Totenläufer. Mika M. Krüger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mika M. Krüger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738090222
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Sie sah auf. Der SDF-Soldat in tiefdunkelblauer Uniform hatte seine Waffe auf sie gerichtet. Regentropfen prasselten auf seinen Helm. Der Tod höchstpersönlich stand vor ihr.

      Rina wollte einen seiner Gedanken greifen und dafür sorgen, dass er es sich anders überlegte, aber es gelang ihr nicht. Sein Geist war ungewöhnlich stur und schien von dichtem Nebel umgeben zu sein. Trotzdem zögerte er. Zögerte, zögerte, zögerte …

      Drei kurz aufeinanderfolgende Schüsse hallten durch die Dämmerung. Rina konnte fühlen, wie die eiskalten Klauen des Todes ihren Körper packten und fortrissen. Doch er rauschte an ihr vorbei und strandete im Meer.

      Der Soldat hatte neben sie gezielt. Er schulterte seine Waffe, hockte sich hin und betrachtete sie. Wollte er mit ihr spielen? War das sein Plan? Würde er seine Überlegenheit nutzen, um ihr wehzutun, so wie es andere vor ihm getan hatten?

      Sie rührte sich nicht, starrte ihn an, bis er mit einer kurzen Kopfbewegung in Richtung ihres Verstecks deutete. Ihr Hals wurde trocken und alle Kraft schien aus ihrem Körper zu weichen. Das konnte er unmöglich ernst meinen.

      »Jetzt versteck dich da schon«, flüsterte er, als er merkte, dass sie sich noch immer nicht bewegte. »Hier taucht gleich noch wer auf.«

      Und sie tat es, setzte einen Fuß auf die untere Kante des Ablaufkanals, suchte Halt an der Wand und kletterte hinein. Entkräftet duckte sie sich in die Dunkelheit und rutschte ein Stück nach hinten, bis sie im Rücken ein Metallgitter spürte. Sicher. Für den Moment.

      Sie hielt den Atem an und lauschte auf jedes Geräusch. Erst war es still, dann hörte sie schwere Schritte und jemand fragte, wo der Lorca sei. Ins Meer gestürzt, war die knappe Antwort des Soldaten und sein Gesprächspartner stieß einen lauten Fluch aus. Der Mann sprach von Versagen, einer Verantwortung der Stadt gegenüber und Pflichten. Leichen durften nicht einfach verschwinden. Seine Worte glichen einer ängstlichen Belehrung, die er wohl nur formulierte, weil er genau wusste, wie gefährlich es war, Fehler zu begehen. Bis ihn der Soldat schroff unterbrach. Er solle nicht vergessen, vor wem er stand. Wenn die Statistik mal nicht stimmte, würde sich das nicht negativ auf das Ansehen der Einheit auswirken. Selbst ihre Vorgesetzte Amanda Whitman sei leicht zu besänftigen. Es lohne sich nicht, wegen solch einer Kleinigkeit die Fassung zu verlieren. Daraufhin folgte ein unverständliches Murmeln und erneut waren Schritte zu hören. Dann wurde es still.

      Rina hatte die Arme um ihre Beine geschlungen. Ihre nasse Kleidung klebte an ihrem Körper, der vor Erschöpfung schmerzte. Ihre Gedanken kreisten inhaltslos und wirr durch ihren Kopf. Überall sah sie Blut. An den Wänden, an ihrer Haut, an ihrer Kleidung.

      »Komm raus, wir sind allein.« Die Stimme des SDF-Soldaten drang aus der Ferne zu ihr. Er war noch da. Nur warum? Was wollte er von ihr? Sie blieb sitzen, hoffte, dass er sich auflöste wie manche ihrer dunkelsten Erinnerungen.

      »Da unten wird dich die Hygienepolizei finden. Sie kennen die typischen Lorcaverstecke. Vor mir brauchst du dich nicht mehr fürchten. Wenn ich dich hätte töten wollen, dann wärst du es bereits. Ich bin niemand, der lange zögert.«

      Was sollte sie tun? Jemandem wie ihm konnte sie nicht vertrauen. Erstarrt saß sie da, blickte hinaus auf das Meer und wünschte sich Ruhe. Einfach nur Ruhe.

      »Ich sag es nicht noch mal. Wenn du da nicht rauskommst, bist du tot und ich warte nicht ewig.«

      Ihr blieb keine andere Wahl. Deshalb kam sie aus dem Versteck heraus und griff mit ihren eisigen Händen nach der Plattformkante, um sich hochzuziehen. Jeder Muskel kreischte, beinahe rutschte sie ab und stürzte ins Meer, doch der Soldat packte sie am Arm und zog sie nach oben. Sein fester Griff schmerzte sie. Dann stand sie vor ihm, durchweicht und zittrig atmend. Ein ungeliebter Mensch mit einem panischen Überlebensinstinkt.

      Er deutete die Stadtgrenze entlang. Hochhäuser türmten sich hinauf in den Himmel. Ihre Spitzen versanken im diesigen Schleier des Regens. Weißgelbes Licht drängte sich vereinzelt durch die weiße Wand. Red-Mon-Stadt war schön und hässlich zugleich.

