Esther folgte ihr, rief dabei erfreut: »Super, Emma, das ist er!«
Die beiden Freunde starrten auf den dunkelbraunen Lederkoffer und konnten den Blick nicht abwenden.
»Ich hab Herzrasen«, murmelte Emma.
Langsam traten die drei zum Koffer. Die Spannung war greifbar. Esther öffnete die Schnallen, klappte das obere Teil auf und leuchtete mit ihrer Kerze kurz hinein. Anschließend steckte sie diese in den dreiarmigen Halter. Ben und Emma taten es ihr nach. Die Kerzen warfen ihren Schein auf einen Haufen staubiger Bücher, die von vergangenen Abenteuern erzählten, jetzt danach lechzten, wieder in die Hand genommen und entdeckt zu werden.
Wie gebannt schauten Emma und Ben in den geöffneten Koffer, während Esther zu wühlen begann. Plötzlich hielt sie inne, zog einen in Packpapier eingewickelten Gegenstand hervor. Vorsichtig entfernte sie das Papier und hielt ein großes, schweres Buch mit einem ledernen Einband in den Händen.
»Das Zauberbuch …«, flüsterte Esther ehrfurchtsvoll.
In diesem Moment flatterte es über ihren Köpfen. Alle drei zuckten zusammen. Emma schrie auf vor Schreck.
Doch Esther beruhigte sie: »Das sind nur Fledermäuse, es ist alles in Ordnung. Wahrscheinlich ist das Dach irgendwo undicht und sie haben sich meinen Speicher als Zuhause ausgesucht.«
»Puh, hab ich mich erschreckt!«, stöhnte Emma.
Respektvoll nahm Ben Esther das Buch aus der Hand, strich mit seiner freien Hand über das dunkle Leder. Magische Zeichen sowie rätselhafte Symbole waren darin eingestanzt, zusätzlich mit glänzendem Gold gefüllt. Bei einem symbolisierten Drachen verharrten Bens Finger kurz. An den vier Ecken schillerte jeweils ein farbiger Stein in Zartblau, Braun, Orange und einem durchsichtigen Weiß. Die Magie der vergangenen Jahrtausende sprach auf geheimnisvolle Art und Weise zu ihnen.
Sofort spürte Emma die unglaubliche Macht, die von dieser Kostbarkeit ausging. Ein zartes Kribbeln überzog ihre Haut, als ob leichter Strom sie durchfließen würde. Schauer liefen über Emmas Rücken, fasziniert konnte sie den Blick nicht von dem Buch abwenden. Wie alt mochte dieses Buch wohl sein?
Neugierig fragte Ben: »Hast du mal reingeschaut, Esther?«
»Leider nein. Ich habe mich nie getraut, es zu öffnen. Zauberbücher nehmen so etwas schrecklich übel. Instinktiv habe ich immer gewusst, dass dieses Buch nicht für mich bestimmt ist, sondern dass ich es nur verwahren soll.«
Eine Frage beschäftigte Ben die ganze Zeit: »Wie ist das Buch zu dir gelangt? Ich meine, so etwas Besonderes fällt einem nicht jeden Tag in die Hände, oder?«
»Irgendwann hatte ich einen Flyer von einem Trödelmarkt im Briefkasten. Ich verspürte das intensive Gefühl, unbedingt zu diesem Trödel gehen zu müssen. Als ich dann dort war, zog es mich magnetisch zu einem der Stände hin. Ich bin es gewohnt, auf solche Zeichen zu achten.
Dort saß eine alte, hutzelige Frau zwischen Bergen von antiken Büchern. Viele Jahre lasteten auf ihrem krummen Buckel und inmitten des faltenreichen Gesichts fielen die stahlblauen, hellwachen Augen auf, die mich eindringlich ansahen, fast durchleuchteten. Ihre grauen Haare waren zu einem Dutt zusammengesteckt, dazu trug sie ein altmodisches, grünes Kleid. Als ich zu ihr ging, pries sie mir gleich ein Buch an, welches sie nicht ausgestellt hatte, sondern in einer klapprigen Kiste aufbewahrte.
Ihr kennt meine Vorliebe für Bücher, deshalb ließ ich es mir zeigen. Direkt nahm ich die Magie wahr, verspürte den starken Wunsch, es zu besitzen. Mir war klar, dass es eine Kostbarkeit war, die auf keinen Fall in falsche Hände geraten durfte! Der Preis, den die alte Frau mir nannte, war lächerlich gering. Ohne zu zögern erwarb ich es.
Als ich mich nur wenige Schritte von dem Stand entfernt hatte, drehte ich mich noch einmal um, doch das Hutzelweib war verschwunden, stattdessen stand dort eine junge, hübsche, blonde Frau mit zwei Kindern. Auf meine verblüffte Nachfrage hin sagte sie mir, dass es an ihrem Stand keine alte Dame gebe. Tja, so ist das mit der Zauberei!«
»Irre Geschichte! So wie gerade alles in unserem Leben!«, kommentierte Ben.
