Totenläufer. Mika M. Krüger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mika M. Krüger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738090222
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grell leuchtend vor ihm. Sich zu sagen, sein Handeln wäre notwendig, half da leider gar nicht. Nein, so hatten sie sich das nicht vorgestellt. Jay wäre außer sich, wenn er erfuhr, was er in den letzten Monaten alles im Namen der Verwaltung hatte tun müssen.

      »Vorhin gab’s einen Alarm wegen einer Transportröhre«, sagte Toms Kamerad ohne Begrüßung. Er hatte die SDF Ausbildung gerade so abgeschlossen und fühlte sich mit allem überfordert. Ihn schickte die Stadtverwaltung sicher nicht so schnell zu einem Außeneinsatz. Sein Finger deutete auf den Monitor, der das Areal um den Sichelturm zeigte.

      »Ich weiß nicht, was ich da machen soll. Deshalb habe ich gewartet, bis du zurück bist.«

      »Das bedeutet nichts«, sagte Tom. »Die Dinger geben regelmäßig einen Fehlalarm ab.«

      »Aber sollten wir es nicht wenigstens melden, damit jemand vor Ort sich das mal genauer ansieht?«

      »Vor Ort haben sie gerade andere Sorgen.«

      »Ich weiß ja, nur wenn ich mir die Richtlinien ansehe, dann sind wir verpflichtet, auch die kleinste Unregelmäßigk…« Die Richtlinien. Ein guter SDF-Soldat kannte sie auswendig und betete sie herunter wie ein radikaler Gläubiger die Bibel. Wirf deinen eigenen Willen weg und tausch ihn gegen blinden Gehorsam. Kann ja nur gut gehen.

      »Okay, wenn du unbedingt willst, kannst du es anzeigen, aber ich rate dir davon ab.«

      Sein Kamerad richtete sich auf dem Stuhl auf und rutschte nervös hin und her.

      »Und wieso?«

      »Nun, wir haben dort derzeit eine Notsituation. Durch deine Anzeige wird einer von der Hygienepolizei informiert und beauftragt, die Transportröhre zu checken. Die sind nachts allerdings nur ein paar Männer und werden in diesem Moment damit beschäftigt sein, den Mist aufzuräumen, den die Rebellen vor dem Sichelturm hinterlassen haben. Dann geht der Typ hin, schaut in die Röhre rein und findet – nichts. Was passiert? Du wirst von der Spitze verwarnt, weil du die Arbeiten am Sichelturm gestört hast. Es gibt Prioritäten. Und eine davon lautet, morgens ist die Stadt sauber. So einfach ist das.«

      »Und wenn sich da ein Lorca drinnen versteckt? Ich habe schon von solchen Fällen gehört. Die nutzen doch alles, was ihnen …«

      »Es war ein Fehlalarm.«

      So langsam verlor er die Geduld. Tom schob seinen Stuhl näher an den Bildschirm heran, zog mit seinem Finger das Fenster auf dem Monitor zur Seite und tippte eine Zahlenkombination ein. Sofort öffnete sich der Ausschnitt einer Stadtkarte, über den sich rote Lichtpunkte verteilten.

      »Siehst du das? Das sind die Fehlalarme der letzten Woche. Es gab insgesamt mehr als zehn in unserem Kontrollgebiet. Ich habe keinen davon gemeldet.«

      Sein Kamerad studierte die Lichtflecke. Nach einem Moment der Bedenkzeit berührte er einen der Punkte. Darüber wurde der Vermerk »Fehlalarm Südstadt, Türdefekt« eingeblendet. An einer anderen Stelle stand eine Notiz, die sich auf ein zu lang offen stehendes Fenster bezog.

      »Aber das sind keine Orte, wo sich jemand verstecken kann, oder?«

      »Darum geht es auch nicht. Stell dir einfach die folgende Frage: Würden die Rebellen einen Angriff auf das Medienzentrum planen und einen Lorca vergessen?«

      Unterbewusst kratzte sich sein Kamerad an der Schulter, betrachtete den Bildschirm und wippte nervös mit dem rechten Bein.

      »Ich glaube nicht«, nuschelte er. »Ich dachte ja nur, nach allem was heute schief gegangen ist. Erst der Einsatz Totenläufer in Westend und jetzt dieser Alarm. Ich weiß ja, dass wir nicht die Zeit haben, jeden Alarm zu prüfen, aber die Anweisung ist doch, dass wir zumindest eine Überprüfung in Erwägung ziehen.«

      »Wir haben sie in Erwägung gezogen und ich sage, da ist kein Hase im Zylinder versteckt.«

      Dafür erntete Tom einen verständnislosen Blick. Diese SDF-Leute, kein Humor im Blut. Ob er sich jemals mit einem von denen verstehen würde?

      Doch tatsächlich wandte sich sein Kamerad dem linken Bildschirm zu, markierte die bedenkliche Stelle und tippte »Fehlalarm« in das Fenster ein.

