»Was denn, was hat dich eingeholt?« Nervös strich Emma eine Locke aus ihrem Gesicht.
»Das Tor von Zeit und Raum, ebenso die Abenteuer, die dahinter warten«, flüsterte Esther heiser. Die Worte standen im Raum, entfalteten langsam ihre ganze Magie, wurden zu lockenden Verheißungen oder zu drohendem Unheil.
Bens Herz klopfte schneller, als ihm klar wurde, dass die Reise nach Fanrea sein ganzes Leben verändern würde. Vor Aufregung bekam Emma schwitzige Hände und konnte es kaum erwarten, dass ihre Tante weitersprach. Also schien alles wahr zu sein, was die Elfe ihnen eben erzählt hatte? Überwältigt starrten die Freunde Esther an.
Diese begann behutsam ihre Geschichte zu erzählen: »Ich hatte es all die Jahre verdrängt und nie jemandem erzählt. Die Leute sollten mich nicht für noch absonderlicher halten, als sie es ohnehin schon tun.« Sie machte eine kleine Pause, schaute die beiden dabei ernsthaft an: »Wollt ihr die Geschichte wirklich hören? Vielleicht macht sie euch Angst und nimmt euch den Mut, durch das magische Tor zu gehen? Diese ferne Welt ist nicht nur schön, sondern auch grausam, ja, sogar lebensgefährlich!«
Die zwei überlegten kurz, dann sagte Ben leise: »Esther, ich will nicht blind werden. Ganz tief in mir drin weiß ich, dass Amapola die Wahrheit gesagt hat. Ich hab keine Wahl, egal, was du uns über Fanrea erzählst.«
Emma drängte: »Mach es nicht so dramatisch! Je mehr wir über Fanrea wissen, desto besser für uns. Dann können wir uns drauf einstellen!«
Zweifelnd runzelte Esther die Stirn, verschwieg ihnen die traurigen Gedanken und Ängste. »Ja, vielleicht!. Ihr werdet Dinge über mich erfahren, die euch bisher nicht bekannt waren. Aber eines ist sicher, wenn die kleine Elfe Ben Heilung versprochen hat, könnt ihr das glauben und solltet diese Chance nutzen!« Angespannt rieb sie sich den Nacken, erzählte schließlich zögernd: »Damals war ich ein kleines Mädchen und genoss es, draußen zu sein. Ich liebte die Natur, die mir fortwährend vertrauter wurde. Die Nähe zu ihr war mir immer schon lieber gewesen als die Menschen, die häufig ebenso gemein wie rücksichtslos sind.
Oft war ich allein im Wald unterwegs. Ich wurde eins mit der Natur, konnte Tiere sogar fühlen, bevor ich sie sah. Es gelang mir irgendwann, mit geschlossenen Augen durch den Wald zu gehen, ohne irgendwo anzustoßen, da ich die Umrisse der Bäume spürte.
Mein Lieblingsbaum war und ist eine alte Eiche, gegen deren Stamm ich mich immer schon gerne lehnte. Ich fühlte mich diesem knorrigen Baum sehr verbunden, es war, als säße ich neben einem guten Freund, der mir durch seine bloße Anwesenheit Kraft gab.
Stundenlang saß ich dort still, beobachtete die Tiere, lauschte dem Säuseln der Blätter oder dem Gesang der Vögel. Die Tiere verloren ihre angeborene Scheu vor mir, ich durfte ihnen ganz nah kommen, ohne dass sie wegliefen.
Da ich schon als Kind eine Eigenbrötlerin war, hatte ich nur eine Freundin, Agatha. Die war genauso eine Außenseiterin wie ich. Agatha war klein, ein bisschen pummelig, hatte dunkelbraune Haare und trug eine dicke, von ihrer Oma geerbte Brille, mit der sie wahrscheinlich noch weniger sah als ohne. Wenn Agatha aufgeregt war, stotterte sie. Zudem musste sie alle Anziehsachen ihrer sieben größeren Geschwister auftragen, denn ihre Familie war bettelarm.
Ich mochte Agatha sehr. Sie besaß ein liebes Herz, war ganz ohne Falschheit und fühlte sich unter den Menschen genauso unwohl wie ich. Wegen ihres Aussehens sowie ihrer Armut wurde sie immerzu gehänselt und war froh, dass wenigstens ich sie akzeptierte, so wie sie war.«
Esther machte eine Pause, schaute Ben und Emma an: »Habt ihr Lust auf einen Tee mit einem Stück Blaubeerkuchen? Dazu einen Klecks Sahne?«
Bei diesen Worten lief den Freunden das Wasser im Mund zusammen.
»Oh ja, Blaubeerkuchen mit Sahne!«, riefen sie gleichzeitig.
