Den intensivsten Austausch pflegte er, seit dem Tod der Eltern vor fast zehn Jahren, zu seiner Schwester Dora, die noch immer in Kratstein lebte. Sie war mit ihrer Familie, deren Freunden und dem engeren Umfeld das Letzte und Einzige, was ihm, wie durch eine Verbindung mit einer unsichtbaren Nabelschnur an seine Heimat, noch ein Gefühl von zu Hause geben konnte. Sie war als Pflegedienstleiterin im dortigen Seniorenstift tätig. Ihr Mann Herbert war der örtliche Polizeihauptmann. Sie hatten zwei Töchter und alles andere, was sonst noch zu einem durchschnittlichen, anständigen Leben, wie er es von seiner Kindheit her gekannt hatte, gehörte. Er fuhr gerne zu ihnen nach Österreich. Er fühlte sich dort mehr als Familienmitglied und zu Hause als irgendwo sonst. Aber er reiste genauso gern nach ein paar Tagen wieder ab nach München, Frankfurt oder Braunschweig, wo auch immer er sonst gerade seinen Wohnort hatte oder geschäftlich bedingt hinmusste.
Er lebte still und redlich, sein Geld verdienend, zwar relativ gefahrlos und ohne besondere Höhen und Tiefen, aber doch auch relativ inhaltsleer und nichtssagend, so vor sich hin. Immer im gleichen Trott bereitete ihm das Arbeiten wenig Mühe, da es in seinem Alter von einer wohltuenden Routine bestimmt wurde. Jedoch brachte sein Job auch keine neuen Motivationsschübe mehr, da er ziemlich perspektivenlos schon auf die Rente guckte. Oder er war wie meistens irgendwo auf der Welt unterwegs auf Dienstreise. Das hieß im Klartext: stundenlanges Herumhocken in Lounges auf irgendwelchen Flughäfen, Abendessen mit Kollegen und Kunden, an guten Tagen ein Buch lesen in einer Hotelbar. Falls er doch wieder einmal zu Hause war, brachte er seine Sachen in Ordnung, traf sich endlich wieder einmal mit Freunden und ging vielleicht mal auf einen Berg. Oder er plante eine Radtour in den Biergarten, ein Wochenende an die See oder eine Skitour im Winter; wie nach Griechenland in eine schöne Bucht für zwei Wochen im Frühsommer oder Herbst, um die Seele dort einfach baumeln zu lassen.
Mit Frauen war, abgesehen von kurzzeitigen Affären mit gelegentlichen oder auch regelmäßigen Treffen, wenn es sich beiderseitig einrichten ließ, seit Jahren nichts Ernstes mehr dabei gewesen. Das war den Frauen, die Peter dabei kennengelernt hatte, offensichtlich genauso wenig wert und ausreichend wie ihm. Für höhere Ziele hatte man in seinen Kreisen für gewöhnlich kein wirkliches Bedürfnis mehr. So wie man auch weder den Willen noch den Aufwand aufbringen mochte, seine Angewohnheiten noch einmal nach irgendjemand anderem als sich selbst auszurichten. Man wollte auch kein Risiko mehr eingehen. Außerdem wusste man in diesem Alter nach all den Enttäuschungen schon zu viel und erahnte schon im Anfang all das Negative, das einen in Zukunft erwartete. Man war zufrieden mit einem schönen Abend, mit einem einigermaßen zufriedenstellenden sexuellen Erlebnis. Das höchste der Gefühle, das man sich erlaubte, war mal ein verlängertes Wochenende am Gardasee oder ein paar Tage zum Skilaufen. Erfüllt war dieses Leben zwar nicht unbedingt, aber es war praktisch und vor allem funktionierte es relativ reibungslos und gut. Deshalb war Peter doch einigermaßen zufrieden damit, was er erreicht und wie er sich alles so eingerichtet hatte. Denn auch ihm würde die Endlichkeit und Bedrohung dieser Existenz, wie vielen Menschen, wohl nur in Zeiten von lebensbedrohlichen Krisen, eindrucksvoll bewusst werden.
Aber welche Krisen? Wo man doch alles so gut abgesichert hatte! Trotz oder wegen der geschäftlichen Sauferei und Fresserei, hatte Peter meistens sogar seine Laufschuhe dabei, um auf Dienstreisen im Hotel immer mal wieder wenigstens für eine Stunde aufs Laufband zu gehen. Er absolvierte sogar regelmäßig ganz ordentlich seine Vorsorgeuntersuchung. Was sollte da schon lebensbedrohlich werden können?
Das schien ja so unmöglich, so unvorstellbar und weit weg zu sein, bis letztes Jahr zu Weihnachten. Ja, wer hätte sich das letzte Weihnachten vor einem Jahr auch in seinen kühnsten Träumen so dramatisch ausmalen können?! Der Dow Jones stand wie fast alle Börsenindizes auf Höchststand. Die Leute kauften wie verrückt für die bevorstehenden Feiertage ein. Alle Kreuzfahrschiffe, die Skigebiete und Restaurants waren über den Jahreswechsel ausgebucht. Der Winter war wieder mal viel zu warm, aber die Umweltaktivisten nervten seit Monaten mit ihren Protesten, weswegen auch die meisten Feuerwerke abgesagt waren. Australien hätte eigentlich ohnehin keines gebraucht, weil der halbe Kontinent seit Tagen brannte. Die Engländer hatten die Schnauze voll von dem Zirkus um den Brexit, deshalb sollte der wilde Boris jetzt endlich einen Schlussstrich darunter machen. Die Demokraten wollten in Amerika wirklich dem Präsidenten mit einem Impeachment ans Bein pinkeln. Einige Experten warnten vor einem neuen Börsencrash a la 2008. Der Siegeszug der Elektromobilität stand vor dem Durchbruch, auch wenn es niemand kümmerte, wo das ganze Lithium und Kobalt dafür herkommen sollte.
