Doch die Blüte des Lebens entfaltete sich, ohne Früchte zu tragen. Oblomow wurde nüchtern und las nur manchmal, auf den Rat von Stolz hin, das eine oder das andere Buch; doch er tat es nicht auf einen Zug, nicht plötzlich und ohne Gier, er ließ seine Augen nur träge den Zeilen folgen. Wie interessant die Stelle, die er las, auch sein mochte, wenn ihn aber die Stunde des Speisens oder Schlafens dabei antraf, legte er das Buch mit dem Einband nach oben hin und ging Mittag essen oder löschte die Kerze aus und ging schlafen. Wenn man ihm den ersten Band gab, verlangte er, als er damit fertig war, nicht nach dem zweiten; wenn man ihm aber denselben brachte, las er ihn langsam zu Ende. Später konnte er nicht einmal den ersten Band bewältigen, sondern verbrachte den größten Teil seiner freien Zeit damit, daß er seine Ellbogen auf den Tisch legte und darauf den Kopf stützte; manchmal gebrauchte er statt der Ellbogen das Buch, welches Stolz ihm aufgedrängt hatte.
So beschloß Oblomow seine wissenschaftliche Laufbahn. Der Tag, an welchem er seine letzte Vorlesung hörte, bildete die Herkulessäulen seiner Gelehrsamkeit. Der Direktor der Anstalt zog durch seine Unterschrift auf dem Diplom denselben Strich, den der Lehrer früher mit seinem Nagel im Buch gezeichnet hatte, und unser Held hielt es für unnötig, seine wissenschaftlichen Bestrebungen diese Grenze überschreiten zu lassen. Sein Hirn bildete ein kompliziertes Archiv von toten Begebenheiten, Personen, Epochen, Ziffern, Religionen, zusammenhanglosen sozialwissenschaftlichen, mathematischen und anderen Wahrheiten, Aufgaben, Theorien usw. Das war eine Bibliothek, die aus einzelnen, verschiedenen Bänden über alle Gebiete des Wissens bestand.
Das Lernen hatte auf Ilja Iljitsch eine seltsame Wirkung ausgeübt: Für ihn lag zwischen der Wissenschaft und dem Leben ein ganzer Abgrund, den er nicht zu überbrücken versuchte. Das Leben und das Wissen existierten für ihn jedes für sich allein. Er lernte alle bestehenden und längst nicht mehr bestehenden Rechte, absolvierte auch den Kursus des praktischen Gerichtsverfahrens; als er aber aus Anlaß irgendeines Diebstahls im Hause einen Bericht an die Polizei schreiben mußte, nahm er einen Bogen Papier und eine Feder, dachte und dachte und ließ einen Schreiber holen. Die Bücher auf dem Gut führte der Dorfschulze. Was hatte denn die Wissenschaft damit zu tun? fragte er sich verblüfft.
Er kehrte ohne die Last des Wissens, das seinem frei herumirrenden oder träge schlummernden Denken eine Richtung hätte geben können, in seine Einsamkeit zurück. Was tat er denn? Er fuhr noch immer fort, sich das Muster seines eigenen Lebens vorzuzeichnen. Er fand darin, nicht ohne Grund, so viel Weisheit und Poesie, die man auch ohne Bücher und Gelehrtheit niemals ausschöpfen konnte. Nachdem er seine amtliche und gesellschaftliche Karriere aufgegeben hatte, begann er die Aufgabe seiner Existenz anders zu lösen, sann über seine Bestimmung nach und entdeckte endlich, daß der Horizont seiner Tätigkeit und seines Lebens in ihm selbst verborgen war. Er begriff, daß das Glück in der Familie und das Besorgen des Gutes sein Anteil waren. Bis dahin war er mit seinen Angelegenheiten nicht ganz vertraut; dieselben wurden statt seiner manchmal von Stolz besorgt. Er war weder in seine Einkünfte noch in seine Ausgaben genau eingeweiht, stellte niemals ein Budget zusammen und befaßte sich überhaupt mit gar nichts.
Der alte Oblomow hatte seinem Sohne das Gut in demselben Zustande übergeben, in dem er es von seinem Vater übernommen hatte. Obwohl er sein ganzes Leben im Dorf verbrachte, zerbrach er sich doch nicht den Kopf und klügelte sich nicht allerlei neue Einrichtungen aus, wie man es jetzt tut, um irgendwelche neue Quellen der Produktivität der Erde zu entdecken oder die alten auszudehnen, zu verstärken und so weiter. Er nahm für seine Felder dieselbe Aussaat, die sein Großvater genommen hatte, und behielt für die Feldfrüchte auch dieselben Absatzgebiete bei. Der Alte war übrigens sehr zufrieden, wenn eine gute Ernte oder ein erhöhter Preis sein Einkommen gegen das vorjährige vergrößerte; er nannte das Gottes Segen. Er liebte keine Anstrengung und keine Extravaganz im Gelderwerb. »Gott wird uns schon satt machen«, sagte er.
