Emma und Ben schauten einander an. Sie fühlten sich wie Verbündete, die ein großes Geheimnis teilten. Ein seltsames Kribbeln überlief beide, kaum konnten sie das morgige Abenteuer erwarten. Nachdem sie Amapola verabschiedet hatten, wurde diese unsichtbar.
»Weg ist sie! Junge, Junge, das glaubt uns niemand!«, rief Ben.
Emma stimmte ihm zu: »Nee, echt niemand! Deshalb erzählen wir keinem davon. Alle denken sonst, wir sind völlig verrückt, außer Tante Esther. Mit der habe ich allerdings ein Hühnchen zu rupfen! All die Jahre hat sie uns was vorgemacht!«
»Du bist vielleicht lustig, was sollte sie uns denn erzählen? Wir hätten ihr sowieso nicht geglaubt, sondern sie für total durchgedreht gehalten! Du hast es doch gerade selbst gesagt!«
»Trotzdem!« Emma runzelte die Stirn.
»Ist klar, ist bei ihr was anderes!« Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Es knackte erneut. Aus den Augenwinkeln bemerkte Ben eine Bewegung. Er drehte sich rasch um, sodass er gerade noch eine Gestalt wahrnahm, die geduckt im Gebüsch untertauchte.
Ben fühlte die Bedrohung, die von dieser Gestalt ausging. Ihm lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter.
»Ben, was hast du?«, flüsterte Emma, die ebenfalls spürte, dass etwas nicht stimmte.
»Da war etwas! Ein unheimlicher Kerl, der sich vor uns versteckt hat und blitzschnell verschwunden ist. Ob er uns belauscht hat?«
»Uns belauscht? Ein Kerl? Also ein Mensch? Vielleicht ein Spion von dem Zauberer? Ben, das ist mir nicht geheuer, lass uns schnell zu Tante Esther laufen!« Emmas Fantasie schlug gerade Purzelbäume.
Unsicher zuckte Ben mit den Achseln. »Keine Ahnung. Ja, komm, wir gehen zu Esther! Ich will lieber nicht wissen, wer oder was das war!«
Esthers Geheimnis
Mit Angst in den Herzen und den Köpfen voller Zweifel machten die beiden Freunde sich umgehend auf den Weg zu Tante Esther. Kurz kam Emma der Gedanke, dass sie sowieso zu ihr wollte, um sie wegen Bens Krankheit um Rat zu befragen.
»Was hältst du von der ganzen Geschichte?«, fragte Emma verunsichert.
»Hm. Ist alles ziemlich krass, oder? Erst hab ich gedacht, da macht jemand einen Scherz mit uns. Aber fast glaube ich Amapola, obwohl mich das selbst erstaunt. Vielleicht, weil ich es glauben will?«
»Möglich!«
»Was habe ich zu verlieren? Ich kann nur gewinnen.«
Emmas Blick streifte Ben und sein entschlossener Gesichtsausdruck erstaunte sie, bestärkte sie aber darin, ihn nach Fanrea zu begleiten. Während des gesamten Weges diskutierten sie weiter über die Worte der Elfe sowie deren unglaubwürdige Geschichte.
Esthers Backsteinhaus lag auf der anderen Seite des Dorfes am Waldrand. Das alte, verwinkelte Gebäude stand inmitten eines riesigen, verwunschenen Gartens, in dem Vögel zwitscherten und Insekten brummten. Umgeben von süßlich duftenden Blumen wuchsen knorrige Obstbäume neben Birken und Weiden. Lange Gräser schwankten im Wind, während Sonnenstrahlen Kringel auf den Boden malten. Hier züchtete Esther ihre Kräuter und Heilpflanzen, die sie zu Tees, Cremes, Hustensäften oder wundersamen Tinkturen verarbeitete.
Esther war die ältere Schwester von Emmas Mutter. Sie galt bei manchen Leuten im Dorf als seltsam und schrullig, weil sie anders war. Einige bezeichneten sie gar als Kräuterhexe. Doch wenn jemand bei kleinen Wehwehchen oder Krankheiten Hilfe benötigte, die normale Ärzte ratlos machte, führte der Weg immer zu Esther. Viele Dorfbewohner wussten Esthers Heilkunst inzwischen zu schätzen.
Besonders gern half Esther den Armen, von denen sie niemals ein Entgelt für ihre Hilfe oder Heilung nahm, was sie deutlich von den Ärzten unterschied. Sie konnte sich das leisten, denn sie hatte reich geerbt. Außerdem schrieb sie Bücher über die Heilwirkung von Kräutern und die Selbstheilungskräfte der Menschen. Esther hoffte, den Menschen damit eine erfolgreiche Alternative zur herkömmlichen Medizin anzubieten, die ihnen eine neue Sicht auf den Menschen sowie seine Krankheiten vermittelte.
