Ben unterbrach Esther erneut: »Das stimmt zwar alles, aber was solltet ihr Kinder denn daran ändern?«
»Lass Esther doch endlich mal ausreden! Sei still, iss lieber deinen Kuchen!«, ereiferte sich Emma.
Esther seufzte und musterte die Freunde. »Esperanza wollte uns mit einem umfassenden Wissen über die Pflanzenwelt sowie deren Heilkraft beschenken. Anschließend sollten wir diese Kenntnisse den Menschen näher bringen.«
»Deshalb hast du deine Bücher geschrieben! Du möchtest die Menschen wachrütteln!«, rief Emma aufgeregt.
»Ja, es ist meine Aufgabe und Bestimmung, mit alternativen Methoden zu heilen, und ich liebe meine Berufung. Das Einhorn bat uns, ihm zu folgen, deshalb tauchten wir gemeinsam in das dämmrige Licht des Waldes ein.«
Ein fernes Donnergrollen riss Esther aus ihrer Erzählung, besorgt musterte sie den sich verfinsternden Himmel. Die dunklen Wolken erschienen ihr nicht natürlich, intuitiv spürte sie, dass etwas nicht stimmte. Verärgert stellte sie fest, dass sie sich dummerweise in Fanreas Schönheit verloren hatte, aber den Freunden keinerlei Hinweise auf die Gefahren gegeben hatte.
Als ein einzelner Donner ertönte, sprang Esther nervös auf. »Ich glaube, da zieht ein Gewitter auf. Kommt, wir gehen rein!«
Plötzlich knackte es im Unterholz. Das Geräusch wirkte ebenso laut wie bedrohlich, da ansonsten eine unnatürliche Stille eingetreten war. Es duftete intensiv nach Pfefferminze.
»Wieso ist es auf einmal so ruhig?«, fragte Ben leise.
Esther runzelte die Stirn. »Die Vögel zwitschern nicht mehr, das ist ein schlechtes Zeichen!« Voller Verunsicherung fragte sie sich, welche Bedeutung das Gewitter hatte.
Eine ungewöhnlich große Ratte huschte durch den Garten, blieb stehen und musterte die drei aus kalten, gelben Augen. Sie stand einfach nur da und starrte, bis sie sich abrupt umdrehte. Blitzschnell verschwand sie hinter dem Haus.
»Ihh! Ist die hässlich!«, rief Emma. »Bäh!«
»Ist doch nur eine Ratte. Die tut doch nichts«, beruhigte Ben seine Freundin.
»Die war riesig! Hast du ihren Blick gesehen?«
»Quatsch!«
Beunruhigt ging Esther Richtung Haus. »Kommt, Kinder, ihr müsst bald heimkehren, sonst werdet ihr pitschenass. Während eines Gewitters solltet ihr sowieso nicht draußen herumlaufen.«
In diesem Moment setzte das Gezwitscher der Vögel wieder ein. Esther stutzte, zog erstaunt die Augenbrauen hoch und sah sich um.
Emma hielt ihre Tante am Arm fest: »Du musst mir noch eine Frage beantworten: Was ist aus Agatha geworden? Du hast nie von ihr erzählt, gesehen habe ich sie auch noch nie.«
Esther seufzte. »Agatha! Hhmm, ja, Agatha. Was soll ich sagen? Ja, also …«
»Mensch, drucks nicht herum!«, bat Emma.
»Agatha ist dort geblieben.«
»In Fanrea?«, fragte Ben entgeistert.
»Ja, genau, sie ist in Fanrea geblieben. Agatha hat sich dort wohl gefühlt, zugleich das Leben in unserer Welt abgelehnt. Die Wesen der anderen Welt schenkten ihr Liebe, sie nahmen meine Freundin an, wie sie war, ohne Wenn und Aber. Hier jedoch, in unserer Welt, fühlte sie sich ungeliebt, ja, sogar überflüssig.
Ich konnte sie verstehen, deshalb habe ich ihr geholfen, die Dinge in unserer Welt zu regeln. Wir haben uns eine halbwegs glaubwürdige Geschichte ausgedacht, die sie in einem Brief an ihre Eltern niederschrieb. In diesem stand, dass Agatha weggelaufen war und nun glücklich in Amerika lebte.«
»Echt krass«, murmelte Ben, »einfach so abzuhauen!« Als er sich zur Tür umdrehte, stieß er dabei einen Bücherstapel um.
