Parallels. Sven Hauth. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sven Hauth
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750237810
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      „Setz dich.“ Faye deutete auf einen der beiden beunruhigend instabil aussehenden Holzstühle. Den anderen schob sie an die Wand und benutzte ihn als Leiter. Shane beobachtete, wie sie sich auf die Zehenspitzen stellte und ein Panel in der holzgetäfelten Decke nach oben drückte und zur Seite schob. Kurz verschwanden ihre Arme bis zu den Schultern in der quadratischen Öffnung, dann war Faye wieder komplett, in ihren Händen ein seltsam geformter schwarzer Behälter. Faye schwankte, und für einen Moment sah es aus, als würde das zusätzliche Gewicht sie aus dem Gleichgewicht bringen, doch sie kletterte behände vom Stuhl und stellte das fremde Objekt auf den Boden. Im Kerzenschein erkannte Shane einen Gitarrenkoffer.

      Es hätte ihn nicht besonders überrascht, wenn Faye als Nächstes das Instrument herausgeholt und ein altes Zigeunerlied angestimmt hätte. Stattdessen setzte sich an den Tisch und nahm einen der Kartenstapel.

      „Wie wär’s? Möchtest du etwas mehr über dich erfahren? Die Karten lügen nicht.“

      Shane war gar nicht nach irgendwelchem Selbsterkenntnis–Hokuspokus zumute. Seine Gedanken galten seinem Auto – seinem ehemaligen Auto, nun im Besitz irgendeiner zwielichtigen Werkstatt, die wahrscheinlich bereits damit begonnen hatte, die besten Teile auszuschlachten.

      „Sollten wir nicht allmählich wieder zurück...?“

      „Wir machen die Schnellversion.“ Ein Fächer aus Tarotkarten breitete sich vor ihm aus. „Zieh eine.“

      Shane zögerte nur kurz. Bevor er das Spiel berührte, wusste er bereits, welche Karte ihn erwartete. Es würde das berühmteste aller Tarotbilder sein. Und das gefürchtetste. Der Tod. Denn war es nicht immer die Todeskarte, in jedem Buch, jedem Film, die der Held – geschockter Gesichtsausdruck inbegriffen – umdrehte? Eine geradezu klassische Situation, ein abgedroschenes Klischee der billigsten Sorte, eine abgenutzte Allegorie auf ihrer wilden Hetzjagd durch die Nacht, den Schädel verborgen im Schatten einer schwarzen Kapuze, auf ewig zu hungrig, auf ewig zu zeitig, unwillkommener Vorbote jedes tragischen Endes einer Geschichte – oder einer Reise.

      Er zog eine Karte aus der Mitte und drehte sie um. Statt Schwarz trug der Mann auf ihr einen purpurnen Umhang, in seiner Hand keine Sense, sondern ein goldener Becher, als Pferd ein Thron. Die Aufschrift identifizierte ihn als „König der Kelche“. Dies war kein Film, Shane kein Held.

      Fragend hielt er die Karte vor Fayes regungslosen Blick.

      „Und? Was bedeutet es?“

      Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Du weißt genau, was es bedeutet.“

      „Sollte ich?“

      „Es bedeutet nichts.“

      „Nichts?“ Was für eine Wahrsagerin war sie eigentlich?

      „Nichts.“

      „Aber irgend etwas muss sie doch bedeuten. Ist das nicht der Sinn des Tarots? Die Bedeutung?“

      Faye holte tief Luft, als bereitete sie sich darauf vor, einem begriffsstutzigen Kind zum wiederholten Male etwas Simples erklären.

      „Okay. Meinen Kunden hätte ich irgendetwas von einer den schönen Künsten zugetanen Person erzählen. Nach Außen hin ruhig, aber unter der Oberfläche sehr emotional. Das Ganze garniert mit ein paar bedeutungsschwangeren Handbewegungen. Vielseitig interpretierbare Aussagen, nichts Konkretes. Ich liefere ihnen die gute Show, für die sie ihre fünf Dollar bezahlen.

      Der Unterschied ist, dass die meisten von ihnen glauben, was ich ihnen erzähle. Dir dagegen“ – anklagend zielte ein beringter Finger auf Shanes Brust – „fehlt der Glaube an das Übersinnliche. Also hat die Karte auch keinen tieferen Sinn. Sie bedeutet, was du darin siehst. Nichts.“

      „Aber...“

      „Du willst Bedeutung? Gut.“ Sie näherte sich Shanes Gesicht und reduzierte ihre Stimme zu einem Flüstern. „Vielleicht ist es das Königsmotiv an sich, das wichtig ist.“ Nach dramatischen fünf Sekunden lehnte sie sich wieder zurück, ihre Stimme fiel zurück in den sachlichen Ton. „Vielleicht ist es aber auch etwas völlig anderes. Es hängt von dir ab.“

      Verärgert ließ Shane den König auf den Tisch fallen. Die Lust an irgendwelchen Spielchen war ihm endgültig vergangen, die ganze Vorstellung kam ihm nur noch lächerlich vor.

