So war es auch diesmal, dass er sich so gut es ging über das Virus informierte, nachdem er eben aus den Nachrichten in Erfahrung gebracht hatte, dass die ersten Infizierten und nicht nur Chinesen jetzt auch in Europa aufgetaucht waren. Er hatte im Internet recherchiert, und Gespräche mit ehemaligen holländischen Kollegen geführt, über die er direkt in Kontakt zu europäischen Ärzten in China gekommen war. Um herauszufinden, was es mit dem Virus auf sich hatte, und den Krankheitsverlauf, den es auslöste, wie alles Wissenswerte, was es da sonst drum herum gab.
„Die sagen nicht für über eine Milliarden Chinesen alles für Chinese New Year ab oder sperren die Fabriken landesweit für Wochen, und alle Schulen. Die können sich das gar nicht leisten, das ist nicht wie bei uns. Die Leute haben keine Kurzarbeit oder drei Monate Kündigungsfrist und auch keine Arbeitslosenversicherung. Die sind alle verschuldet bis über beide Ohren für ihre Wohnung und das Auto. Die können sich schon im Normalfall kaum leisten, mal mehr als eine Woche krank zu sein. So etwas wie Krankengeld gibt es dort für die meisten nicht. Da ist sicher viel mehr dran an der Sache. Da müssen wirklich viel mehr Menschen gestorben sein, als „offiziell genannt“, hatte auch Peter Theis beigepflichtet, als der ihn gefragt hatte, wie er darüber dachte, aus seinen Erfahrungen im täglichen Geschäftsumgang mit seinen chinesischen Kollegen.
Das war auch Theisens Überzeugung gewesen, nach dem, was er in dieser kurzen Zeit herausgefunden hatte, und die Rückschlüsse, die er daraus für sich und seine Umgebung zog. Deshalb war er an diesem 31. Januar ohne Ankündigung zur allwöchentlichen Gemeinderatssitzung im Rathaus von Kratstein erschienen, wo er aufgrund der Dringlichkeit gebeten hatte, mit ihnen dieses Thema besprechen zu dürfen. Da der Hermann, der Bürgermeister, ein wirklich sehr guter Freund von ihm war, der ihn als Arzt ganz besonders schätzte, war das keine Frage, und sie hatten sich fast bis Mitternacht über die Sachlage beraten.
Theis hatte ihnen kurz erklärt, dass dieses jetzige Corona Virus eine weitere Mutation des bekannten SARS- Virus war, von denen es mittlerweile wohl schon einige Arten gab, und dass die Ansteckungsrate sehr hoch war. Anscheinend weil sich erstens das Virus sehr lange im Körper, schätzungsweise hauptsächlich im Mund- beziehungsweise Rachenraum, halten konnte. Und zweitens, weil das Virus, wie eigentlich von den anderen Arten bekannt, dem Immunsystem nicht so gefährlich wurde wie zum Beispiel Ebola. Wodurch sich Krankheitssymptome wenn überhaupt, dann oft erst in bis zu zehn Tagen nach der Infektion zeigten. Dadurch rannten dann eben so viele Menschen mit dem Virus herum, ohne es zu wissen, und steckten extrem viele andere an. Warum es aber bei einer doch recht beachtlichen Anzahl von Infizierten zu einem derart schweren Krankheitsverlauf bis zum völligen Lungenversagen kam, das wusste auch er noch nicht so ganz. Klar war aber, dass es im Wesentlichen drei unterschiedliche Arten des Ablaufs nach der Infektion gab. Bei dem größten Teil der Infizierten, und dazu gehörten Gott sei Dank anscheinend auch Kinder und Jugendliche, kam es zu keinerlei Anzeichen einer Krankheit, oder nur sehr geringen Symptomen. Bei der zweiten Gruppe kam es zu einem grippeähnlichen Verlauf mit Husten und Fieber, teilweise sehr hoch, was den Erkrankten für einige Wochen wie bei einer echten Influenza, vor allem durch die infizierten Lungen, ganz schön zusetze. Bei der dritten, mit circa zehn Prozent glücklicherweise kleinsten Gruppe, befielen die Viren offensichtlich die Lunge so großflächig, dass die Patienten intensiv mit Sauerstoff und oder künstlicher Beatmung versorgt werden mussten. Dabei war leider doch mit einer hohen Sterbewahrscheinlichkeit bis zu zwanzig oder vielleicht sogar bis zu fünfzig Prozent zu rechnen.
