„Na schau doch: Gestern ließen uns die Politiker noch mit aller Kraft und so schnell wie möglich nach mehr Elektrofahrzeugen laufen. Für eine nachhaltige Umwelt, hahaha. Vorgestern gab es einen Wettlauf, um den Konflikt im Nahen Osten schnellstens zu lösen, weil uns sonst die ganze Region um die Ohren fliegt. Davor mussten wir mit aller Entschlossenheit sofort die freie Marktwirtschaft vor einer neuen Welle des Nationalismus und dessen Handelsbeschränkungen durch Zollschranken retten. Vorher musste aber Europa vor den Flüchtlingen aus Afrika und Syrien geschützt werden. Überhaupt musste die Welt vor dem Iran, und noch wichtiger, vor Nordkorea und deren zukünftigen atomaren Bedrohungen befreit werden. Und heute müssen wir gegen SARS-CoV-2 in den Krieg ziehen! Dafür müssen unsere ach-so-geschätzten Politiker einfach entschlossen reagieren und alle, aber auch wirklich alle Maßnahmen ergreifen, oder?“, hatte es Peter ironisch zusammengefasst.
„Die Maßnahmen, liebe Mitbürger und Mitbürgerinnen, sind absolut unerlässlich für Ihre Sicherheit und die Ihrer Landsleute“, verlautbarten sie permanent auf allen Kanälen. Das Wort „alternativlos“ vermieden sie aufgrund schlechter Erfahrungen. Galt es nicht einmal sogar Unwort des Jahres? Mit staatstragenden Mienen sprangen die Politiker auf die Podien und verkündeten von früh bis spät neue Botschaften, Anweisungen, Richtlinien, Gesetzesvorhaben und Notfallerlässe. Im Minutentakt überschlugen sich die Nachrichten. Sie drängten sich an die Mikrofone und überboten sich im Wettstreit, wer als erster vor den anderen, welche neuen, einschneidenden und noch drastischeren Maßnahmen dem in panischer Angst um ihr Leben bangendem, nach Beschränkung lechzendem Volk mitteilen konnte.
Und wie sie es uns mitteilten! Man sah es ihnen an. Sie waren sich ihrer historischen Stunde und Bedeutung bewusst. OK, bei uns in Deutschland war unsere ''Mutti'', die Kanzlerin in diese, ihr zur Gewohnheit gewordenen Rolle, mehr oder weniger authentisch hineingewachsen. Aber die anderen! Der Spahn, der schon zuvor durch die Endlosbaustelle Pflege medial so hochgepusht war, dass er sich schon in Kanzlernachfolgehöhen emporgeschwungen hatte, war seitdem mindestens um 20 Zentimeter gewachsen, wenn er sich jetzt von morgens bis abends vor den unzähligen Kameras und Mikrofonen aufbaute. Der Gesundheitsminister eines Bundeslandes, den vorher wahrscheinlich nicht einmal die meisten Bürgerinnen und Bürger seines Bundeslands selbst gekannt hatten, wurde jetzt vom Aufstehen bis zum Schlafengehen, wie bei Big Brother, mit der Kamera dauerverfilmt. Damit das ganze Land huldvoll bestaunen konnte, wie der Mann unermüdlich für das nackte Überleben des Volkes telefonierte. Wie er heroisch, sich ganz offen, vor laufender Kamera, für alle sichtbar aufbauend, umringt von emsigen Krisenmanagern einem alt befreundeten Wirt und Dorfbürgermeister für den kommenden Freitag einfach schneidig sein Kommen absagte: Zu einem lange geplanten wichtigen Treffen eines Hasenzüchtervereins mit dem staatstragenden Rat diese Veranstaltung doch gänzlich abzublasen, auch wenn man mit hundertsiebzig Mann noch weit unter der seit fünf Stunden vorgeschriebenen Höchstgrenze für Versammlungen von mehr als fünfhundert Leuten lag.
„Ja, konnte man sich da noch dieser mit letzter Kraft vorgetragenen Erleuchtung dieses Übermenschen entziehen, wenn er ganz nüchtern feststellte, dass es eine epische Krise dieses Ausmaßes seit dem Zweiten Weltkrieg noch nie gegeben hatte?“, fragte sich Peter, ironisch und ungläubig nickend, vor den sich permanent überschlagenden News der großen neuen Politikshow. – Und weiter: Vor allem, wenn man sich für Nachrichten im Allgemeinen und Zahlen auch nur oberflächlich interessierte – und hoffentlich über mehr, als dem Gedächtnis einer Eintagsfliege verfügte: Denn waren die ungefähr eine Million Menschen, die Anfang des Jahrzehnts in Ostafrika in der Hungerkatastrophe krepiert waren, oder die andere Million Tutsis, die in gerade mal einhundert Tagen in Burundi von den Hutus ermordet worden waren, weniger episch?
„Die lokalen Behörden und Institutionen vor Ort sind völlig überfordert und wissen nicht mehr, wo sie wie die Hunderten Toten täglich begraben oder entsorgen sollen“, schallte es in dramatischen Berichten aus allen Nachrichten. – „Ja, wie hatten es die Sudanesen und die Behörden und Institutionen in Burundi mit den Zehntausenden Toten täglich geschafft? Mit deren Mittel, die damals ganz sicher um Potenzen weniger waren, als die in Europa heute?“, fragte sich Peter.
