„Diese Broschüre habe ich zum ersten Mal vor über 50 Jahren gesehen.“ Neben Shane war eine Frau aufgetaucht. Sie wedelte mit dem Faltblatt, das er gerade entsorgt hatte. „Aber weißt du was? Bis heute warte ich darauf, dass ich irgendwo ein paar Kinder sehe, die sich mit Raubtieren vergnügen. Wahrscheinlich sind die paar Pandabären, die es noch gibt, nicht besonders daran interessiert, mit Menschen zu spielen. Von den Löwen ganz zu schweigen.“
Shane schaute sich die Frau genauer an. Sie war einen Kopf kleiner als er, trug ein buntes, weit geschnittenes Kleid und jede Menge goldenen Schmuck – Ketten, Ohrringe, Armreifen, die bei jeder ihrer Bewegungen ein metallisches Klimpern erzeugten. Obwohl ein purpurfarbenes Kopftuch den Großteil davon verdeckte, besaß sie zweifelsohne eine volle Haarpracht aus tiefschwarzen Korkenzieherlocken.
„Hi. Ich bin Faye“, sagte sie mit einem leichten Akzent, der Shane entfernt bekannt vorkam. Sie hielt ihm ihre armreifbewehrte Hand hin.
„Shane“, sagte Shane, schüttelte ihre Hand und brachte die goldenen Armreifen zum Klingen.
„Ich weiß“, lächelte sie.
„Sie wissen meinen Namen?“
„Das ist mein Job“, sagte Faye mit einem verschwörerischen Blinzeln. Shane war in seiner Situation kaum nach dummen Witzen zumute. Doch andererseits war er froh, einen Gesprächspartner gefunden zu haben, auch wenn es sich nur um eine skurrile alte Dame handelte. Er erzählte Faye, wie er zu der Broschüre gekommen war und dafür sein Auto verloren hatte.
„Und du hast kein Geld für die Reparatur?“
„Nicht genug. Bei Weitem nicht.“
„Hmm...“ Faye kniff die Augen zu und sah direkt durch Shane hindurch. „Das werden wir ändern. Komm mit.“ Sie griff Shane am Handgelenk und zog ihn mit forschen Schritten hinter sich her auf den Bürgersteig, wo ein Bus mit geöffneten Türen anscheinend nur auf die beiden gewartet hatte. Faye stieg ein und signalisierte Shane, ihr zu folgen.
Shane, der sich gerade fragte, ob er jetzt auch noch seinen Koffer verloren hatte, ergab sich der Situation und saß kurz darauf neben einer fremden Frau im Zigeuneroutfit, in einem Bus mit unbekanntem Ziel.
„Wohin fahren wir?“
Die Fahrt endete direkt am Meer.
Zischend öffnete der Bus seine Türen und entließ Shane und seine mysteriöse Begleiterin auf die feuchten Holzbohlen einer Promenade. Links neben ihnen, getrennt durch einen schmalen Streifen Sand, lag – der Ozean. Doch es war nicht der Ozean, den Shane gehofft hatte zu finden. Eher war er das genaue Gegenteil. Seine erschöpften Wellen spülten eine Mischung aus gelbstichigem Schaum und Zivilisationsmüll ans Ufer. Das Wasser war ein bleiches Grau, nichts reflektierend, den salzige Gestank von Algen und faulem Fisch ausdünstend, an dem sich nur die unzähligen Möwen mit durchdringendem Kreischen erfreuten. Eine monochrome Perspektive ohne Horizont, Wasser und Himmel verschmolzen zu einem nahtlosen Nichts.
Faye dagegen schien nichts zu vermissen. „Auf geht’s“ rief sie vergnügt und marschierte den knarzenden Holzsteg hinab, dessen Ende sich irgendwo in der Ferne zu einer dünnen Spitze verlor. Shane folgte ihren wehenden Gewändern, bemüht Schritt zu halten und gleichzeitig die spektakuläre Abwesenheit jeglicher Farbe zu bestaunen. Hier war die Natur ausgeblutet, Shane nur ein Statist in einem Schwarzweiß–Film.
Auf der rechten Seite des Stegs tauchte eine Ladenzeile auf. Oder das, was von ihr übrig geblieben war. In besseren Jahren hatten die Geschäfte vermutlich Strandbesucher mit Eiskrem, Sonnenöl oder Lesestoff versorgt. Nun befanden sich die Gebäude ausnahmslos in einem desolaten Zustand. Vernachlässigung hatte sie in leeräugige Ruinen verwandelt, die Fassaden verwittert, Fensterscheiben wahlweise verschwunden, zerstört oder mit Brettern vernagelt. Vereint nur noch im Zerfall, als wäre diese Ladenzeile ein enger Verwandter der Motels, nur eine Generation älter, ein Ausblick auf deren baldiges Schicksal.
