Parallels. Sven Hauth. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sven Hauth
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750237810
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sich in dem Punkt, den ich in Kürze als meine Ecke adoptiert haben würde.

      Ich positionierte mich strategisch günstig im Türrahmen des Kopierraums. Von hier konnte ich nicht nur nahende Besucher aus zwei Richtungen frühzeitig erkennen, sondern wusste auch Pat in angenehmer Nähe. Der Blick durch das satinierte Glasfenster in ihr Büro erlaubte keine Details, doch der gezackte Schatten dahinter in Kombination mit der offen stehenden Türhälfte genügten als beruhigende Versicherung ihrer Anwesenheit.

      Die neue Aussicht bedurfte einiger Gewöhnungsminuten. Zu meiner Rechten überblickte ich den einen Flur, an seiner Seite ein gutes Dutzend gleich aussehender Türen, die zu den Büros der Professoren und Angestellten gehörten.

      Direkt vor mir gähnte die Leere des anderen Flurs, auf den ersten Blick identisch mit seinem rechtwinkligen Zwilling, dieselbe Länge, dieselben Türen und Scheiben, mit der Ausnahme dass sich an seinem Ende, mindestens 50 Meter entfernt, der Zugang zum Treppenhaus befand. Und gleich daneben, nur noch als heller Punkt erkennbar, der einzige Farbtupfer an den ziegelroten Backsteinwänden: der ausgebleichte Kunstdruck eines Salvador Dali–Gemäldes, gerahmt in einem geschmacklosen Scharlachrot. Auge in Auge mit zerschmelzenden Uhren, versuchte ich mich an den Titel des Bildes zu erinnern. Obwohl das Original ein oft gezeigtes Standardwerk war, gewissermaßen der Inbegriff des Surrealismus, gelang es mir nicht. Kein Wunder, dass mein Studium gescheitert war.

      Ich bemühte mich, eine möglichst unauffällige Haltung einzunehmen, als mir einfiel, dass ich immer noch den Kaffeebecher in der Hand hielt. Inzwischen hatte er sich merklich geleert. Schnell kippte ich den kalten Rest hinunter. Gar nicht so übel.

      Kaum hatte ich eine halbwegs bequeme Position gefunden, öffnete sich die Tür einer der Professorenbüros. Mit einer aufgerollten Zeitschrift in der Hand kam ein Mann den Gang hinuntergeeilt und steuerte zielstrebig den Kopierraum an. Mein erster Kunde. In Antizipation des Fremden beschleunigte sich mein Herzschlag auf das Doppelte.

      Während sich der Professor an mir vorbeizwängte, begrüßte ich ihn mit einem freundlichen Kopfnicken. Als Antwort erntete ich ein misstrauisches Stirnrunzeln. Er musste mich für einen Studenten halten, der gerade nichts Besseres zu tun hatte, als bei den Kopierern herumzulungern und Kaffee zu trinken, vielleicht sogar darauf zu warten, den Zahlencode eines unbedarften Professors auszuspähen, um kostengünstig politische Flyer zu duplizieren.

      Der Kaffee hatte mich hellwach gemacht. Zum ersten Mal nahm ich bewusst die Abfolge von Geräuschen wahr, die ich wegen ihrer ständigen Wiederholung schon bald nicht mehr bemerken sollte: ein hochfrequentes Quietschen, welches das Öffnen des Deckels begleitete, gefolgt von einem satten „Tumb“, wenn er wieder geschlossen wurde. Fünf Tastenklicks bei Eingabe des Codes, ein weiterer, der den Kopiervorgang startete. Das altbekannte Rumpeln.

      Während der Mann wartete, warf er mir einen zweiten Blick zu, nicht weniger abschätzig als der erste. Ich rang mir ein Lächeln ab, woraufhin er sich wieder abwendete. Zwei Minuten später war mein erster Besucher so grußlos verschwunden, wie er erschienen war.

      Ich wartete. Die Flure blieben leer. Eine innere Unruhe, an der sowohl das Koffein als auch ein Anflug von Gewissenhaftigkeit beteiligt waren, drängte mich zur Aktivität. Zum zweiten Mal an diesem Tag betrat ich den Kopierraum. Eine Weile stand ich verloren zwischen den beiden Maschinen.

      „Bitte Code eingeben“, zeigte der Kodak.

      „Code:“ forderte der Xerox, weit weniger höflich.

      Keinem Kopierer schien etwas zu fehlen. Ich suchte nach einer Beschäftigung, die meine Anwesenheit rechtfertigte. Zog die Papierschublade aus dem Xerox, um zu sehen, ob sie befüllt werden musste. Sie musste nicht. Tat dasselbe mit dem Kodak, mit demselben Ergebnis. Stand einen langen Moment dicht vor den hohen Fenstern, die einem mehr das Gefühl gaben, Außen statt Innen zu sein. Wischte nichtexistierenden Staub von den Plastikoberflächen.

      Nichts zu tun außer Nichtstun.