Was Theis aber aus all dem klar erkannte, und deshalb hatte er eben den Gemeinderat aufgesucht, war, dass wie auch die spärlichen Zahlen und Statistiken zeigten, Menschen mit einem schwächeren Immunsystem wie bei jeder Virusinfektion für einen schwereren Krankheitsverlauf bis zum Tod besonders gefährdet waren. Doch ganz egal ob, wann, und wie heftig das mit der Infektion bis nach Kratstein kam: Man konnte erstens nicht genügend Schutzmaterial für die Einhaltung von Hygienemaßnahmen vorrätig haben. Wie Theis herausgefunden hatte, waren Schutzmasken und insbesondere die höherer Schutzklassen, da zum größten Teil aus Asien und vor allem aus China importiert, ohnehin schon total vergriffen. Und zweitens mussten sie in Kratstein einen Plan ausarbeiten, wie man die Bewohner und das Pflegepersonal des Altenheims vor jeglicher möglichen Infektionsquelle schützen konnte. Denn, wie Theis dem Gemeinderat doch ziemlich eindrücklich darstellte, wäre, wenn das Virus einmal ins Altenheim käme, ein Massensterben dort vorprogrammiert, sowie die weitere Ausbreitung über die Pflegehelfer im gesamten Gemeindegebiet nicht mehr zu verhindern. Weil ganz egal wie vertrauenswürdig die Zahlen aus China und aus anderen asiatischen Ländern waren, irgendwas um die achtzig Prozent aller Todesfälle betraf Menschen, die gut über siebzig Jahre alt waren. Zudem war es erwiesen, dass Menschen mit Vorerkrankungen wie Diabetes, Adipositas, Bluthochdruck und Herzlungenkrankheiten, weit überdurchschnittlich gefährdet waren, durch das Virus ernsthaft zu erkranken.
Das hatten dann doch alle verstanden, und weil sie Theis schon als Arzt sehr schätzen gelernt hatten, vertrauten sie ihm auch in dieser Sache. Es wurden fast vierzigtausend Euro für Mundschutz, Schutzkittel, Handschuhe und Desinfektionsmittel aller Art freigegeben. Theis bestellte noch am Samstag nach Absprache mit allen anderen Ärzten der Gemeinde und mit Elena alles bei einschlägig bekannten Firmen. Nicht ohne jedoch am Montag durch Gemeindebedienstete sicherzustellen, dass die Sachen auch wirklich, mit schriftlichen Zusagen für sofortige Lieferungen, so rasch wie möglich nach Kratstein geliefert wurden.
Das Zweite war natürlich schon etwas schwieriger, nämlich einen detaillierten Plan auszuarbeiten, wie man welche der älteren Menschen, und diejenigen durch die besagten Vorerkrankungen Gefährdeten, besser schützen könnte, und wie man das mit ihnen und allen anderen Betroffenen in der Gemeinde kommunizieren sollte. Zum Glück war das Altenheim, das auch die stationäre Pflege im gesamten Gemeindegebiet organisierte, im Besitz der Gemeinde. Außerdem war es natürlich von Vorteil, dass die Einrichtung, wie die Gemeinde selbst, finanziell gut aufgestellt war. Will heißen, man hatte nicht nur keine größeren Schulden, sondern verfügte über, wenn auch bescheidene, Rücklagen. Außerdem wurde die Altenpflege durch Elena und Dora seit Jahren bestens geleitet, wodurch das Pflegepersonal insgesamt eine gut eingespielte Mannschaft ohne große Fluktuation war. All das machte sich jetzt natürlich besonders bezahlt, als sie mit Theis und den anderen vier Ärzten der Gemeinde ihren Plan ausarbeiteten. Im wesentlichen bestand der darin, dass das Personal in zwei Hälften aufgeteilt wurde. Wovon die eine Hälfte nach Start des Projekts für zehn Wochen im vierundzwanzig Stunden Rhythmus im Heim arbeitete und auch dort übernachtete, also das Haus wie in Quarantäne nicht verließ. Während die andere Hälfte sich um deren Familien beziehungsweise Kinder kümmerten, wenn gewünscht und notwendig, weil keine Oma, Schwester oder andere Vertrauensperson dafür zur Verfügung stand. Dafür bekamen die, die zu Hause blieben, nur siebzig Prozent ihres Lohns. In begründeten Härtefällen konnte die Gemeinde Hilfe darüber hinaus gewähren. Die anderen, die vierundzwanzig Stunden im Heim blieben, erhielten hundertfünfzig Prozent ihres Gehalts. Theis hatte über Exkollegen in Holland und Deutschland bereits fünfhundert CoV-2-Testsets organisiert. So konnte die zweite Hälfte der Pflegemannschaft, die nach zehn Wochen zum Einsatz kommen sollte, vorher getestet und befundet werden. Zusätzlich wurden zwölf Freiwillige aus der Gemeinde als Aushilfen bestimmt und dafür entschädigt, dass sie sich als solche vier Wochen vor dem fälligen Wechsel testen ließen, um sich dann freiwillig auch in Quarantäne zu begeben. Mit dem Ziel, dass sie für diejenigen