Ilja Iljitsch war anders als sein Vater und sein Großvater. Er lernte, lebte in der Welt; das alles brachte ihn auf verschiedene Gedanken, die dem Vater und Großvater fremd gewesen waren. Er begriff nicht nur, daß jeder Gewinn eine Sünde sei, sondern auch, daß es die Pflicht jedes Bürgers bilde, den allgemeinen Wohlstand durch ehrliche Arbeit zu unterstützen. Darum nahm der neue, den Anforderungen der Zeit entsprechende Plan der Einrichtung des Gutes und der Verwaltung der Bauern den größten Teil des Lebensmusters ein, das er sich in seiner Einsamkeit vorzeichnete. Die dem Plan zugrunde liegende Idee, seine Einteilung und Hauptbestandteile – das alles war in seinem Kopf längst fertig; es blieben nur die Details, die Überschläge und Ziffern übrig. Er arbeitet schon einige Jahre unermüdlich an diesem Plan, überlegt ihn sich und grübelt im Gehen und Liegen, zu Hause und wenn er auf Besuch ist darüber nach; er ergänzt und ändert die verschiedenen Teile oder stellt das gestern Erfundene und in der Nacht Vergessene in seinem Gedächtnis wieder her; und manchmal flammt in ihm plötzlich ein neuer, unerwarteter Gedanke wie ein Blitz auf, und sein Hirn beginnt fieberhaft zu arbeiten. Er ist nicht irgendein unbedeutender Vollstrecker fremder, fertiger Gedanken; er selbst ist der Schöpfer und zugleich Vollstrecker seiner Gedanken. Sowie er des Morgens aufgestanden ist, legt er sich gleich nach dem Frühstück auf das Sofa, stützt seinen Kopf auf die Hand und denkt, ohne seine Kräfte zu schonen, so lange nach, bis sein Kopf endlich von der schweren Arbeit müde wird und das Gewissen ihm sagt: Du hast heute für das allgemeine Wohl genug geleistet.
Nachdem Oblomow sich von seinen geschäftlichen Sorgen befreit hatte, liebte er es, sich in sich selbst zu vertiefen und in der von ihm erschaffenen Welt zu leben. Ihm war der Genuß hoher Gedanken zugänglich; ihm war auch menschliches Leid nicht fremd. Er weinte manchmal bitterlich in der Tiefe seiner Seele über den Jammer der Menschheit, litt, ohne daß jemand es erfuhr, namenlos, sehnte sich irgendwohin in die Ferne hinaus, wahrscheinlich in jene Welt, in die Stolz ihn mitzureißen pflegte ... Süße Tränen strömten über seine Wangen ... Es kam auch vor, daß er von Verachtung dem menschlichen Laster, der Lüge, der Verleumdung, dem über die ganze Welt verbreiteten Bösen gegenüber erfüllt wurde und daß in ihm der Wunsch aufflammte, den Menschen ihre Wunden zu zeigen; dann erwachten in ihm Gedanken, wogten wie Wellen im Meer in seinem Hirn auf und ab, wuchsen zu Vorsätzen heran und steckten sein ganzes Blut in Brand; die Vorsätze bilden sich zu Bestrebungen aus; von sittlicher Kraft durchdrungen, wechselt er in einem Augenblick zwei, drei Stellungen, erhebt sich mit leuchtenden Augen vom Lager, streckt die Hand vor und blickt begeistert um sich ... Jetzt gleich wird sich sein Streben verwirklichen und sich in eine Heldentat umsetzen ... und dann, o Gott! Welches Wunder, welche furchtbaren Folgen konnte man von so einer großen Anstrengung erwarten! ... Wenn man aber nach einer Weile hinschaut, ist der Morgen dahingeschwunden, der Tag neigt sich dem Abend zu, und mit ihm zugleich verlangen Oblomows ermüdete Kräfte nach Ruhe; der Sturm und die Erregung besänftigen sich in seiner Seele, der Kopf ernüchtert sich nach dem Denken, und das Blut kreist langsamer durch die Adern. Oblomow legt sich still und sinnend auf den Rücken, richtet seinen traurigen Blick auf das Fenster und folgt mit den Augen wehmütig der Sonne, die sich majestätisch hinter irgendein vierstöckiges Haus versteckt.
Wie oft hatte er der Sonne auf diese Weise das Geleite gegeben!
Des Morgens begannen das Leben, die Aufregung, die Träume von neuem! Er liebte es manchmal, sich als irgendeinen unbesiegbaren Feldherrn zu denken, im Vergleich mit welchem nicht nur Napoleon, sondern sogar Jeruslan Lasarewitsch1 nichts bedeuteten; er dachte