Er reichte es seiner Freundin, während er ihr Gesicht musterte. Emma wirkte abwesend.
Als sie das Buch berührte, leuchteten die Steine auf der Vorderseite hell auf. Ein leichtes Vibrieren übertrug sich von dem Buch auf das Mädchen und ein Energiestrom floss durch ihren Körper. Ein angenehmes, wohliges Gefühl breitete sich in ihr aus, während ein heller Schimmer ihren Körper ummantelte. Erstaunt fragte sie: »Was bedeutet das?«
»Emma, nimm du das Buch in Verwahrung. Es scheint für dich bestimmt zu sein. Vielleicht bist du eine Hüterin«, stellte Amapola fest.
Achselzuckend schaute Emma erst auf Amapola, danach auf das Buch. Heute wollte sie nicht mehr darüber nachdenken. Zu viel mysteriöse Dinge waren heute geschehen, die sie lieber aus ihren Gedanken verdrängte.
Um abzulenken, wandte Ben sich an Amapola: »Wie funktioniert das mit dem weißen Lichtball? Kann ich das lernen?«
Die kleine Elfe antwortete: »Mein Lichtball ist ein magisches Gemisch aus Schutzzauberpulver, Zauberstab und Zauberspruch. Vielleicht lernst du es irgendwann, vielleicht auch nicht. Ich habe keine Ahnung, wie sich deine Fähigkeiten entwickeln werden. Jetzt jedenfalls müsst ihr zur Ruhe kommen! Ich hoffe, dass der Schlaf euch trotzdem beehrt, damit ihr ausgeruht seid für unser Abenteuer. Also, bis morgen!«
Emma verabschiedete sich und ging nachdenklich, mit dem Buch unter dem Arm, ins Haus, während Amapola Ben nach Hause begleitete.
Achterbahn der Gefühle
Als Ben das Haus betrat, hockte seine Mutter Nora mit Mattes zusammen in der Küche. Die beiden aßen die Überreste des Mittagessens: Kohlsuppe. Heute hatte ausnahmsweise Nora gekocht, doch die aufgewärmte Suppe sah wirklich unappetitlich aus. Mattes schaute ziemlich unglücklich drein, weil er dieses angebrannte Gematsche runterwürgen musste. Glücklicherweise bemerkte die Mutter nicht, wie lustlos er darin herumrührte. Sie wirkte sehr gehetzt, da sie am Abend wieder Nachtdienst und deshalb nicht mehr viel Zeit hatte. Müde und ausgelaugt sah Nora aus, ihr Beruf kostete sie viel zu viel Kraft und Energie. Besorgt runzelte Ben die Stirn.
Seine Gedanken wurden unterbrochen: »Ach Ben, gut, dass du da bist! Du musst Mattes gleich ins Bett bringen. Ich habe Nachtdienst und Papa musste zu einer Versammlung ins Dorf. Die Bauern brauchen seine Meinung als Tierarzt.«
»Och nee, ich habe gar keine Lust!«, maulte Ben und ergänzte in Gedanken: ›Wahrscheinlich wollte Papa mal wieder eine anständige Mahlzeit in den Bauch bekommen!‹ Manchmal wunderte Ben sich über seine Eltern, dass sie einander so liebten, obwohl sie unterschiedlich waren. Aber irgendwie klappte es mit den beiden, und sie gingen sehr liebevoll miteinander um.
Ben warf noch einen skeptischen Blick auf das Essen. Ein saftiges Steak wäre ihm lieber gewesen! Er seufzte. Kein leckeres Abendessen, statt dessen Babysitten. Zwar liebte er Mattes, aber es nervte ihn, wenn er den Bruder ins Bett bringen sollte. Mattes verlangte, dass er ihm Geschichten vorlas, kuschelte, mit der Taschenlampe und seinen Händen Schattenfiguren an die Wand warf oder all die anderen Einfälle umsetzte.
Gerade heute würde Ben viel lieber etwas machen, wozu er Lust hatte. Aber wozu hatte er Lust? Zu gar nichts mehr! Der Tag war absolut chaotisch verlaufen und Ben musste endlich die Gedanken sortieren. Adrenalin tobte noch in seinen Zellen und er war stolz darauf, wie mutig er sich im Kampf gezeigt hatte.
»Ben! Hörst du mir überhaupt zu?«, unterbrach Nora seine Gedanken.
»Äh, ehrlich gesagt: nein!«
Sie schüttelte den Kopf: »Also, du musst ihm die Zähne gründlich putzen, er macht das nicht ordentlich genu…«
Ungeduldig unterbrach Ben sie: »Mama, ich weiß das doch alles, ich bringe ihn nicht zum ersten Mal ins Bett. Leider muss ich das allzu oft machen!«
Mit einem irritierten Blick nahm Nora den Vorwurf zur Kenntnis, erwiderte aber nichts. »So, ich muss los, ich spare mir dann heute meine ganzen Ermahnungen. Henk van Vaal braucht mich, ich bin die Einzige, die er zu sich lassen will. Der arme Kerl hatte mal wieder einen seiner Zusammenbrüche.« Sie strubbelte Ben liebevoll durch die Haare und gab Mattes einen Kuss, den er mit verschmiertem Sabbelmund erwiderte.
