Todesvoting. Karin Szivatz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karin Szivatz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754173541
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hatte sie jegliches Zeitgefühl verloren.

      Die Zeit in diesem winzigen Raum, dessen Wände stets näher auf sie zu rückten und sie irgendwann zwischen sich zerquetschen würden, kam ihr endlos vor. Und doch hatte sie das Gefühl, als wäre sie erst vor kurzem hier gelandet. Ihre blutigen Finger pochten schmerzhaft im Takt ihres Herzens. Sie war so naiv gewesen zu glauben, sie könnte sich mit bloßen Fingernägeln durch den Beton direkt neben der etwas angerosteten Stahltür graben. Der Beton war unversehrt, doch ihre Fingernägel waren bis tief hinein ins Nagelbett eingerissen und pochten nun unablässig schmerzhaft im Takt ihres Herzschlags. Sie hatte geblutet und dennoch versucht, ein paar kleine Steinchen aus dem harten Beton zu lösen; doch ohne jeden Erfolg.

      Noch dazu hatte sie sich ihren rechten Fußknöchel verstaucht, als sie unablässig gegen die Tür unter dem Türknopf getreten hatte. Auch hier hatte sie gehofft, dass das verrostete Eisen leicht nachgeben würde und sie sich einen Weg ins Freie verschaffen könnte. Doch sowohl die Mauer als auch die Tür hielten ihren ohnmächtigen und aussichtslosen Versuchen stand.

      Die Aufregung der Entführung, die Auflehnung gegen die starken Arme, die sie ins Auto gezogen und auf den Boden gedrückt hatten, das sinnlose Betteln um Freilassung, die verzweifelten Schreie in ihrem Gefängnis, die heftigen Wein- und Heulkrämpfe, das Hadern mit ihrem Schicksal und die enorme körperliche Anstrengung ihrer erfolglosen Ausbruchsversuche hatten ihr jegliche Energie geraubt. Sie brauchte jetzt dringend Wärme, zärtliche Geborgenheit, vertrauensvolle Sicherheit, etwas zu Essen und zu Trinken. Doch alles, was sie tatsächlich bekam, waren Einsamkeit und eine furchtbare Stille, die sie schon jetzt nicht mehr ertragen konnte.

      Während sie in ihrer einsamen Zelle tobte und wütete, hatte sie nicht nach dem Grund ihrer Entführung gefragt. Doch jetzt, völlig erschöpft, verschwitzt, verschmutzt, mutlos, hungrig und durstig begann sie sich zu fragen, ob sie überhaupt die richtige Person war, die hier schmorte. Sie hatte sich nichts zu Schulden kommen lassen, hatte kein Geld, keinen Besitz, keinen Einfluss auf die Politik, Wirtschaft oder andere Personen. Als Sexsklavin war sie mit ihren achtunddreißig Jahren auch nicht mehr zu gebrauchen, dafür gab es viel jüngere, hübschere, schlankere und aufreizendere Frauen als sie. Sie war ein Niemand, die es nicht wert war, das Risiko einer Entführung auf sich zu nehmen.

      Sie sehnte sich nach Toby, ihrem besten Freund und Ehemann, der sie zwar seit zwei Jahren nicht mehr im Arm gehalten hatte, aber auf den sie sich nach wie vor felsenfest verlassen konnte. Er war immer für sie da, solange es sich nicht um ein sexuelles Thema handelte. Doch in diesem Fall würde auch er nichts unternehmen können, um ihr Wohlbefinden zu steigern oder sie aus ihrem Gefängnis befreien zu können. Er würde zu Hause in sämtlichen Zimmern herumlaufen; panisch, nervlich am Ende, Gott bittend, ihm Versprechen abgebend, obwohl er nie ein gläubiger Mensch war und sich nötigenfalls auch mit dem Teufel einlassen, nur um ihr beschützend und helfend zur Seite zu stehen. Aber der Teufel würde garantiert keinen Deal mit ihm eingehen, denn sein Stellvertreter hatte sich Bell geschnappt und würde sie auch nicht unbeschadet aus seinen Fängen lassen.

      6

      Nelson-Mandela-Straße, 11 Uhr. Der Verkehrsfluss ist ruhig, keine Besonderheiten auf der Straße oder in den zahlreichen Wohnanlagen. Eine ältere Dame schlendert gemächlich auf dem Gehweg dahin, ihre Einkaufstasche in der linken Ellenbeuge. Sie geht gerne einkaufen, denn dann ist sie nicht allein und einsam in ihrer leeren Zweizimmerwohnung. Vor sich sieht sie einen Einkaufswagen, der quer über dem Gehsteig steht und nur links davon einen schmalen Streifen zum Vorübergehen freilässt. Sie würde ihn der Länge nach hinstellen müssen, um besser daran vorbei zu kommen. Sie fixiert das Hindernis vor sich und beobachtet aus dem Augenwinkel einen Mann, der nur noch wenige Meter bis an den Punkt X hat. Der Mann vor ihr greift jedoch nicht wie erwartet zum Einkaufswagen um ihn aus dem Weg zu räumen, sondern geht einfach links an ihm vorbei, steigt aber nicht auf die Straße hinunter. Nun fixiert sie ihn und grollt ein wenig, weil er ihr die Arbeit überlassen hatte. Doch in genau diesem Moment fährt ein weißer Lieferwagen dicht an den Gehsteig, die Tür schiebt sich mit einem lauten Rollgeräusch nach hinten auf. Ein großer Mann, ganz in schwarz gekleidet, setzt ein Bein hinter den Mann auf dem Gehsteig, packt ihn am Brustkorb und wirft ihn mehr oder minder in den Wagen. Noch während der Fußgänger ins Innere fliegt, schert der Kleintransporter aus und fädelt sich wieder in den losen Verkehr ein. Die ältere Dame hört keine quietschenden Reifen, sondern nur noch das leise, metallene Geräusch der Seitentür, die kraftvoll geschlossen wird.