      Was machte er überhaupt hier, an diesem unwirtlichen Ort, zwischen einer Kristallkugel, Tarotkarten und ähnlichem esoterischen Humbug, gegenüber einer Amateurwahrsagerin, die offensichtlich keine Lust zum Wahrsagen hatte? Wenn Faye ihm auf ihre ganz spezielle Art irgendetwas mitteilen wollte, war sie gescheitert. Mit jeder Sekunde wuchsen seine Zweifel, dass von dieser Frau echte Hilfe zu erwarten war.

      Faye bemerkte seinen wachsenden Unmut. „Entspann dich. Um deine Reise fortzusetzen, werden wir uns weltlicheren Mitteln bedienen müssen.“ Sie wuchtete den Gitarrenkoffer aus der Decke auf den Tisch. Mit ihrem weiten Ärmel wischte sie eine beeindruckende Staubschicht von der Oberfläche, dann ließ sie die beiden Schlösser aufschnappen.

      Keine Gitarre. Auf rotem Samt lagen grüne Dollars. Einige von ihnen neuwertig, ordentlich gebündelt und mit Bauchbinden versehen wie frisch aus der Druckerei kommend. Die meisten jedoch gebraucht aussehend, zerknittert und durcheinander, dazwischen auch einige Münzen. Shane zählte mehr 100$ als 1$–Noten. Im Kopf schätzte er die Summe, die vor ihm lag. Es musste ein sechsstelliger Betrag sein.

      „Hiermit wird es kein Problem sein, dir ein neues Fahrzeug zu besorgen.“ Sie ließ den Deckel wieder zufallen. „Allerdings verlange ich dafür eine kleine Gegenleistung.“

      – 6 –

      Am nächsten Morgen stand ich um 8.58 Uhr an der Ecke 5–205/Kopierraum, den ersten Arbeitstag vor und eine kribbelnde Nervosität in mir. Die Antizipation des Ungewohnten.

      Pat saß bereits hinter ihrem Bildschirm, ihr Gesicht eine ungesunde Lichtmaske aus Leuchtstoffröhren, feuriger Morgensonne und fahlem Monitorschein. Missmutig tippte sie auf der Tastatur herum und warf mir zur Begrüßung ein knappes „Hey“ zu.

      Unschlüssig stellte ich mich neben ihren Schreibtisch und wartete auf weitere Anweisungen. Schließlich unterbrach sie ihre Arbeit, gähnte und streckte sich ausgiebig.

      „Tut mir leid, Kumpel, hab noch keinen Kaffee gehabt. Setz mal welchen auf.“

      Froh, eine Aufgabe zu haben, ging ich auf die Männertoilette nebenan und besorgte eine Kanne Wasser. Fünf Minuten später war aus dem Wasser frischer Kaffee geworden. Pat stellte einen Becher vor mich. Ich wedelte abwehrend mit den Händen, doch bevor ich es verhindern konnte, hatte sie ihn randvoll geschenkt.

      „Nein, nein. Danke.“

      „Doch, doch. Ich habe doch gesagt, ich werde dich daran gewöhnen.“

      Pat füllte ihren Becher und nahm laut schlürfend einen ersten Schluck, als würde sie einen teuren Wein verkosten.

      „Nicht schlecht. Aber das nächste Mal bitte ein wenig stärker.“

      Den dampfenden Becher in der Hand stützte sie ihre Ellenbogen lässig auf die untere Hälfte der Eingangstür und schaute der zunehmenden Aktivität der eintrudelnden Studenten zu. Ich stellte mich neben sie und beobachtete die kleine Formation Luftblasen, die auf der schwarzen Oberfläche in meinem Becher trieb. Pat schaute mich amüsiert von der Seite an. „Nur Mut, er wird dich nicht umbringen. Du hast ihn schließlich selbst gebrüht.“

      Aus Höflichkeit nippte ich vorsichtig am Kaffee. Im ersten Moment gab es nur heiß und bitter. Doch dann kristallisierte sich so etwas wie ein würziger Nachgeschmack heraus. Nicht gänzlich unangenehm. Allerdings viel zu intensiv.

      Pat hatte bereits mehr als die Hälfte ihres Bechers geleert und war merklich gesprächiger geworden. Sie nickte in Richtung des ansehnlichen Papierstapels, der sich neben ihrem Computer türmte.

      „Den ganzen Mist muss ich heute noch abschreiben“, schnaubte sie. „Zu Semesterbeginn ist