      Schließlich kontrollierte ich den Toner des Kodaks. Mit einer absurden Erleichterung stellte ich fest, dass der Behälter zwar nicht vollkommen leer, sein Füllstand aber bereits auf einem so niedrigen Niveau war, dass er einen Wechsel rechtfertigte. Ein wenig Übung für den Ernstfall würde nicht schaden.

      Ich nahm eine neue Tonerpackung aus dem Schrank und rief mir Pats vorgeführte Handgriffe ins Gedächtnis. Als erstes galt es, die alte Kartusche zu entfernen. Sie befand sich tief im Bauch des Kodaks, hinter einer Seitentür, eingezwängt zwischen Riemen und Zahnrädern, und konnte nur in einem bestimmten Winkel herausgezogen werden. Die Operation verlief problemlos.

      Die volle Kartusche musste im selben Winkel eingeführt werden. Sie war an ihrer Austrittsöffnung mit einer Schutzfolie gesichert, die man erst abreißen durfte, wenn der Behälter in seiner endgültigen Position eingerastet war. Nicht ohne Stolz gelang es mir beim ersten Versuch, die Kartusche an ihren Bestimmungsort zu manövrieren. Ich zog an der Lasche der Folie. Sie löste sich nicht. Ich zog kräftiger. Ohne Erfolg. Machte ich etwas falsch? Wie hatte Pat es gemacht?

      Auf der Verpackung war eine Abfolge von Zeichnungen abgebildet, auf denen ein dürres Strichmännchen die notwendigen Schritte demonstrierte. Soweit erkennbar, hatte ich es ihm gleichgetan, nur ohne das breite Grinsen auf dem Gesicht. Ich unternahm einen letzten Versuch, hockte mich vor die Maschine, packte die Lasche mit Daumen und Zeigefinger beider Hände und riss sie mit einem kräftigen Ruck zur Seite. Die Folie löste sich. Und mit ihr sprang die Kartusche aus ihrer Halterung. Wie gelähmt schaute ich dabei zu, wie drei Pfund feinstes schwarzes Pulver zu Boden rieselte und vor dem Kodak einen instabilen Kegel formte.

      Etwas änderte sich. Das Rieseln wurde langsamer. Es wurde nur langsamer. Denn der Pulverstrahl hatte immer noch dieselbe Dicke, die Kartusche war erst zur Hälfte geleert. Was als zu schnell gehende Sanduhr begonnen hatte, tropfte nun als zähflüssiger Wasserfall aus der Öffnung. Es war, als ob die gewohnte Schwerkraft nicht mehr galt, der leiseste Zweifel an der Realität. Ich glaubte, jeden einzelnen Tonerpartikel dabei beobachten zu können, wie er aus dem Plastikcontainer kullerte und schneeflockengleich zu Boden schwebte.

      Im nächsten Moment war ich der Partikel, eine beunruhigende Sekunde der Dissoziation, in der ich mich beim Beobachten beobachtete. Auf einer Meta–Ebene wurde ich mir eines auflodernden Wahnsinns bewusst. Ich wollte mich dagegen aufbäumen, doch ich war paralysiert. Eine fremdgesteuerte Figur, willenlos, abgelöst vom ursprünglichen Ich.

      Dann fügten sich die Dinge wieder zusammen. Alles sah aus wie zuvor. Trotzdem hatte ich das unbestimmte Gefühl, dass sich etwas permanent verändert hatte, dass ich nur einen Vorgeschmack auf etwas Gewaltigeres bekommen hatte.

      Ich stand auf, schüttelte den Kopf als trotzige Verneinung der Vorkommnisse. Es war nichts gewesen. Kleinlaut, die nun vollständig geleerte Kartusche in der Hand, ging ich ins Büro und erstatte Pat Bericht. Sie besorgte einen Handfeger, nicht ohne mich vorher mit einem Füllhorn aus Spott über mein handwerkliches Geschick zu überhäufen.

      Die Tonerepisode blieb die Ausnahme und geriet schon bald in Vergessenheit. Folgende Kartuschenwechsel – auch wenn sie, wie sich herausstellte, das anspruchsvollste Element innerhalb meines Aufgabenbereichs waren – verliefen ohne besondere Vorkommnisse. Alles in allem war meine neue Arbeit so unaufregend, dass Fototütenöffnen dagegen wie eine Achterbahnfahrt wirkte.

      Der Andrang auf die Kopierer variierte mit der Tageszeit. Zwischen den Unterrichtsstunden am Vormittag bildete sich schnell eine Schlange, die bis hinaus auf den Gang reichte. Besonders der Kodak war zu diesen Zeiten sehr gefragt und musste fast stündlich mit Toner und Papier versorgt werden. Mit fortschreitendem Tagesverlauf wurden die Besucher weniger, und der Strom der Studenten und Professoren, der eben noch eilig durch die Gänge gequollen war, versickerte zu einem dünnen Rinnsal. Waren die Kopierer versorgt, füllte ich das Überangebot an Zeit damit, die Namen–Code–Kombinationen von Pats Liste auswendig zu lernen, versorgte mich in ihrem Büro mit meinem neuen Lieblingsgetränk oder kultivierte das einfache Dastehen und Beobachten.

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