»Bitte sei ein bisschen nett zu deinem Bruder, er himmelt dich geradezu an.« Die Mutter schaute ihren großen Sohn nachdrücklich an. »Und bevor wir keine endgültige Diagnose wegen deiner Augen haben, lehne ich das Ergebnis der Untersuchungen erst einmal ab. Du solltest das Gleiche tun!«, versuchte sie ihn zu trösten. »Ärzte können sich irren, ich habe das oft genug erlebt. Wir sind eben nur fehlerbehaftete Menschen und keine Götter. Außerdem gibt es noch viele weitere Spezialisten. Wir warten nächste Woche erst einmal den Termin ab, okay?«
Ben spielte im Geiste durch, wie er im Schlepptau seiner Mutter von Arzt zu Arzt zog, und eine Diagnose war niederschmetternder als die andere. Nein, das würde er auf keinen Fall mitmachen, er hatte einen anderen Weg gefunden.
»Kuss, Mama! Darf ich morgen mit Lara spielen?«, quäkte Mattes.
Die Mutter beugte sich erneut zu dem kleinen Kerl hinunter und küsste ihn ein letztes Mal, bevor sie ging. »Ich kümmere mich um deine Verabredung mit Lara. Ärgere Ben nicht, okay?« Zärtlich streichelte sie Mattes über die Wangen. Es fiel ihr sichtlich schwer zu gehen, sie seufzte, gab sich schließlich einen Ruck und eilte davon. Ben beobachtete die Szene und fühlte, wie sein Herz sich vor Eifersucht zusammenzog.
»Beeen?«
»Jaaaa?«
»Ich hab Hunger! Machst du mir ein Brot?« Ben betrachtete die Matsche auf dem Teller, schnitt eine angewiderte Grimasse und musste lachen.
Mattes prustete los und stimmte in das Gelächter ein. Nachdem der Lachanfall vorüber war, schmierte Ben verständnisvoll ein Brot. Mattes war sehr glücklich, dass doch noch etwas Essbares in den Bauch kam.
Nach dem Essen forderte Ben Mattes stöhnend auf: »Na los! Komm kleiner Bruder, wir gehen ins Badezimmer und putzen dir die Zähne.«
»Aber Huckepack, du bist mein Pferd!«, bestimmte Mattes.
Ben verdrehte die Augen und dachte: ›Es geht schon wieder los, ich bin der Sklave meines Bruders.‹
Später lagen die beiden Jungen zusammen im Bett. Mattes kuschelte sich zufrieden an Ben, der die Geschichte von Nils Holgersson vorlas: »Hör auf zu zappeln! Also: der Gänserich lag reglos auf dem Boden, die Augen waren geschlossen. Nils war verzweifelt, weil er befürchtete, dass Martin sterben würde, denn der Gänserich bewegte sich nicht mehr. Oh je!« Ben machte eine Pause.
Aufgeregt schmiegte sich Mattes noch näher an Ben. »Ich will nicht, dass Martin stirbt, dann ist Nils ganz allein! Die Geschichte ist mir zu traurig.«
Ben verdrehte die Augen: »Martin wird nicht sterben, sonst wäre die Geschichte zu Ende.« Nicht wirklich überzeugt sah Mattes ihn an, für ihn war diese Erklärung nicht logisch. Ben las weiter vor, aber immer wieder unterbrach ihn sein Bruder, weil er Fragen oder Einwände hatte. So ging das immer.
Ben las, bis Mattes die Augen zufielen. Als der Kleine endlich schlief, erhob Ben sich schlapp und schaute auf die Armbanduhr. Todmüde beschloss er, nur kurz ins Bad und dann ebenfalls ins Bett zu gehen.
Im dämmrigen Licht des Zimmers schaute Ben auf den kleinen Bruder, der süß und friedlich im Bett schlief. Er lag auf der Seite, hatte seine Händchen unter den Kopf gelegt und wirkte wie ein kleiner Engel. Wieder fühlte Ben einen Stich im Herzen, die in ihm schwelende Eifersucht kam wieder hoch.
Nachdenklich ging Ben ins Badezimmer und putzte die Zähne, dann zog er sein verdrecktes T-Shirt aus und betrachtete den Oberkörper im Spiegel. Er besaß eine sportlich durchtrainierte Figur und mochte sie so, wie sie war. Sich leicht seitwärts drehend, musterte er zum wiederholten Male den Leberfleck auf der linken Schulter. Es war ein fest stehendes, abendliches Ritual geworden. Der Fleck löste ein unbestimmtes Sehnen in ihm aus, das Ben nicht erklären konnte. Als