Noch ein Schreibtisch, noch ein Computer. Nur dass hinter diesem Monitor eine dunkelhaarige Frau saß – P. Norris? – und eifrig auf der Tastatur klapperte. Ihr Blick wechselte ständig zwischen dem Monitor und einer Art Greifarm, der ein Blatt Papier hielt.
„Hallo?“
Die Frau warf mir einen flüchtigen Blick über den Rand ihrer Brille zu.
„Was kann ich für dich tun?“, fragte sie, und es klang nicht so, als ob sie es wirklich wissen wollte. Sie fing bereits wieder an, weiterzuschreiben.
„Hier steht, dass Sie eine Aushilfe suchen.“ Ich schwenkte den Zettel von der Pinnwand. „Ich wäre interessiert.“
Damit schien ich einen Bruchteil an Interesse geweckt zu haben. Sie unterbrach ihr Tippen ein zweites Mal, blies sich eine schwarze Locke aus der Stirn und musterte mich genauer.
„Komm rein. Musst die Tür von Innen aufmachen.“
Ich tastete nach dem Türknopf und schaffte es schließlich, den unteren Türteil umständlich von Innen zu entriegeln. Mit einem energischen Heranwinken beorderte mich Mrs. Norris in ihr Reich.
Das Büro, das ich betrat, hätte in keinem größeren Kontrast zum kargen Vorzimmer stehen können. Zwei seiner Wände waren von Boden bis Decke verglast. Die grifflosen Fenster boten eine spektakuläre Aussicht auf den betriebsamen Campus und ließen den Raum am üppigen Frühlingslicht teilhaben.
Das Weiß der beiden übrigen Wände war größtenteils verdeckt von einem großen Terminplaner, einer Sammlung von aus Zeitungen ausgeschnittenen politischen Karikaturen und diversen Postern. Eines zeigte die dramatische Großaufnahme eines Footballspielers im Moment der Ballannahme. Ein anderes das scherenschnittartige Profil eines Mannes vor einem Wachturm. Darunter der kryptische Satz „POW*MIA – You are not forgotten“.
Unter dem Terminplaner befand sich ein ähnlicher Tisch wie im Vorraum, dieser jedoch komplett in Beschlag genommen von einem zweiten, größeren Drucker, daneben ein Mikrowellenherd, Plastikbesteck, eine geöffnete Schachtel Filtertüten, Servietten und eine Monatspackung Kaffeeweißer. Kein Wunder, dass die Kaffeemaschine ins Vorzimmer ausquartiert worden war. Dies war kein einfaches Büro, eher eine randvolle Kombination aus Küche, Wohn– und Arbeitszimmer. Überall stand, hing, lag etwas. Das Zimmer eines Menschen, der viel Zeit in diesen Räumlichkeiten zubrachte, über die Jahre seine Spuren hinterlassen und ihn zu einer Alltagsoase umdekoriert hatte. Das Zimmer von
„Patricia Norris.“ Sie streckte mir ihre Hand entgegen. Ich schüttelte sie. „Ich lass die untere Hälfte immer zu“, erklärte Mrs. Norris mit einem Nicken in Richtung Tür. „Damit hier nicht jeder Trottel rein– und rauspaziert. Nimm Platz.“
Ich zog einen klapprigen Drehstuhls vor Mrs Norris’ Tischkante, an der eine Begrenzung aus benutzten, mit dem Logo des College verzierten Kaffeebechern, einem blühenden Kaktus und einem Halbkreis vergoldeter Fotorahmen den Beginn ihrer Privatzone markierte. Dahinter spiegelte der Schreibtisch eine verkleinerte Version des Büros wieder; seine Oberfläche war kaum noch sichtbar, begraben unter den Utensilien globaler Bürokultur – Tastatur, Telefon, Büroklammern, Locher, Bleistifte, Kugelschreiber, Radiergummis.
Durch die neuartige Situation ohnehin mit einer irritierenden Unruhe vorbelastet, suchten meine Blicke Halt im Chaos, einen einzelnen Fixpunkt, irgendetwas. Ich entschied mich für die Fotorahmen.
Mrs. Norris bemerkte meinen starren Blick und verwechselte ihn mit Neugier.
„Meine Kinder.“
Wie zum Beweis drehte sie einen Jungen und ein Mädchen um, typische Jahrbuchfotos typischer Teenager. „Daddy hat sich schon vor einer Weile aus dem Staub gemacht. Gott sei Dank.“
So unvermittelt wie der Ton ihrer Stimme von mütterlichem Stolz zu zynischer Verachtung wechselte, wurden aus den typischen Teenagern Scheidungsopfer. Mehr als ein verlegenes Nicken fiel mir zu dieser unerwartet persönlichen Information nicht ein.