„Ja, aber wir sprechen hier von über tausend Infizierten.“ – „Der Anstieg ist exponentiell.“ – „Wenn wir jetzt nicht eingreifen, werden wir …“ – Alle Fernseh- und Radiosender berichteten nur noch über das Virus und die damit verbundenen Konsequenzen. Und sie, die Herren und Damen Politiker, waren innerhalb von Tagen die neuen Stars am Medienhimmel geworden. Die Umfragewerte der regierenden und in den Medien vertretenen Politiker stiegen in nachkriegsähnliche Höhen. Die Opposition, insbesondere die rechtsradikale, verschwand ins Nirwana. Das Virus hatte keine Nationalität, außer für Trump. Es konnte nicht mit rechtsradikalen Parolen aus unserer deutschen Heimat als fremd vertrieben werden. „Wir schaffen das, meine lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger!“ lautete diesmal eine gute Losung.
Peter beobachtete das tägliche Schauspiel ungläubig staunend, das da jetzt seit Mitte März überall ablief. Er war gänzlich verblüfft von der wilden Entschlossenheit dieser, sich früher einmal meist so unverbindlich wie möglich, zurückhaltend und nichtssagend, diplomatisch ausdrückenden Kaste der Politiker. Wer hätte es gedacht, dass sich die ganze Welt, alles, was sich diese westlichen, ach so stolzen Demokratien über sieben Jahrzehnte nach dem letzten Weltkrieg erschaffen und aufgebaut hatten, von einem neuen, wohl stärkeren Grippevirus ausgelöst, in ein paar Wochen einfach kaputtmachen ließ? Weil sich, wegen weltweit circa zwanzigtausend an einem mutierten Grippevirus in rund sechs bis acht Wochen Verstorbenen, über drei Milliarden Menschen von ihren nationalen Politikern, all ihrer Rechte beraubt, zu Hause einsperren ließen? Um sich nach deren persönlichem Ermessen, täglich in pro Provinz ändernden Notstandsverordnungen wie Marionetten, ängstlich, um ihr nacktes Leben zitternd, manövrieren zu lassen? Und das, wo, wie man nachlesen konnte, allein in Deutschland zwei Winter davor, in der Grippesaison von Dezember bis März, fast 25.000 an Atemwegserkrankung beziehungsweise Grippe verstorben waren!
„Ja, aber dieses neue CoV-2-Virus ist viel schlimmer, als alles, was wir vorher erlebt haben. Solche Krankheitsbilder von großflächig infizierten Lungen haben wir noch nie gesehen. So schwere Krankheitsverläufe hat es zuvor noch nie gegeben“, riefen die eifrig vor die Mikrofone geladenen Mediziner aller Couleur mit erhobenen Händen mahnend an Volk und Politik.
„Ja, woran waren denn die siebzigtausend Grippetoten in Europa im Winter 2017/18 gestorben?“, fragte sich Peter. „Waren die friedlicher, besser versorgt oder glücklicher verstorben?“
Jedenfalls durfte man auf gar keinen Fall dieses Covid 19 irgendwie in Zusammenhang mit irgendwelchen Grippepandemien bringen, weil man sonst sofort als einer dieser bösen zahlreichen Verschwörungstheoretiker gebrandmarkt wurde, die jetzt vereinzelt überall auftauchten. Weil dieses Cov-2-Virus sich so total anders verbreitete und auswirkte, so unglaublich viel tödlicher als irgendwelche Grippeviren war. Weil diese russische Grippe vor vierzig Jahren natürlich ganz was anderes und auch überhaupt nicht zu vergleichen war im Ausmaß an Epik, wo doch weltweit „Nur!“ irgendwas um die sechshunderttausend Menschen damals daran gestorben waren. Doch das war alles anders gewesen damals und das interessierte uns alle auch nicht, weil jetzt ging es das erste Mal bei uns, live, um Leben und Tod, und zwar in einem nie da gewesenen Massensterben? Dabei waren von diesen sechshunderttausend Toten in den Jahren 1977/78, bei zu dieser Zeit noch wesentlich weniger Menschen, es auch noch hauptsächlich die Kinder und Jugendlichen, die davon betroffen und gestorben waren. Wie, und ob die Lungen bis zum Versagen geschädigt waren, oder die Herzmuskeln, wie bei so vielen anderen Grippeerkrankten, wovon auch heute noch Hunderttausende mit schwersten Herzschäden als Spätfolgen davon herumliefen, wusste Peter natürlich auch nicht. Aber er meinte, dass ihnen das wie ihren Hinterbliebenen auch ziemlich egal gewesen sein dürfte. Auf jeden Fall waren sie medial und gesellschaftspolitisch wesentlich ruhiger und unrelevanter gestorben, denn damals hatte kein Hahn nach ihnen gekräht. Und offensichtlich hatte man vor vierzig genauso wie vor zwei Jahren auch noch genügend Särge für sie gehabt, während das heute anscheinend schier Unlösbares und Unmenschliches von allen abverlangte.
Jeden Tag wurden aus jedem Land die Horrorzahlen der am Virus Verstorbenen