»Oh je, das Buch, das habe ich ganz vergessen, deswegen seid ihr doch hier! Los, Kinder, wir müssen hoch auf den Speicher.«
Emma beschwerte sich: »So ein Mist! Ich habe noch so viele Fragen zu dem Zauberbuch oder Fanrea.«
»Ich verstehe dich, Emma, aber ihr müsst gehen! Ich befürchte, dass das Gewitter bald hier ist. Kommt morgen noch einmal vorbei. Keine Zeit für Diskussionen, wir suchen nun das Zauberbuch!«
Emma lenkte ein: »Gut, dann erzählst du uns morgen den Rest. Was meinst du, Ben?«
»Joah!«
Das Zauberbuch
Da es auf dem Speicher keinen Strom gab, lief Esther in die Küche, um drei Kerzen samt Streichhölzern zu besorgen, die sie Ben reichte. Zunächst entzündete er Esthers ebenso Emmas Kerzen, dann erst die eigene, aber das Streichholz wurde schnell zu kurz, sodass das Feuer seine Finger berührte. Seltsamerweise empfand Ben keinen Schmerz! Irritiert starrte er die Hände an. Was hatte das zu bedeuten? Kopfschüttelnd und grübelnd folgte er den beiden.
Die flackernden Kerzenflammen fraßen zuckend die Dämmerung, die sich inzwischen im Haus breit gemacht hatte. Vorsichtig stiegen die drei hintereinander die knarrende Eichentreppe zum Dachgeschoss empor.
Oben angekommen, zog Esther einen verrosteten Schlüssel aus der Tasche ihres Kleides, mit dem sie die Tür öffnete. Laut quietschend ging diese auf. Der Geruch von Staub und alten Kisten mit vergessenen Dingen schlug ihnen entgegen.
Der Schein der Kerzen malte bizarre Schatten an die Wände. Die drei blieben zögerlich stehen. Esther betrat als erste den Raum, die beiden Freunde folgten gespannt.
Ben war immer noch verwirrt: »Eben, als ich das Streichholz angezündet habe, da …«
»Iiiiihhh!«, schrie Emma und sprang erschrocken zur Seite.
»Was ist los?«, fragte Ben nervös.
»Bäh, ach nichts, es waren nur Spinnweben!«
Esther ging weiter, es raschelte in den Ecken. Die Dunkelheit war unheimlich, dennoch lockte sie mit ihren Geheimnissen. Die Kerze hochhebend drehte Esther sich einmal im Kreis, auf der Suche nach einer ganz bestimmten Kiste: jene, in der das Zauberbuch lag.
Wieder raschelte es in der Dunkelheit, eine Gänsehaut überlief Emmas Körper. Kurz hielt sie die Luft an, zwang sich jedoch die aufsteigende Angst zu bekämpfen.
Bens Nackenhaare stellten sich hoch, als er versuchte, mit den Augen die Düsternis zu durchdringen. Er wollte sehen, was dort dauernd raschelte, aber ihm offenbarte sich nur ein heilloses Durcheinander: Kisten, Koffer, Tüten, Ledertaschen, alte Vasen, Flaschen in verschiedenen Größen, staubige Bücher, ausrangierte Lampen, zerbeulte Kochtöpfe, eine Puppe, von der Decke hängende Kräuter, ein selbstgebautes Puppenhaus, Holzskier an einer Musikbox. Die Unordnung war unbeschreiblich! Esther griff nach einem ausrangierten, dreiarmigen Kerzenleuchter.
»Wow, was für ein Chaos!«, staunte Emma.
Esther stimmte ihr zu: »Ja, hier atmen wir die stehengebliebene Zeit und den Staub des letzten Jahrhunderts ein! Es ist eine echte Rumpelkammer! Aber immer, wenn ich mir vornehme auszumisten, ist etwas anderes wichtiger.«
Mir ist eingefallen, dass ich das Buch nicht in eine Kiste, sondern in einen großen, braunen Überseekoffer gelegt habe. Gut versteckt, damit es nicht in falsche Hände gerät. Aber es ist so viel Zeit seither vergangen, dass ich mich nicht mehr erinnere, wo er steht. Wir müssen einfach den ganzen Speicher absuchen. Wir fangen da hinten in der Ecke an. Leuchtet mal dorthin mit euren Kerzen!«
Staub tanzte im spärlichen Licht der Flammen. Kisten wurden hin und her geschoben, mehrere kleine Koffer geöffnet, anschließend durchwühlt. Sie fanden ein Sammelsurium von Dingen, doch kein Zauberbuch. Enttäuschung machte sich breit.
Schließlich spürte Emma ein ungewöhnliches Kribbeln in ihren Fingern,