Lisanne. Julia Beylouny. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julia Beylouny
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847619697
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zehn am Morgen“, antwortete er. „Wir müssen sehr früh aufstehen, um rechtzeitig in Bournemouth zu sein. Von dort aus fliegen wir nach Nîmes. Vielleicht nehmen wir einen Mietwagen bis Arles.“

      „Prima! Damit habe ich kein Problem. Fährt Logan uns zum Flughafen?“

      „Nein“, Dad räusperte sich. „Er wäre zum Melken nicht rechtzeitig zurück. Mein Freund Ian fährt uns. Hör zu, Liebling.“

      Ian. Der schräge, rothaarige Typ aus Little Bree. Er nannte sich selbst „Landwirt“, dabei besaß er allenfalls drei Hühner und zwei Schafe. Lisanne schmunzelte und faltete einen Rock zusammen.

      „Ma und ich ...“, Dad druckste herum. Sie fragte sich, ob sie eine lange Jeans benötigen würde. „Erinnerst du dich daran, was du mir damals versprochen hast, Lissy? Ich meine, als Onkel Jamie gestorben ist.“

      Sie erstarrte. Onkel Jamie. Nein, das war kein guter Zeitpunkt, um sie an irgendwelche Versprechen, die sie mal gegeben hatte, zu erinnern. Ganz langsam drehte sie sich um. Dad schaute auf seine Hände hinab und redete immer weiter.

      „Weißt du, wir haben nur Shannon und dich. Sicher, ich habe mir oft einen Sohn gewünscht, der mit anpackt. Einen Hoferben.“ Er lachte. „Onkel Jamie musste dran glauben, solange, wie Ma immer sagte, bis sie einen Sohn zustande bekommt. Aber wir haben nur euch beide. Und Jamie ist tot. Du sagtest damals, dass ...“

       „Dad, was soll das jetzt? Ich weiß, was ich gesagt habe! Ist das im Augenblick so wichtig?“

      Er erhob sich, drehte sich wie ein unbeholfener kleiner Junge zu ihr.

      „Du hast gesagt, dass du immer für mich da sein wirst. Wann immer ich dich brauche. Weißt du das noch? Dabei warst du erst zwölf und so süß wie Zuckermais. Du wolltest mir immer den Sohn ersetzen, obwohl ich euch beide nie hergeben würde.“

      „Und das habe ich auch, oder?“ Lisanne warf ein paar T-Shirts in den Koffer. „Ich habe immer mit angepackt, wo ich konnte. Bei der Heuernte, beim Silieren, ich kann sogar Treckerfahren. Dad, du hast gesagt, dass es okay ist, wenn ich nach London gehe, um Lehramt zu studieren. Willst du mir das jetzt vorhalten? Hast du Angst, dass ich den Hof nicht haben will?“

      Er lächelte, kam näher, strich ihr die zerzausten Haare aus der Stirn. Seine schwielige Hand war immer etwas schmutzig, auch wenn er sie noch so oft wusch.

      „Nein, Liebling. Wenn du Lehrerin werden willst, dann werd es. Wenn es das ist, was dich glücklich macht, werde ich dir nicht im Weg stehen. Ich wollte dir etwas anderes sagen ...“

      Sie schluckte und verdrängte die aufkommende Ahnung. Dad griff nach ihren Händen.

      „Lisanne, ich brauche dich in den nächsten Tagen hier. Hier, auf Wildflowers Hill, verstehst du? Ich möchte dich ein letztes Mal an dein Versprechen erinnern, denn jetzt brauche ich dich wirklich dringend.“

      „Was?“ Sie zog ihre Hände weg, wich einen Schritt zurück, prallte an die Schranktür. „Soll das heißen, dass ... dass ich ...?“ „Dass Ma und ich allein fliegen, ja.“ Er schaute zu Boden. „Es tut mir so leid.“

      Ihr fehlten die Worte. Sie musste sich verhört haben. Das konnte nicht wahr sein.

      „Dad, ... das heißt, ich meine ... Ich würde ...“ Sie kämpfte gegen die Enttäuschung, gegen ihre Tränen. Dad nutzte den Moment, um weiterzureden.

      „Weißt du, Liberty und ich sind dieses Jahr fünfundzwanzig Jahre lang verheiratet. Im August. Es ist unsere Silberhochzeit und wir sind noch nie zusammen verreist. Wir hatten keine Flitterwochen, immer stand der Hof im Vordergrund. Immer die Tiere, die Arbeit, ihr.“ Er machte eine Pause. Sie spürte, wie der Schmerz in ihr abwechselnd aufbrauste und abflachte.