Emma und Ben mochten Esther gern, sie verbrachten viel Zeit in ihrem verwilderten Garten. Fasziniert lauschten sie ihren Erläuterungen über heilende Kräuter, wenn sie sich mal wieder die Bäuche mit den legendären Blaubeerpfannkuchen vollstopften.
Esther lachte gern. Sie verbreitete gute Laune, unterhielt ihre Zuhörer mit verrückten Geschichten und konnte die besten Kuchen backen. Das sah man ihr auch an, sie war rundlich und klein, dabei jedoch flink und beweglich.
Emma betätigte den rostigen Türklopfer in Form eines Drachenkopfes. Inständig hoffte sie, dass ihre Tante zu Hause war und nicht gerade im Wald frische Kräuter oder Pilze sammelte.
Doch sogleich ertönte die fröhliche Stimme: »Moment, ich komme!«
Mit lautem Knarren wurde die schwere Holztür geöffnet. Fips, Esthers kleiner Mischlingshund, sprang zur Begrüßung an den Freunden hoch. Einst hatte Esther Fips das Leben gerettet, seither wich ihr der treue Begleiter nicht mehr von der Seite. Die beiden verstanden sich ohne Worte, ein Blick genügte.
Ben und Emma traten ein und umarmten Esther herzlich. Die musterte Bens Wunde auf der Stirn. Dann hielt die Tante ihre Nichte ein wenig von sich weg, um sie anzusehen. Wieder einmal durchfuhr sie ein überwältigender Schmerz, weil Emma ihrer verstorbenen Tochter Leni sehr ähnelte. Nach all den Jahren fühlte Esther immer noch einen Stich im Herzen, weil sie ihren Mann Jamie und die kleine Tochter verloren hatte.
Emma las in den Augen der Tante, an wen diese erinnert wurde, drückte deshalb mitfühlend deren Hand.
Gemeinsam betraten sie die gemütliche Küche, die nach den Kräutern duftete, die überall zum Trocknen hingen oder lagen. Der intensive Geruch von Salbei und Thymian vermischte sich mit dem zarten Aroma von Lavendel, Zitronenmelisse und Minze.
Bücher sowie Kräuter waren im ganzen Haus verteilt. Es war sowieso ein Haus, in dem ein heilloses Durcheinander herrschte. Überall stapelte sich etwas oder lagen Dinge aus Esthers Sammlung herum. Dabei sammelte Esther einfach alles, konnte jedoch nichts wegwerfen! Schnell räumte sie ein paar Bücher, Holzstücke und Töpfe zur Seite, um drei Sitzplätze zu schaffen.
Ben grinste: »Ich weiß nicht, warum meine Mutter immer mit mir schimpft. So chaotisch wie bei dir sieht es bei mir längst nicht aus!«
Esther ließ sich durch diese Stichelei nicht aus der Ruhe bringen, zuckte stattdessen gelassen mit den Schultern.
Auf dem Herd köchelte eine Kartoffelsuppe, deren Duft verführerisch durch das ganze Haus zog. Ben und Emma lief das Wasser im Munde zusammen, und ihre Mägen begannen zu knurren. Schmunzelnd bot Esther den beiden etwas von der Suppe an. »Mit vollem Bauch lassen sich Probleme leichter lösen. Dass ihr etwas auf dem Herzen habt, sehe ich euren Nasenspitzen an. Zudem Bens Pflaster auf der Stirn. Was gibt es? Schießt los!«
Die beiden Freunde sprudelten mit der ganzen Geschichte heraus, während sie die Suppe aßen. Nachdem sie den seltsamen Bericht beendet hatten, schauten die zwei erwartungsvoll zu Esther. Sie war die einzige erwachsene Person, der man eine ebenso fantastische wie unglaubwürdige Geschichte von Elfen, einer uralten Prophezeiung, einem bösen Zauberer und geheimnisvollen Zauberbuch erzählen konnte.
Mit einem Seufzer lehnte Esther sich zurück, schloss die Augen und schwieg längere Zeit. Die Sekunden dehnten sich aus, die Stille wurde geradezu hörbar. Ben, ebenso Emma, wagten kaum zu atmen, so viel Spannung lag in der Luft.
Esthers Gedanken gingen auf eine Zeitreise in diese ferne Welt namens Fanrea. Schöne, aber auch schreckliche, angsteinflößende Momente tauchten in Sekundenschnelle aus den Tiefen ihres Gedächtnisses auf und überfluteten sie. Mit der Erinnerung kam die Furcht. Esther hatte die Gefahren kennengelernt und wusste, welche einen dort erwarteten. Ben nicht! Doch Esther konnte Ben verstehen, sie würde an seiner Stelle sogar genauso handeln.