Die Stunde der Politiker. Michael Kern. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Kern
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750237230
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dass das ausreichend sein sollte. Denn entweder es waren nur einige wenige infiziert und so noch nicht immun und ansteckend, oder aber die Infektion war in Kratstein bis dahin auch schon so weit verbreitet, dass dann in der Zwischenzeit genug Infizierte schon wieder gesund und immun wären. Sollte die Infektionswelle sich gerade zum Zeitpunkt des geplanten Wechsels im Hochlauf befinden, würde sich das Szenario um zwei Wochen verschieben, bis man Gewissheit hatte, dass genügend nicht ansteckendes Pflegepersonal für den Wechsel zur Verfügung stand. Versorgung und Essen für das Heim wurde von der Gemeinde bereitgestellt. Der Kirchenwirt und das Gasthaus Meinert unterstützten bei der Essensvorbereitung und Zustellung. Dr. Theis van Kieft übernahm die Schulung und Fürsorge für die Hygienemaßnahmen, auch zur Absicherung der bereitgestellten Lieferungen und Produkte bei der Übergabe beziehungsweise Übernahme an den Quarantäneschranken.

      Schwieriger gestaltete sich natürlich die Absicherung der gefährdeten Menschen, die sich zu Hause aufhielten. Denen konnte man nur die freiwillige Quarantäne zu Hause anbieten sowie die Sicherstellung ihrer Versorgung durch entsprechende Helfer, die sich in der Gemeinde dafür zur Verfügung stellen wollten. Denn nur wer sich zu häuslicher Quarantäne verpflichtete, konnte auch vom ambulanten Pflegedienst, der sich ebenfalls entweder im Seniorenzentrum oder im abgeschlossenen Haushalt der zu Pflegenden aufhielt, versorgt werden.

      Natürlich war den Gemeinderäten nicht wohl beim Beschluss des Maßnahmenpakets zwei Tage später, wofür immerhin vorsorglich ein Kredit für über hunderttausend Euro aufgenommen wurde. Nachdem ihnen alle fünf Ärzte aber in sonst total ungewohnter Einigkeit erklärten, dass das die einzig wirksame Strategie war, und das nur jetzt, solange eine Infektion in der Gemeinde ausgeschlossen werden konnte, stimmten sie letztlich einstimmig alle zu. So fand am Freitag, den 10. Februar, in der Kirche von Kratstein, wofür der Pfarrer, der bei der letzten Gemeinderatssitzung ebenfalls eingeladen worden war, seine Zustimmung gegeben hatte, die kurzfristig angekündigte Bürgerversammlung statt. Weil nur in der Kirche ausreichend Platz war für alle Interessenten der rund zehntausend Gemeindebewohner. Ganz modern hatte Alex, ein junger IT-Student und der Sohn eines alten Gemeinderatsmitglieds, auch eine Videokonferenz eingerichtet. Sodass alle, die nicht kommen konnten oder wollten, sich live oder unter der Internetadresse der Gemeinde auch später, diese Bürgerversammlung ansehen konnten. Er richtete dann auch eine entsprechende Hotline und eine Webseite für alle erfassten Gemeindebewohner ein. Natürlich gab es Tausende Fragen und Einwände, wie das immer der Fall war, wenn etwas anders als bisher gemacht wurde. Anderseits waren die Leute aber auch froh und dankbar, dass sich jemand Gedanken um sie und ihre Sicherheit gemacht hatte. Wichtig war nur, dass der Gemeinderat geschlossen hinter diesen Beschlüssen stand, weil deren Oberhaupt, Hermann Jost, als Hauptverantwortlicher, seit über einem Jahrzehnt, mit über siebzig Prozent Stimmenanteil als Bürgermeister sehr geschätzt war. Was bei Theis van Kieft nur für einen Teil der Bevölkerung zutraf, weil er ihnen zu fremd und zu forsch war, noch dazu mit seiner russischen, äußerst energetischen Frau. Aber auch hier half letztlich die einheitliche Geschlossenheit aller Ärzte im Gemeindegebiet, die alle Gemeindebewohner dann auch noch darüber aufklärten, wie sie sich die medizinische Betreuung im Infektionsnotfall aufteilen würden, um sicherzustellen, dass jeder versorgt wäre, ohne dass die Geschützten angesteckt werden konnten.

      Von den unzähligen Einwänden betrafen die meisten die Diskriminierung der Alten und Kranken in der Gemeinde durch die Isolierung von den anderen Bewohnern Kratsteins. Aber Dr. Bungrat erklärte es eindringlich, dass das nichts mit einer Diskriminierung bezüglich des Alters zu tun hatte, sondern die einzige Möglichkeit wäre, gefährdete Personen zu schützen. Denn es war eben eine Frage der Funktionsfähigkeit des Immunsystems und nicht des Alters, ob einem das Virus gefährlich werden konnte. Andererseits offenbarte die Tatsache, dass im Altenheim jeder der Bewohner im Schnitt sieben, teils starke Medikamente, pro Tag zu sich nahm, den insgesamt äußerst gefährdeten Gesundheitszustand der meisten Bewohner dort. Gerne könnten sich diejenigen älteren Mitbewohner, die zu Hause wohnten, sich bei seinen Kollegen oder ihm beraten lassen, ob bei ihrem Gesundheitszustand eine freiwillige Quarantäne ratsam wäre. Oder ob ihr Immunsystem durch viele überstandene Grippeinfektionen oder -Impfungen nicht vielleicht besser als von so manch jungem Menschen war, wodurch sie getrost dem möglichen Angriff des Virus durch alltägliche Kontakte, wie bisher in der Grippezeit, entgegensehen könnten.