Emma fühlte ein merkwürdiges Gefühl in ihrem Bauch, während sie das Buch anstarrte. Sie wurde von ihm angezogen, aber lehnte dieses Ziehen ab. Es war ihr unheimlich. Warum war da dieser Sog? Wohin würde das Buch sie leiten? Sie zweifelte, ob sie all dem gewachsen war.
Ben fragte Esther: »Weißt du sonst etwas über dieses Buch?«
»Nein!«
In diesem Moment hörten sie ein lautes Donnergrollen: »Oh, das Gewitter, es ist inzwischen näher gekommen. Wenn ihr euch beeilt, seid ihr rechtzeitig zu Hause. Kommt, wir gehen nach unten.«
Sie nahmen die Kerzen wieder an sich und eilten zur Treppe. Emma war die Letzte. Immer noch grübelte sie über das Zauberbuch und seine Wirkung nach. Auf einmal hatte sie den Eindruck, dass jemand sie beobachtete. Emma drehte sich zögernd um, leuchtete mit der Kerze in den Raum hinein. Tatsächlich: Da hockte die fette, graue Ratte aus dem Garten und musterte sie mit ihren gelb funkelnden Augen. Sie saß einfach nur da, völlig bewegungslos, wirkte dabei trotzdem aggressiv. Ein intensiver Geruch nach Pfefferminze durchströmte den Raum.
Emma spürte, wie sich ihre Nackenhaare langsam aufrichteten. Sie hörte Ben und Esther unten ankommen und fühlte sich völlig allein gelassen. Eisige Kälte kroch langsam an ihren Körper hoch, ergriff dabei von ihr Besitz. Es war als flösse Eiswasser durch ihre Adern.
Die Ratte starrte das Mädchen weiterhin bösartig an. Das Empfinden, gelähmt zu sein, machte sich in Emma breit. Ihre Beine versagten den Dienst, während die Augen der Ratte sie weiter in ihren Bann zogen. Ein unheimliches Wispern erfüllte den Raum. Emma glaubte, die Ratte flüstern zu hören und hielt den Atem an. Sie versuchte zu verstehen, was die Ratte ihr sagen wollte, aber es war zu leise.
Plötzlich begann die Luft um die Ratte herum zu flirren. Das unheimliche Wesen schien seine Form aufzulösen. Die Umrisse zerfransten und die gesamte Gestalt veränderte die Konturen.
Dann geschah etwas Unerwartetes: Drei dicke Wassertropfen fielen vom Deckenbalken herunter, zerplatzten mitten auf Emmas Stirn. Wassertropfen? Wo kamen die denn jetzt her? Als das Wasser kühl an ihrem Gesicht hinabrann, stieß Emma den Atem aus und sog frische Luft in die Lungen.
In derselben Sekunde rief Ben von unten: »Emma! Komm endlich, wir müssen los!« Er spürte eine ungewohnte Nervosität im Körper. Die Flamme der Kerze flackerte und bäumte sich auf. Sie schien zu zischen und zu raunen. Gleichzeitig vibrierte das Zauberbuch leicht in seiner Hand. Wo blieb Emma nur? Irgendetwas stimmte hier nicht! Erneut rief er: »Emma!«
Wie aus einer Trance erwachte seine Freundin. Sie schüttelte sich und hastete Richtung Tür, schaute dort noch einmal zurück, aber die Ratte war verschwunden.
Gehetzt rannte sie die Treppe hinunter. »Da war etwas Gruseliges! Auf dem Speicher war die Ratte aus dem Garten! Sie hat sich verändert, ich … ich hatte Schiss! Dann war sie plötzlich – weg.«
Emma war ganz aufgeregt und durcheinander. Was war das für eine Ratte? Woher kamen plötzlich diese Wassertropfen? Es sprudelte aus ihr heraus: »Ich war wie hypnotisiert. Ich glaube, die Ratte wollte mich angreifen!«
»In der Dunkelheit des Speichers ist alles unheimlich. Außerdem seid ihr gerade sowieso überreizt. Die Dinge wirken deshalb anders, meint ihr nicht?«, versuchte Esther sie zu beruhigen.
»Nein, das war echt so! Oder nicht? Doch, da war was. Ach, ich weiß auch nicht!«
Tröstend drückte Ben seine Freundin an sich. »Ist ja nichts passiert.«
»Hm!«, grummelte Emma.
Kurz überlegte Esther, ob ihnen die männlichen Rattenzwillinge Jidell und Quidell, einen bösen Streich gespielt hatten, aber das passte nicht zu den beiden. Die Brüder waren ein Mitbringsel aus Fanrea, die seit damals bei ihr wohnten. Sie nahm sich vor, die Rattenbrüder später darauf anzusprechen. Besorgt seufzte sie. »Möglich ist alles! Wenn dort