      Gut so. Tom würde nichts riskieren. Nicht nach heute Nacht.

      X

      Als Rina die Stufen zur U-Bahnstation Südmarkt hinunterlief, fühlte sie sich leer. Ein Orkan war durch ihren Körper gefegt und hatte jede Empfindung fortgerissen. Die Welt war nur noch ein rationaler Ort ohne Farben. Grau und gleichgültig. Wie sie es aus der Transportröhre geschafft hatte, verblasste bereits in ihrer Erinnerung. Es kam ihr vor, als habe sie Ewigkeiten im Dunkeln verbracht, umgeben von Schüssen und Schreien sterbender Menschen. Irgendwann hatte sie die Dunkelheit verlassen und war durch die Straßen getaumelt. Bis hierher.

      Ihre Schritte hallten in den Gängen der U-Bahnstation wider. Reklametafeln warben für keimfreie Shampoos und kostspielige Sicherheitssysteme in Wohnungen. Dazwischen kurze Videoclips, in denen sich zwei Worte feindlich gegenüberstanden: Lorca – Totenläufer. Viktor nannte diese Werbung Propaganda. Ein Mittel, um die Stadtbevölkerung zu verdummen und ihnen einen Mann ohne Skrupel und Mitleid als Held zu verkaufen.

      Vor einer Rolltreppe, die noch tiefer in die Station hineinführte, blieb sie stehen. Was, wenn der Soldat gelogen hatte und sie direkt in seine Falle lief? Das ergab mehr Sinn als die Vorstellung, dass er sie tatsächlich hatte davonkommen lassen. Soldaten wollten ihresgleichen tot sehen. Eine andere Option gab es nicht. Ihre Haut begann zu jucken. An den Armen, an den Beinen, am Rücken, einfach überall. Sie kratzte unwillkürlich an den Stellen, aber es half nicht. Es half niemals.

      »Was willst du hier?« Die laute Stimme eines Mannes drang an ihr Ohr und sie fuhr zusammen. Augenblicklich sah sie die Rolltreppe hinunter und von dort unten blickte ihr ein Mann in aschegrauer Kleidung, Stoffhose und Schutzweste entgegen. Er trug ein schwarzes Tuch, auf dem in orangen Lettern REKA stand. In den Händen hielt er eine Maschinenpistole, die er auf sie richtete.

      »Ich … bin … ein Lorca.« Ihre Stimme wurde von den Wänden nach unten geworfen. Ein lautes Echo in der menschenleeren U-Bahnstation. »Und ich suche Schutz.«

      »Ein Lorca?«, fragte der Mann. »Hier ist seit Monaten kein Lorca mehr aufgetaucht.«

      »Ich … bin einer«, rief sie ihm zu und dachte bei sich, dass er es doch sehen musste.

      »Ich komme die Treppe hoch und du bewegst dich nicht vom Fleck, okay?«

      »Ja«, sagte sie und wartete, bis er neben ihr stand. Sein Blick wanderte über ihr Gesicht, ihren Körper, von oben nach unten und blieb letztendlich bei den Augen hängen. Innerlich zerfraß sie eine brennende Unruhe, weshalb sie die Hände zu Fäusten ballte und fest zusammendrückte.

      »Tatsache«, murmelte er und legte seinen Finger auf ein Nanofunkgerät in seinem Ohr.

      »Wir haben in Gang neun einen Lorca«, funkte er. »Soll ich ihn zum Kaninchenbau bringen?« Pause. »Nein, ich täusche mich ganz sicher nicht. Okay. Ja, verstehe.« Dann nahm er den Finger herunter und lächelte ihr aufmunternd zu.

      »Du hast es geschafft. Wir kümmern uns jetzt um dich. Du bist sicher.« Aus seinen Worten sprach ehrliche Zuversicht und sie stand ihm gut zu Gesicht, doch Rina hörte diesen Satz nicht zum ersten Mal. Viktor hatte es gesagt, und zwei Menschen in einer weit entfernteren Vergangenheit, genauso wie der Junge von damals, kurz bevor sie zum ersten Mal Red-Mon-Stadt betreten hatte.

      »Jemand wie ich ist niemals sicher«, sagte sie deshalb und ihr Mund wurde trocken.

      X

      Sie lebte. Es war nicht zu leugnen. Irgendwo in ihrem Kopf kreischte eine Stimme, dass es nicht fair war, doch sie hörte nicht hin. Was war schon fair in einer Stadt, in der die Farbe deiner Haut und Augen entschied, ob du sterben musstest oder nicht.

      Der Rebell führte sie durch einen der U-Bahntunnel. Es war stockfinster und Rina hatte Mühe, ihm zu folgen. Immer wieder stolperte sie über ihre Füße und glaubte, vor Erschöpfung zusammenbrechen zu müssen. Ein Zittern hatte sich in ihren Körper geschlichen