Todesvoting. Karin Szivatz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karin Szivatz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754173541
Скачать книгу
Sie würden sich am nächsten Tag wieder mit vollem Elan auf die Suche nach Bell machen. Kurz nach der Einteilung betrachtete er noch eine Weile das Foto von Bell und dann verließ auch er das Dezernat, nahm sich jedoch die Akte mit nach Hause. Vielleicht hatte er in den eigenen vier Wänden den einen oder anderen Geistesblitz, wie sie die entführte Person finden und befreien konnten.

      Während sich das Team rund um Rodrigo ausruhte, kontrollierten Streifenpolizisten weiterhin weiße Lieferwagen, hielten nach Natalie Springer Ausschau und sahen wieder und wieder die Überwachungsfilme an. Vielleicht hatte der Kollege vom Tagdienst ja doch die eine oder andere Kleinigkeit übersehen, die weiterhelfen konnte.

      Rodrigo ging langsam die Treppe hinab, setzte sich in seinen Wagen und starrte in die schwarze Nacht hinein. Er war von Menschen umgeben, von denen er nicht wusste, welche kriminellen Gedanken sie gerade hegten oder welche dunklen Pläne sie schmiedeten, die ihrem Nächsten irgendwann schaden könnten. Und auch ihm selbst. Eigentlich war jeder dem anderen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. So, wie Natalie heute. Sie geht am helllichten Tag nichts ahnend zu ihrer Freundin und wird entführt. Der nächste fängt eine verirrte Pistolenkugel ab, der andere wird vor die U-Bahn gestoßen und an irgendeiner Ecke wird jemand ausgeraubt. Wir denken immer, unser Leben im Griff zu haben, fast alles kontrollieren zu können, aber das ist völliger Schwachsinn. In Wahrheit sind wir den anderen Menschen ausgeliefert, nur verdrängen wir diese Tatsache allzu gern. Wir sind ohnmächtig dem gegenüber, was der andere macht. Und Gesetze schützen uns davor nicht, sonst würde niemand verschleppt, ausgeraubt, vergewaltigt, gefoltert oder ermordet.

      An diesem Punkt riss er sich aus seinem inneren Monolog und kehrte in die Realität zurück. Er wusste, dass er eine zu negative Einstellung seinen Mitmenschen gegenüber hatte und er nahm sich gelegentlich vor, diese zu ändern. Nicht alle Menschen waren schlecht, nur einige. Und er nahm sich vor, sich in seiner Freizeit wieder mit Menschen zu umgeben. Die Einsamkeit wirkte sich nicht gerade positiv auf ihn aus. Allerdings würde er sich nach positiven Menschen umsehen müssen, was sich doch als sehr schwierig gestalten konnte. Aber im Moment hatte er andere Sorgen; er musste sich auf das Wesentliche seiner Arbeit konzentrieren.

      Mit vollem Kopf startete er den Motor und fuhr los. Doch anstatt nach Hause zu fahren zog es ihn zurück zum Tatort. Er wollte sich dort noch etwas umsehen, obwohl er ahnte, dass er nichts finden würde. Dennoch setzte er den Blinker nach links und bog ab.

      3

      Als Tatort war die Stelle der Entführung nicht mehr zu erkennen. Die Absperrbänder waren entfernt worden, die Polizisten abgezogen. Es war wieder eine normale Straße vor normalen Wohnblöcken und normalen Geschäftslokalen. Die Menschen verrichteten ihren Alltag und wussten zum Teil sicher nicht einmal, welche Tragödie sich hier vor nur wenigen Stunden abgespielt hatte.

      Der Ermittler stand an genau jenem Punkt, an dem Bell entführt wurde. Er sah in den Himmel, ließ seinen Blick über die mittlerweile hell erleuchteten Fenster streifen und fragte sich, ob es hier nicht doch jemanden gab, der mit seinem Handy den weißen Lieferwagen oder zumindest einen Teil davon fotografiert hatte. Bei Selfies fand sich immer etwas im Hintergrund, das nicht aufs Foto gehörte. Das Problem war nur, dass sich jene Menschen, die täglich unzählige Selfies schossen, nur sich selbst auf den Fotos betrachteten und den Hintergrund ausblendeten. Somit meldete sich niemand bei der Polizei um ihnen weiter zu helfen.

      Mit einem Seufzen ging er in Richtung seines Wagens, doch ihm graute davor, in seine ständig leere Wohnung zu fahren. Die Härchen an seinen Unterarmen stellten sich auf, als er daran dachte, wieder alleine in der Wohnung zu sitzen, nur den Fernseher oder seine Akten als Gesprächspartner und Zuhörer zu haben. Seine Bleibe war tot und er fühlte sich zeitweise in ihr wie in einem engen, dunklen Sarg. Der Gedanke daran ließ ihn erneut erschaudern. Nein, er konnte jetzt nicht nach Hause gehen, noch nicht. Deshalb suchte er die beiden Straßen nach einem Lokal ab und wurde auch sofort fündig. Keine zehn Meter vom Ort der Entführung hießen ihn warmes Licht und die Silhouetten von Menschen willkommen. Mit einem Lächeln auf den Lippen betrat er das Lokal und fand noch einen freien Platz an den Tresen. „Einen Screwdriver ohne Wodka“, bestellte er fast nebenbei und beachtete den Barmann absichtlich kaum.