      Sie bleibt stehen, achtet weder auf den Einkaufswagen auf dem Weg noch auf ihre volle Einkaufstasche, die ihr vom Ellbogen gleitet und auf den Gehweg fällt. Der Joghurtbecher platzt im Inneren auf, doch auch das registriert sie noch nicht. Sie sieht nur, dass sich der Lieferwagen im gemäßigten Tempo von ihr entfernt und auf den Kreisverkehr zuhält.

      Da beginnt sie zu schreien, rudert mit den Armen und muss sich am Zaun festhalten, um nicht umzukippen. „Hilfe! Entführung! Ruft die Polizei! Himmel, da wird gerade ein Mann entführt! So helft ihm doch!“

      Eine junge Frau schießt mit ihrem Kinderwagen aus dem Spielplatz heraus direkt auf die alte Dame zu. Sie hat bereits ihr Handy gezückt und den Notruf gewählt.

      „Sind sie sicher?“, fragt sie hektisch und viel zu laut. Die zitternde Dame am Gartenzaun nickt heftig. „Ja, aber ja doch!“, ruft sie aus. Das Adrenalin pumpt beinahe pur in ihren Adern und lässt sie heftig keuchen.

      Innerhalb nur weniger Sekunden strömen Menschenmassen aus den Kaufhäusern, den Wohnungen und dem Bürogebäude, um die Entführung live mit zu erleben. Doch sie kommen genauso zu spät wie die alarmierte Polizei. Sie sehen nur noch die ältere Dame, die jemand auf den umgedrehten Einkaufswagen gesetzt hat, damit sie nicht umkippt. Ein junger Mann mit langer Schürze trabt mit einem Glas zuckerhältigen Limonade aus der Bar und reicht es ihr. „Das wird Ihnen guttun. Trinken Sie!“, forderte er die Dame auf und sie setzte ihre faltigen, leicht zitternden Lippen an den Rand des Glases.

      Kurz danach ist der Tatort abgesperrt, die Spurensicherung verständigt und die Dame auf dem Weg zum örtlichen Polizeirevier. Die Schaulustigen werden gebeten, sich zu melden, wenn sie irgendetwas gesehen oder gehört haben oder wieder zu gehen, wenn sie keinen Beitrag zur Klärung des Falls leisten können. Wenige Stunden später ist der Tatort wieder ein ganz normaler Gehweg neben einer ganz normalen Straße und einem ganz normalen Zaun. Nur das Leben des entführten Mannes hat sich soeben schlagartig geändert.

      7

      Rodrigo lenkte den Dienstwagen auf den Parkplatz vor dem Dezernat und ärgerte sich, weil er wieder in der letzten Reihe parken musste. All die anderen Parkplätze waren bereits besetzt und er hatte trotz mehrerer Ansuchen bislang noch keinen personalisierten ergattert. Der oberste Boss meinte bei meiner letzten Anfrage lachend, dass er sich durch den täglichen Fußmarsch von gut zwölf Metern bis zum Polizeirevier fit halten könne; er solle es doch positiv sehen! Rodrigo betrieb Sport, ja, natürlich. Er lief zweimal die Woche rund eine ganze Stunde, spielte zweimal im Monat eine Stunde Squash und er schwamm zumindest einmal pro Woche eine Stunde. Auf diese Weise hielt er sich zumindest so fit, dass er einem Flüchtigen gut folgen konnte. Es sei denn, derjenige war ein junger Sprinter, was aber ohnehin sehr selten vorkam. Die meisten Entführer und Einbrecher waren nicht sonderlich gut zu Fuß unterwegs und kämpften meist schon nach wenigen hundert Metern mit der Luft und Seitenstechen. Deshalb sagte Rodrigo immer scherzhaft, dass man die sportlichen Verdächtigen eher hintanstellen könne.

      Als er seinen Fuß auf die erste Stufe stellte, klingelte sein Handy und gleichzeitig rief jemand aus dem ersten Stock beim Fenster hinaus. Es war der oberste Boss, dessen Stimme unverkennbar über den Parkplatz donnerte. „Ein bisschen mehr Einsatz, wenn ich bitten darf! Hopp, hopp!“ Dann lachte er und zog schnell seinen Kopf vom Fenster zurück.

      Rodrigo sah Kevin an, verzog sein Gesicht und schüttelte kaum vernehmbar den Kopf. Kevin zuckte die Schultern und betrat hinter ihm das Gebäude. Am Handydisplay erschien die Nummer seines Chefs und ihm wurde klar, was er mit seinem Ruf gerade gemeint hatte. Beeilung, pronto, ràpido! Es musste wirklich dringend sein, also nahmen die beiden Polizisten immer zwei Stufen