      Natürlich passten die Beschlüsse nicht allen. Viele hielten sie für total überzogen, als sie noch in Fahrgemeinschaften am Samstag nach Zarg pilgerten, um endlich wieder den Beginn der Fußballsaison live im Stadion mitzuerleben. Zwei junge Pflegehelferinnen kündigten, weil sie die Maßnahmen nicht mittragen wollten. Sechs Familien nahmen ihre verwandten Bewohner aus dem Heim und dem ambulanten Pflegedienst, und brachten sie in den nächstgelegenen Einrichtungen anderswo unter. Elena und Dora hatten ihre Pfleger und die Bewohner sowie deren Angehörige für den Tag X vorbereitet. Sie hatten genügend Notbetten organisiert für all diejenigen, die dann im Heim schlafen mussten. Glücklicherweise hatten sie einen großen Garten, sodass die Bewohner genügend Platz hatten, sich im Freien bewegen zu können. Es wurde eine Stelle am Bach ausgewählt, der als sicherer Begegnungsort für die Zeit der Quarantäne eingerichtet werden sollte. Wo sich, durch den Bach getrennt, Bewohner und Personal im Freien, in sicherer Entfernung voneinander, mit ihren Angehörigen treffen und sehen konnten, um sich über den Bach hinweg miteinander zu unterhalten. Es wurden genügend Computer und Bildschirme für bevorstehende Skype Treffen organisiert und eingerichtet. Theis war rund um die Uhr mit Vorbereitungen aller Art und der Beobachtung der Situation im Internet und allen verfügbaren Quellen beschäftigt.

      Am 27. Februar fuhr Peter nach Kratstein, um Dora, Herbert und die Kinder zu besuchen. Zwei Stunden, bevor er ankam, wurde von den Ärzten und dem Bürgermeister die Reißleine gezogen und der geplante Notfallplan für Covid 19 ins Leben gerufen. Peter verbrachte das Wochenende mit Herbert und den Kindern. Am Samstagabend trafen sie sich im Gasthof Meinert mit Hermann und dessen Frau Sigrid, die recht müde wirkten. Im Laufe des Abends taute die Stimmung aber auf. Alle prosteten sich, und gedanklich den nicht anwesenden Freunden und im Besonderen ihren Frauen, zu, denn sie waren sich alles sicher, etwas Gutes unternommen zu haben. Vor allem aber freuten sie sich, dass sie dabei einen so starken Zusammenhalt in der Gemeinde hatten. Peter traf Dora am Sonntag nur für zehn Minuten am Bach. Sie war müde, weil sie natürlich wenig geschlafen hatte. Sie hatte ihr Gästebett in ihrem Büro aufgeschlagen. Sie weinte, als sie sich von Herbert und den Kindern am Sonntagnachmittag verabschiedete. Herbert brachte dann die Mädchen zu Hedwig, einer der Pflegerinnen vom Heim, die zur zweiten Schicht gehörte. Dort bezogen sie für die nächsten paar Tage eines der Kinderzimmer, das ihnen Hedwigs Tochter überließ. Sie waren gar nicht traurig, weil das für sie ein Riesenabenteuer war. Herbert musste am Sonntag zur Spätschicht ran.

      Peter ahnte noch nicht, dass dies das letzte Mal für sehr lange Zeit war, dass er sie alle sehen würde. Theis van Kieft betrank sich an diesem Sonntagabend ziemlich heftig mit seinem Freund, dem Bürgermeister Hermann List, in dessen wunderbarer Kellerbar. Hermann hatte natürlich schon Bedenken, ob sie später nicht mal von den Bewohnern für ihren ziemlich radikalen Alleingang mit Schimpf und Schande ausgepeitscht oder sogar verklagt würden, weil sich alles ganz anders entwickeln oder herausstellen würde. Aber Theis beruhigte ihn, dass das ganz sicher keine falsche oder schlechte Taktik war, sondern Teil einer Strategie, eine bevorstehende Epidemie bestmöglich zu überstehen.

      „Und was machen wir mit den anderen, wenn das Virus uns in der Gemeinde befällt?“, fragte Hermann.

      „Na, am besten gesund bleiben“, antwortete Theis nachdenklich.

      „Und hast du dafür auch schon eine Taktik, wie wir das anstellen sollen, Herr Doktor?“

      „Da lass ich mir schon noch ein paar taktische Maßnahmen einfallen, mach dir keine Sorgen. Aber die Strategie musst auf Dauer durchhalten können. – Und da hilft nur, so gesund wie möglich sein und bleiben. Weil die taktischen Spielchen, die die Politiker und die Leute da jetzt mit allen möglichen Maßnahmen treiben? Das ist immer nur die gleiche alte Geschichte: Duschen ohne Nasswerden. Und du weißt, davon halt ich nix“, antwortete Theis zum würdigen Abschluss, und dann betranken sie sich ordentlich.

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