      Der Mann hinter dem Tresen sah ihn entgeistert an. „Dann bleibt doch nur Orangensaft mit Eis.“

      „Exactamente“, lachte Rodrigo und nickte. „Und genau den möchte ich haben. Kalt und leicht säuerlich.“ Dann setzte er noch ein höfliches „por favor“ hintan.

      Der Barkeeper schenkte ihm ein warmes Lächeln und den Orangensaft in ein Glas mit vier Eiswürfel ein. „Jetzt hätten Sie mich aber beinahe drangekriegt“, flüsterte er und stellte das Glas vor seinem Gast ab.

      „Das war auch meine Absicht“, flüsterte Rodrigo zurück und prostete ihm zum.

      „Woher sind sie denn? Exactamente heißt so viel wie richtig, richtig? Ich tippe auf das heiße, sowie temperamentvolle Mexiko. Olè!“

      Rodrigo streckte beide Daumen nach oben und strich sich die naturschwarzen Haare aus dem Gesicht. „Zollfrei importiert“, sagte er und lächelte wieder. Auch wenn es sich nur um oberflächliches Gerede handelte, genoss er es. Ein freundliches Gesicht versüßte ihm den Abend und brachte Licht in sein müdes Inneres. Er würde davon bis zum nächsten Morgen zehren.

      Der Barkeeper zwinkerte ihm kurz zu und wandte sich drei neuen Gästen zu, die eine Bestellung aufgaben. Rodrigo beobachtete ihn und überlegte, ob das vielleicht auch ein Job für ihn sein könnte. Doch er verwarf den Gedanken sofort. Die geistige Herausforderung, die er dringend brauchte, konnte das Jonglieren mit bunten Flaschen und Mixbechern nicht gewährleisten. Sobald er die Zubereitung aller Drinks kannte, würde es ihn wieder weg von der Bar treiben. Er brauchte eine Arbeit, die ihm alles abverlangte. Und manchmal auch noch darüber hinaus.

      Rodrigo starrte gedankenverloren in seinen Orangensaft und dachte wieder an Bell. Er stellte sich vor, wie sie von den Füßen und in den Kleinbus gerissen wurde. Wie sie panisch wurde, als sie bemerkt hatte, dass sie entführt wurde. Oder hat sie ihr Entführer betäubt und sie schläft noch? Wohin hat er sie gebracht und weshalb hat er sie entführt? Was hat er mit ihr vor? Will er Lösegeld erpressen? War es ein vielleicht politischer Akt? Will er gegen etwas, das ihm nicht passt, protestieren und sie war ein zufälliges Opfer, das zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort war?

      „Na, wo sind denn deine Gedanken?“, fragte der Barkeeper und lehnte sich lässig an den Kühlschrank. „In anderen Sphären, wie es aussieht. Ich bin übrigens Benjamin. Aber ich werde von meinen Freunden Jam genannt.“

      Rodrigo streckte seine Hand aus und reichte sie Benjamin. „Freut mich, ich bin Rodrigo, von meinen Kollegen auch Rodrigo genannt. Ein nettes Lokal ist das hier. Mal etwas anderes als die üblichen Bars, in denen es laut und stickig ist. Bist du täglich hier?“

      „Fast. Ich arbeite fünf Tage die Woche, zwei habe ich frei. Das ist ein rollierendes System. Aber etwas anderes: in knapp zwei Stunden ist meine Schicht zu Ende. Wie sieht’s aus? Unternehmen wir noch etwas miteinander? Du bist genau mein Typ!“

      Rodrigo war irritiert. Was meinte Benjamin damit? Eine harmlose Männerfreundschaft oder doch eine Schwulenbeziehung? Um nicht gleich antworten zu müssen, trank er von seinem Screwdriver ohne Wodka mit Eis. Doch die Zeit reichte nicht aus um einen klaren Gedanken zu fassen. „Ich bin gleich wieder hier. Pass inzwischen auf meinen Drink auf. Nicht, dass mir noch jemand reinpinkelt!“, rief er dem Barkeeper zu und machte sich eilends auf den Weg zur Toilette.

      An die kalten Fliesen gelehnt forschte er in den Tiefen seiner Gefühlswelt herum. Irgendwie fühlte er sich von dem jungen Mann angezogen, war sich aber gleichzeitig nicht sicher, ob das nicht einfach nur ein fieser ein Trick seiner Einsamkeit war. Er war nie schwul gewesen, stand immer nur auf Mädels und echte Frauen, aber hin und wieder hatte ihm schon seit seiner Jugend der eine oder andere Mann gefallen. Allerdings hatte er sich nichts dabei gedacht.

      Seine Gedanken überschlugen sich und gesellten sich zum Entführungsfall. In seinem Kopf tobte ein Gedankengewitter, das ihn völlig verwirrte. Er konnte jetzt keinesfalls Entscheidungen treffen, also musste