Kind bekommen hätten. So jedenfalls ist es bei uns geregelt: Keine Frau darf eine Ausbildung zur Hebamme machen, wenn sie nicht weiß, wovon sie spricht und das, nun...“ Er hüstelte und rang um die richtigen Worte. Es wäre tatsächlich einfacher gewesen, wenn sie zumindest im Ansatz wüsste, was zwischen Männern und Frauen alles vor sich ging. „Nun ja“, fuhr er schließlich fort. „Dies hier sind besondere Umstände, in diesem Land ist alles ein wenig anders und die medizinische Versorgung ist längst nicht so gut gewährleistet, wie in der alten Heimat. Da kann man nicht immer darauf Rücksicht nehmen, was eine junge, unverheiratete Frau wissen darf und was nicht.“
Bereitwillig und neugierig zugleich öffnete Julie die Tasche und holte das dünne Buch heraus. Das schien ja ein ganz schwieriges Thema zu sein, wenn sogar er ihr eine derartige Rede hielt! Sie reichte es Doktor Retzner, der kurz darin blätterte und die entsprechende Seite aufschlug.
„Hier“, sagte er und schob es ihr auf dem Behandlungstisch zu. „Das hier müssen Sie wissen.“
Julie betrachtete die beiden, auf der Doppelseite abgebildeten Zeichnungen und schluckte, peinlich berührt – sie stellten eine nackte Frau und einen nackten Mann dar, doch in ihrem Bäuchen waren seltsame Kringel und Kreise und Linien eingezeichnet.
„Das da“, fuhr Doktor Retzner im sachlichen Tonfall eines strengen Schulmeisters fort, „ist das, was diese Menschheit nicht aussterben lässt – die männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane.“
Regungslos starrte Julie auf die Abbildungen. Sie wagte weder, den Blick zu heben, noch richtig zu atmen. Sie kaute auf ihrer Unterlippe und wartete. Hier öffneten sich ihr ganz neue Ansichten über das Leben und die Dinge, die darin geschahen. Sie spürte, wie nervös Hardy Retzner mit jedem weiteren Satz wurde und hoffte, er würde nicht doch von seiner Idee abkommen, sie in die tiefsten Geheimnisse der Menschheit einzuweihen.
Der Doktor griff zu einem Bleistift und deutete auf jedes einzelne Organ, das in den beiden Körpern eingezeichnet war. Er benannte sie beim Namen und erläuterte ihre Funktion und mit jeder Minute, die verstrich, glaubte Julie, verschlimmerte sich ihr Schwindel. Sie tastete nach dem Behandlungstisch, um sich daran festzuhalten. Ihr Herz schlug laut und deutlich unter ihren Rippen, während Doktor Retzners Worte mehr und mehr Licht in den unerfindlichen Vorgang des Kinderkriegens brachte.
„Waren Sie je dabei, wenn Ihre Mutter eines ihrer Geschwister zur Welt gebracht hat?“, fragte er plötzlich.
Irritiert hob Julie den Kopf. Seine sanften, grünen Augen betrachteten sie mit einem verständnisvollen Lächeln.
„N...nein“, stotterte sie zerstreut und räusperte sich. „Wir sind immer zu Nachbarn geschickt worden, bis...bis sie gesagt haben, der Klapperstorch wäre da gewesen.“
„Der Klapperstorch!“ Doktor Retzner lachte leise auf.
Julie atmete tief durch. Sie wusste beim besten Willen nicht, wie sie auf dieses neue Wissen reagieren sollte. Nun wurde ihr auch endlich klar, weshalb ihre Mutter zuerst immer einen solch dicken Bauch bekommen hatte. Die Kinder wurden nicht einfach vor der Türe abgelegt. Sie kamen auf ganz andere, ganz natürliche Weise zu Welt – wie alles ganz natürlich war, was mit dem menschlichen Körper zusammenhing. Sie schüttelte kurz den Kopf. Ihre Unsicherheit schwand allmählich und dafür erwachte das wissenschaftliche Interesse an diesem Thema in ihr. Weshalb war das so und nicht anders? Warum hatte die Natur es genau auf diese Weise eingerichtet?
„Eigentlich ist das sehr ungerecht“, sagte sie schließlich, nach einer langen Pause, und schaute Doktor Retzner fest in die Augen. „Wir Frauen müssen die ganze Arbeit leisten.“
Einen Augenblick verschlug es ihm die Sprache über so viel Nüchternheit und Sachverstand, dann lächelte er. Was konnte er darauf schon erwidern? Sie sprach die Wahrheit, mit ihrem unschuldigen, vielleicht ein wenig naiven und kindlichen Vorstellungen von Liebe und Glück.
„Ja, das stimmt.“
„Und diese Blutungen, alle paar Wochen, die haben auch damit zu tun, nicht wahr?“, fragte sie jetzt, ohne Hemmungen. Sie wollte mehr über das erfahren, was sich in ihrem Körper abspielte. Sie wollte wissen, was dort vor sich ging und weshalb.
„Richtig“,