      »Siehst du das Hochhaus mit der Lichtersichel an der Fassade?«

      Sie nickte stumm.

      »Wenn du dich am Stadtrand hältst, kommst du in weniger als zwanzig Minuten da hin. Versteck dich in der Nähe. Sobald die Nachtsperre beginnt, gehst du bis zur U-Bahnstation Südmarkt.«

      Wieder nickte Rina, obwohl sie nicht verstand, was sie dort sollte. Die U-Bahn war eine Einbahnstraße. Die Stadtverwaltung schickte seit Jahren ihre Schergen durch die Stationen, um Lorca aufzuspüren, die sich im Untergrund versteckten.

      »Hast du verstanden? Das Gebäude mit der Sichel und dann Südmarkt, wenn die Nachtsperre ist. Sie werden dir helfen, wenn du dort ankommst.«

      »Sie?«, brachte Rina hervor und hatte eine dumpfe Vorahnung. Es gab nur eine Gruppe von Leuten, die einem Lorca Zuflucht gewährten.

      »Die Rebellen. Sie sind dort. Die Stadtverwaltung hält es geheim, aber sie haben die Kontrolle über das Gebiet. Also, findest du den Weg?«

      »Ich finde ihn«, sagte sie.

      »Und nicht vergessen: Kommt dir ein Mensch entgegen, siehst du nach unten. Von den Wohngegenden hältst du dich fern und mach einen Bogen um jeden, der zu offiziell aussieht.« Er pausierte. »Aber das muss ich dir wohl nicht erklären.«

      Als sie in die Blende seines Helms sah, entdeckte sie dahinter ein paar Augen in Blattgrün. Sie wirkten ehrlich und ungewohnt vertraut. Wer war er? Ein Soldat? Ein Mörder? Ein Lorcafreund?

      »Ich muss verrückt sein«, flüsterte er und innerlich stimmte sie ihm zu. Wer einem Lorca half, musste mit dem Tod rechnen.

      ›Danke‹, wollte sie sagen, aber das Wort steckte in ihrer Kehle fest. Diese eine Geste des guten Willens wog die unzähligen schlechten Taten nicht auf, die er im Namen der Stadtverwaltung begangen haben musste.

      Gerade als er gehen wollte, zögerte er erneut.

      »Wenn du den Rebellen begegnest, dann sag ihnen: Im kalten Sturm wird Blut vergossen.«

      Dann lief er los. Seine Gestalt wurde schon nach kurzer Zeit vom Regenschleier verschluckt.

      Rina war allein, durchnässt, verwirrt, aber entkommen. Sie war wirklich das Glückskind, von dem Viktor immer gesprochen hatte. Warum sonst sollte ein Soldat ihr Leben verschonen? Es war pures Glück. Nur manchmal fragte sie sich, ob es überhaupt noch eine Rolle spielte, wenn sie als Einzige zurückblieb. Ihr traten Tränen in die Augen. Die Welt drehte sich rückwärts.

      X

      Das stete Rauschen des Meeres war Rinas einziger Begleiter auf ihrem Weg in eine ungewisse Zukunft. Sie blieb nicht stehen, um sich auszuruhen, verschnaufte nicht, um nachzudenken, sondern war wachsam und auf der Hut. Wenn ihr am Stadtrand ein Mensch begegnete, musste sie mit allem rechnen.

      In der Ferne konnte sie die Sicherheitstürme blinken sehen. Das rote Licht spiegelte sich auf den Wellen und zeigte an, wo die Grenze verlief. Red-Mon-Stadt war eine Insel inmitten des Ozeans. Erbaut, um Schutz vor den Gefahren des Festlands zu bieten. Sicherheit und Frieden galten als das größte Gut, denn sie alle waren hierhergekommen, um frei von Angst leben zu können. Nur für Lorca hatte sich alles anders entwickelt. Die Stadt hielt ihnen gegenüber keine Versprechen, denn sie zählten zu den Nutzlosen und mussten jeden Tag aufs Neue um ihr Überleben kämpfen. Die Stadt war eine Arena, in der sie stets auf der Flucht war. Sicher war es nirgendwo.

      Manchmal fragte sie sich, ob sie nicht versuchen sollte, auf das Festland zu gelangen. Egal, wie streng die Hygienepolizei den Hafen kontrollierte, um zu verhindern, dass jemand flüchtete. Womöglich wartete weit hinter dem Meer ein besseres Leben auf sie.

      Doch jetzt war ihre letzte Chance eine Gruppe von Menschen erfüllt mit Hass. Die Rebellen forderten zwar das Ende der Lorcavernichtung, waren jedoch nicht besser als die Soldaten der Stadtverwaltung. Viktor hatte oft gesagt, sie solle sich von ihnen fernhalten, da für sie der Zweck die Mittel heiligte. Hinrichtungen gehörten zum Tagesgeschäft, wehrlose Stadtbürger wurden zu Opfern. Sobald sie dort war, wäre sie Teil eines Aufstands, den sie nicht unterstützen