Esther freute sich: »Gern, ihr beiden Naschkatzen! Wir setzen uns damit in den Garten.« Sie ging zum Kühlschrank und nahm ihren köstlichen Kuchen heraus, dessen dunkelblaue Früchte die Süße des Sommers versprachen. Schon beim Anblick der leckeren Beeren fühlte und schmeckte man, wie der Saft aus den Beeren platzte, der sich langsam mit der leicht gezuckerten Sahne vermischte. Was für ein Genuss!
Als Emma mit ihrem Freund auf der Terrasse saß, beide mit Tee versorgt waren und genüsslich Kuchen schlemmten, fuhr Esther mit ihrer Erzählung fort: »Agatha war oft mit mir im Wald unterwegs. Ich zeigte ihr meine Lieblingsplätze, zusätzlich ließ ich sie teilhaben an meinem Wissen über Pflanzen oder Tiere. Eines Tages zeichneten wir ganz versunken Ameisen, die ihre schweren Lasten trugen. Auf einmal bemerkten wir, dass uns jemand beobachtete. Uns wurde ganz mulmig zumute. Wir schauten uns um. Da entdeckten wir neben meiner Lieblingseiche eine zierliche Elfe auf dem Waldboden, die uns freundlich anlächelte.
Wir hätten jetzt geschockt sein müssen, zumindest erstaunt, waren aber einfach nur fasziniert, dass es wirklich Elfen gab. Genauso wie wir es immer gehofft hatten.
Die Blumenelfe hieß Campanula. Wunderschön war sie und so winzig, dass sie in meine Hand hineinpasste. Sie erklärte uns, dass wir auserwählt seien, mit ihr nach Fanrea zu gehen, um zu lernen.«
»Das ist wie bei uns gewesen!«, unterbrach Emma ihre Tante. »Die Elfe war auf einmal da und hat von Fanrea gesprochen. Nur der Grund für ihr Erscheinen war ein anderer. Erzähl bitte weiter, das ist echt irre!«
Esther nippte an ihrem Tee, räusperte sich dann. »In mir war ein grenzenloses Glück. Für mich stand immer schon fest, dass es mehr gibt zwischen Himmel und Erde, als wir Menschen uns vorstellen können. Die Elfe mir ihrer Einladung schien mir ein großartiges Geschenk zu sein. Agatha war mit mir einer Meinung, dass wir uns diese einmalige Gelegenheit nicht entgehen lassen durften. Wir fühlten, dass die Elfe es ehrlich mit uns meinte. Aus heutiger Erwachsenensicht sind weder unser Vertrauen, noch unsere Naivität nachvollziehbar. Wir stellten keine Fragen, sondern gingen einfach mit ihr. Aber wir waren eben Kinder, arglos, neugierig und offen für alles.
Die Elfe reichte uns eine blutrote Flüssigkeit, die wir trinken sollten, und kippten sie hinunter. Heutzutage hinterfragt ihr die Dinge viel mehr als wir damals. Das ist auch gut so!
Campanula öffnete mithilfe von Magie ein Weltentor in der alten Eiche. Durch dieses Tor gelangten wir nach Fanrea und waren überrascht, dass diese Welt sich nicht so sehr von unserer unterschied.
Wir wurden von einem schneeweißen Einhorn empfangen. Es strahlte Liebe und Frieden aus. Seine magische Kraft erfüllte mich mit Ruhe und Glück.« Esther verstummte, schien sich erneut in ihren Erinnerungen zu verlieren.
Mit großem Appetit nahm Ben ein weiteres Stück Blaubeerkuchen, dass er genüsslich mit einem Riesenklecks Sahne garnierte.
Emma beobachtete ihn mit gerunzelter Stirn. Sie wunderte sich mal wieder, wieviel er essen konnte. »Fresssack!«, flüsterte sie.
Gelassen zuckte er mit den Schultern, während er sie angrinste. »Wer weiß, was kommt oder was es in Fanrea zu essen gibt!«
Esther mischte sich ein: »In Fanrea gibt es leckeres Essen. Vor allem gesunde Nahrung, nicht so welche aus der Tüte mit viel Chemie.«
»Klingt nach Körnerfutter. Ich nehme besser eine Notration Kekse oder Schokolade mit.« Ben verzog das Gesicht.
Emma verdrehte die Augen und sagte ungeduldig: »Tantchen! Wie geht es weiter?«
Räuspernd setzte Esther sich in ihrem knarrenden Korbstuhl auf. »Ja, ich war gerade irgendwie … Hm, äh …«
Ben half ihr aus: »Abgedriftet?«
»So nennt man das wohl heute. Also weiter! Wo war ich gerade? Ach ja, beim Einhorn mit Namen Esperanza …«
»Esperanza? Hoffnung?«, warf Ben ein.
»Ben, sei doch still!«, beschwerte sich Emma.
»Ja, genau, Hoffnung. Esperanza kam näher heran. Währenddessen fühlte ich, wie sie auf den Grund meiner Seele schaute, um meine tiefsten Gedanken zu lesen. Nach der Begrüßung erklärte