„Wie auch immer...“ Mrs. Norris lehnte sich zurück und schaute leicht amüsiert. „...du willst also wirklich hier arbeiten?“ Irgendwie schaffte sie es, die Wörter ’wirklich’, ’hier’ und ’arbeiten’ gleichermaßen zu betonen.
Ich nickte ein zweites Mal, doch diesmal war es ein entschlossenes Nicken, keines der Wortlosigkeit.
„Ich hoffe, dir ist klar, dass diese Stelle ziemlich schlecht bezahlt wird? Nur der Mindestlohn. Und der Job ist nicht besonders aufregend.“
Nicht besonders aufregend. Das klang gut.
„Das macht nichts, Mrs. Norris, ich ...“
„Nenn mich Pat, wenn du mit mir klarkommen willst.“
Sie zeigte auf die geöffnete Tür zu ihrem Büro. Darauf klebte ein kopiertes DIN A4–Blatt mit der comichaften Zeichnung eines Mannes. Mit weit aufgerissenen Augen und abstehenden Haaren saß er vor einer Kaffeetasse, aus der ein Blitz direkt in seine Nase fuhr. „Kaffee ist meine Liebingsdroge“, stand in großen Blockbuchstaben unter dem Bild.
„Das ist die Wahrheit“, sagte Pat, nur halb im Spaß. „Ich hoffe also, du bist Kaffeetrinker, sonst kann ich mit dir nicht viel anfangen.“
Ich war keiner. War nicht einmal im Besitz einer Kaffeemaschine. Würde es meine Chance auf den Job reduzieren, wenn ich es zugeben würde?
„Um ehrlich zu sein...“
„Kein Problem. Ich bringe dich schon auf den Geschmack.“ Sie prostete mir mit einem der Becher zu. „Ohne Kaffee geht hier gar nichts.“
Ich versuchte, das Gespräch wieder auf Kurs zu bringen und lieferte eine Schnellfassung meines bisherigen Werdegangs, der hauptsächlich aus einem abgebrochenen Studium der Kunstgeschichte bestand.
„Und eine anspruchslose Aufgabe würde dich nicht langweilen?“
„Im Gegenteil.“
„Dann habe ich vielleicht genau das Richtige für dich. Ich brauche jemanden dafür“. Sie deutete mit dem Daumen rechts neben sich, wo sich nur die Wand mit dem Wochenplaner befand. Suchte Pat jemanden, der ihre Termine organisierte? In die kurzzeitige Stille trat ein gedämpftes Rumpeln, wie ein weit entferntes Gewitter. Dann verstand ich, dass sie den Raum auf der anderen Seite der Wand meinte. Den Raum schräg gegenüber ihres Büros, aus dem ich bei meiner Ankunft die mechanischen Geräusche gehört hatte.
„Der Kopierraum“, sagte Pat, und löste das Rätsel um die Geräuschquelle. „Hier ist das Problem. Offiziell bin ich für die Kopierer da drin verantwortlich. Gleichzeitig muss ich aber meine Schreibjobs abarbeiten. Und du kannst wetten, sobald ich anfange, was zu schreiben, geht einer der blöden Maschinen das Papier oder der Toner aus. Dann darf ich hier alles stehen und liegen lassen und den Mechaniker spielen.“
Pat pausierte kurz, als eine Studentin mit einem Stapel Papier unter dem Arm auf dem Gang vorbeiging. Nur wenig leiser fuhr sie fort.
„Schlimmer noch, die Leute wissen nicht mal, wie man einen Kopierer bedient. Trotz der übergroßen Schilder, die ich da drinnen aufgestellt habe. Aber lesen scheint bei denen nicht beliebt. Resultat: Sie kommen bei mir angejammert, und ich muss sie an die Hand nehmen und ihre Kopien für sie machen. Statt mein Budget für Bürokrempel auszugeben“ – sie deutete auf ihren Schreibtisch –, „stelle ich dieses Jahr lieber jemanden ein, der mir die Idioten vom Hals hält. Einen Babysitter für die Kopierer und vor allem für ihre Benutzer.“
Kopierer also. Warum nicht.
„Wie gesagt, reich wirst du davon nicht, aber wenn du trotzdem Lust hast – also ehrlich gesagt wäre ich sehr froh, wenn mir das jemand abnimmt.“
Sie zog ein zerknautschtes Päckchen Marlboros aus ihrer Gesäßtasche.
„Ich geh mal nach unten, eine rauchen. Inzwischen passt du auf mein Büro auf und überlegst, ob du den Job wirklich willst.“
Pat