Und in China war in irgendeiner nordöstlichen Provinz irgendein neuer Virus aufgetreten, an dem sogar schon einige gestorben waren. Natürlich waren die Presse und sämtliche Nachrichtendienste weltweit auf diese Sensation aufgesprungen. Es gab mittlerweile die wüstesten Verschwörungstheorien und Geschichten darüber. Die wildeste hatte Dora an Weihnachten, welches Peter wie immer selbstverständlich bei ihnen in Österreich verbracht hatte, erzählt. Sie hatte die Geschichte natürlich von Elena, ihrer Heimleiterin, und wohl auch besten Freundin. Die beiden verbrachten ja, wie Herbert, ihr Mann, auch immer wieder feststellte, mehr Zeit miteinander als mit ihren Männern. Aber es lag nicht nur an der gemeinsamen Zeit, die sie durch ihre enge Zusammenarbeit im Seniorenzentrum so zusammengeschweißt hatte, sondern auch an ihrer gleichen Auffassung von Hingabe und Professionalität, mit der sie das Heim führten. Dadurch waren sie im Laufe der Jahre zu wirklich mehr als nur Freunden geworden. Da Elena ursprünglich aus Weißrussland stammte, wo sie noch immer Kontakt zu früheren Freunden pflegte, war sie natürlich immer bestens über die russischen und weißrussischen Nachrichten informiert. Und als frühere Medizinerin – sie konnte zu ihrem Leidwesen ihr Studium damals nach dem politischen Umbruch nicht beenden – informierte sie sich gerne aus dem Internet über alles Interessante von russischen Ärzten und Wissenschaftlern. So gelangte sie zu dieser abenteuerlichen Verschwörungstheorie, dass dieses Virus, das natürlich aus einem geheimen Labor für chemische Kampfstoffe stammte, von ausländischen Agenten gezielt in China platziert worden war, um deren Wirtschaftsmacht endlich mal wieder zurückzustutzen. Aber warum dann irgendeine Stadt in Hubei? In Peking und Schanghai war offensichtlich noch alles in Ordnung, und in den Wirtschaftshochburgen in Guangzhou und Shenzhen lief alles wie immer auf Hochtouren.
Andere Gerüchte kramten wieder einmal die alten Geschichten von Schweine- und Vogelgrippe aus. Auch den gewohnten Vorwurf, dass die Chinesen ja bekannt dafür waren, alles, was sich irgendwie bewegte, auch zu essen, und das in hygienisch ekelerregendster Weise. Anders als wir zivilisierten Europäer und Amerikaner, die das hormon-hochgezüchteste Rindfleisch nur nach intensivster Nitratbehandlung, bei absolut pinkroter Farbe, blutlos und sauber, direkt aus der Plastikfolie verspeisten. So behauptete eine ganz wüste Story, dass die Entstehung des Virus auf eine ganz widerliche lokale Spezialität in dieser nordwestlichen Provinz von China zurückzuführen wäre, bei der frisches Fledermausblut zur Geschmacksverfeinerung über ein Gericht gegossen wurde. Ja, der menschlichen Fantasie sind bei nichts irgendwelche Grenzen gesetzt.
Das war auch Peter völlig klar, besonders in diesem Fall. Denn Peter liebte chinesisches Essen. Also nicht das, was in Deutschland in chinesischen Restaurants meistens in dieser klebrigen, süßsauren Soße serviert wurde. Nein, es war die enorme Vielfalt all dessen, was er bei seinen zahlreichen geschäftlichen Tätigkeiten aus den unterschiedlichen Regionen Chinas, in den vielen Restaurants, in denen er mit seinen ortskundigen Kollegen von Hongkong und Shenzhen, bis nach Shenyang und Changchun verkehrte, kennengelernt hatte. Er war seit über 20 Jahren sehr oft, manchmal auch für längere Zeit, in den verschiedensten Regionen Chinas unterwegs. Vor einigen Jahren hatte er es sich ernsthaft überlegt, ob er nicht zumindest für einige Jahre nach China zum Arbeiten umziehen sollte. Er hatte einmal sogar eine Freundin in Schanghai gehabt und viele Bekannte dort, meistens aus seinem beruflichen Umfeld. Vor allem das Nachtleben, das reichhaltige Angebot an verschiedensten Lokalen und der freundschaftliche Umgang mit seinen chinesischen Kollegen und Freunden hatten es ihm angetan. Aber nach zwei bis drei Wochen hatte er immer genug davon, und er sehnte sich dann doch wieder nach einer Wanderung durch einen stillen herrlich duftenden Wald, nach einer Fahrradtour durch die Auenlandschaft entlang eines fröhlich gurgelnden Flusses oder einem ruhigen Mittagsschläfchen auf einer stillen, schönen Almwiese, wenn ihm zum Zirpen der