      „Endlich ergibt sich eine Gelegenheit, Lissy. Wir haben immer davon geträumt, nach Südfrankreich zu fahren. Ihr seid erwachsen, ich habe jemanden eingestellt, der für die Woche klarkommen wird. Logan ist ein guter und vertrauenswürdiger Arbeiter. Und er ist ja nicht ganz allein auf dem Hof. Du bist da und passt mit auf, hab ich recht? An zwei Tagen besuchen wir Shan, den Rest der Zeit verbringe ich mit deiner Mutter. Lissy, jetzt, vor der Ernte, ist die einzige Gelegenheit, Urlaub zu nehmen. Im August ist Hochsaison, das weißt du.“

      „Klar“, murmelte sie und bemühte sich, ihre Trauer zu verbergen. „Klar verstehe ich das, Dad. Flitterwochen. Ihr habt Silberhochzeit. Wow, ... das solltet ihr unbedingt feiern.“

       „Ich danke dir, dass du Verständnis hast.“ Er breitete die Arme aus, zog sie an seine Brust. „Wir fahren ein anderes Mal weg. Alle zusammen. Das meine ich ernst, Liebling.“

       „Sicher. Ich hab’s versprochen, hm? Onkel Jamie kann dir nicht mehr zur Hand gehen, ich schon.“

      „Lissy“, Dad löste die Umarmung, „da ... ist noch etwas.“

      Sie atmete tief durch. Wie viel schlimmer konnte es schon noch werden? Eine Woche Semesterferien ohne ihre Eltern, allein mit einem herzamputierten Arbeiter, kein paar schöne Tage in Frankreich, kein Wiedersehen mit Shannon.

      „Ja?“

      „Du weißt doch, dass unsere Becky großes Potential hat, zur besten Kuh Großbritanniens gekürt zu werden. Ihre Milchleistung ist phänomenal, ihr Euter ist straff, die Zitzen sind ...“

       „Dad! Ich will das alles nicht wissen! Was habe ich damit zu tun?“

      „Am Wochenende finden in Bristol die großen Viehauktionen und die Rindershow statt.“ Er kratzte sich nervös am Hinterkopf, druckste herum. Ihr wurde heiß und kalt. „Ich ... ich habe Becky angemeldet. Zur Show. Logan fährt mit ihr hin. Und du ... du musst mit und ihm helfen. Es ist immer besser, wenn eine hübsche, junge Dame wie du in der Show ...“

       „Was hast du da gerade gesagt?“

      „Er kann sie da unmöglich vorführen. Er ist mein Arbeiter. Ich möchte, dass du das tust. Als meine Tochter.“

      „Ich ... soll ... eine ... Kuh ... rumführen? Dad, das kann unmöglich dein Ernst sein! Frankreich, okay, aber eine Kuhshow? Das ist Schwachsinn!“ „Das Preisgeld für die Siegerin beläuft sich auf mehrere Tausend Pfund, die du sicher gut für dein Studium gebrauchen kannst. Becky wird auf das Titelbild der ‚Cow and Cattle‘ kommen, von den Zuchtangeboten ganz zu schweigen. Lissy, das ist die Chance für mich! Darauf wartet ein Landwirt sein Leben lang.“

      Sie heulte und sank in den Koffer. Das war ein Albtraum! Mit Logan und einer Kuh nach Bristol! Für ein ganzes Wochenende! Jill würde sich kringeln vor Lachen.

      „Ich weiß, du bist geschockt. Ich habe die Anmeldung eingereicht, da hatten wir die Reise nach Frankreich noch gar nicht geplant. Glaub mir, ich wäre selbst gern mitgefahren. Aber das mit Arles ... das kommt so schnell nicht wieder.“

      „Schon gut, Dad“, flüsterte sie resigniert. „Vergiss es einfach. Ich ... hab’s schließlich versprochen. Aber das kannst du nie wieder gut machen, hörst du? Nie wieder!“

      Er ging vor ihr in die Hocke, strich ihr über den Kopf und umarmte sie.

      „Doch. Wir schreiben dir eine Karte.“

      Ma und Dad waren schlafen gegangen. Sie hatten sich verabschiedet und zurückgezogen, um fit für die Reise zu sein. Der Regen hatte nachgelassen.

      Lisanne zog sich die beigefarbene Strickjacke über, ging vom Hof, Richtung Felder, um den Sonnenuntergang anzuschauen. Die frische Luft würde ihr gut tun. Die wunderschöne Seifenblase Arles schwebte dem goldenen Horizont entgegen, um irgendwo dort oben zu zerplatzen. Das Leben konnte so unfair sein.

      Sie verschränkte die Arme vor der Brust, schloss die Augen und ließ den Wind durch ihre langen Haare wehen. Die Brise, die vom Meer heraufkam, streichelte sanft über die Gerstenhalme. Die Kornfelder wogen wie ein goldgelber Ozean hin und her. Lisanne lauschte dem Knistern und Knacken der Ähren. Breda und Dad hatten recht. In ein paar Wochen würde das Korn reif sein und die Erntezeit beginnen, was stets mit viel Arbeit verbunden war. Trotzdem ließ sie sich von der Melancholie in ihrem Herzen treiben.