Sie kamen an einem Lokal vorbei. Es warb mit dem Logo einer Fast–Food–Kette, die es bereits seit 15 Jahren nicht mehr gab. Letztes Beweisstück der einstmals florierenden Geschäftstätigkeit war eine verlorene Werbetafel, auf der das salzhaltige Klima von einem fröhlich angepriesenen BREAKFAST nur noch ein verstümmeltes „B E FA T“ übrig gelassen hatte.
Dann so etwas wie ein kleiner Jahrmarkt. Ein Dach, auf dem ein höhnisches Neonschild das Wort „Funhouse“ buchstabierte, ergänzt um ein fratzenhaft grinsendes Gesicht. Holzpferde starrten Shane mit toten Augen von den Überresten eines Karussells hinterher.
Mit zielsicheren Schritten steuerte Faye auf ein auffallend großes Gebäude zu. Über dem Eingang identifizierte es ein relativ gut erhaltenes Schild als „CASINO“. Hier und da war noch etwas von der ehemaligen Pracht zu erahnen, welches dieses Casino zweifelsohne einmal zu einem Anziehungspunkt vergnügungswilliger Städter gemacht hatte. Kupfergrüne Seepferdchen und reich verzierte Laternen flankierten die Giebel. Die gesamte Front war mit kleinen Scheiben in Kupferrahmen verglast, von denen sich jedoch keine mehr in einem intakten Zustand befand. Aus allen Ritzen des Gemäuers quoll Unkraut. Die Natur hatte sich daran gemacht, diesen Ort zurückzuerobern. Ein signalrotes Schild warnte vor dem Betreten, ein unpassend modernes Artefakt an rostigen Torpfosten.
„Fast am Ziel“, sagte Faye und würdigte das Casino keines Blickes. Sie ging weiter, bis die Reihe von Ruinen unterbrochen wurde von einem kleinen Verschlag, nicht viel größer als eine Garage. Nur eine blaue Tür hob sich vom Weiß des fensterlosen Betonwürfels ab. Auf die Wand hatte jemand ein großes Auge mit überlangen Wimpern gemalt. Darunter stand in ungelenk handgemalten Lettern: „Madam Marie. Wahrsagerin. Tarotkarten. Kristallkugel“.
Vor der blauen Tür blieb Faye stehen und zog an einer ihrer unzähligen Ketten einen Schlüssel hervor.
„Madam Marie, das bin ich“, lachte Faye, doch es schwang auch ein wenig Bedauern hinter der Fröhlichkeit in ihrer Stimme. „Wenigstens war ich das einmal.“ Sie drehte sich zu Shane um, der sich gerade fragte, ob es eine gute Idee gewesen war, Faye hierher zu folgen. „Glaubst du an das Übersinnliche?“
„Nicht wirklich.“
„Ich auch nicht.“
Faye, die echte falsche Wahrsagerin, drückte gegen die Tür. Sie öffnete sich mit einem durchdringenden Quietschen, ähnlich dem der Möwen. Shane folgte Fayes Stimme in eine abgestandene Schwärze, zu dunkel, um irgendetwas darin zu erkennen.
„Ob du es glaubst oder nicht – früher wimmelte es hier von Menschen. Vor allem an den Wochenenden konnte man kaum noch einen freien Platz am Strand finden. Sie kamen zum Spielen, Erholen, Baden, Flanieren. Die Lokale und Läden machten hervorragende Geschäfte. Und ich ebenso. An manchen Tagen haben sich hier lange Schlangen vor meiner Tür gebildet.“
Shane versuchte sich vorzustellen, wie ganze Familien sonntags an diesen Ort kamen, auf der Suche nach ein wenig Ablenkung vom freudlosen Alltag. Söhne und Töchter, die auf dem Karussell fuhren, in der Hand irgendeine Süßigkeit, die ihnen ihre Eltern in einem der nun zerstörten Läden gekauft hatten. Magische Glücksmomente, wie sie allein die Kindheit bot. Die Bilder hielten sich nur für einen Moment. Der Anblick des verlassenen Holzstegs mitsamt seiner Reihe toter Häuser war noch zu frisch in Erinnerung, um ihn mit einer heilen Bilderbuchnostalgie zu verdecken.
„Was ist passiert?“
Faye zündete einige Kerzen an. „Die Zeiten ändern sich. Und mit ihnen die Dinge. Niemand ist mehr an seiner Zukunft interessiert.“
Faye schloss die Tür, die gemeine Außenwelt war ausgesperrt. Das Kerzenlicht modellierte eine behaglich warmorange Umgebung. Flackernd schien es auf einen runden Tisch mit einer Häkeldecke, in dessen Mitte die außen beworbene Kristallkugel thronte. Neben ihr lagen zwei Kartenspiele. Die Wände waren fast komplett