In einer ebenso psychoanalytisch inspirierten Intervention zur kulturellen Repräsentation des Holocaust hat die nordamerikanische Literaturwissenschaftlerin Karyn Ball darauf hingewiesen, dass die Bilder einer kulturellen Gedächtnisarbeit12 – und als solche sind Stereotypen und andere kulturelle imag(in)es ja durchaus zu klassifizieren – auch mit dem narzisstischen Ich-Ideal eines Kollektivs zusammenhängen, dessen Supplement sie darstellen:
In his Introduction: On Narcissism (1914), Freud describes the emergence of an ideal ego as a puerile and idealized self-image that orients self-love (primary narcissism). He also refers to the subsequent emergence of a secondary-narcissistic ego-ideal as the disciplinary self-standard precipitated by the subject’s encounter with and absorption of the critical gaze of others. The concept of the ego-ideal may help us to understand individual and collective investments in particular memories or images […] as subject formations that are responsive to social standards. Extrapolating from Freud’s theorization of the ego-ideal, I would therefore like to suggest the companion term memory-ideal […].13
Dies passt nicht nur zum Konzept des Fetischismus bei Bhabha, sondern auch zur weiter oben referierten Idee, dass stereotype imag(in)es eher Mittel der Selbstverständigung14 einer Kultur denn deren Fremderfahrung darstellen. Das bedeutet freilich auch, dass diese Bilder phantasmatisch15 sind und nicht durch ‚Überprüfung‘ an einer wie auch immer gearteten historischen ‚Wirklichkeit‘ ‚korrigiert‘ werden können, zumal sie auch – von einem Wiederholungszwang getrieben – äußerst repetitiv sind. Wie bereits vorher festgestellt wurde, zeichnen sie sich weniger durch einen kognitiven als vielmehr einen affektiven Wert aus und sind als Diskurselemente mehr ein Glaubenssystem als überprüfbares Wissen – und, folgt man Bhabha, in ihrer internen epistemologisch-psychologischen Struktur ambivalent und widersprüchlich.16
In dieser postkolonial-dekonstruktivistischen Neuformulierung erweist sich das Stereotyp als anschlussfähig an weitere Kernthesen Bhabhas, die in den viel strapazierten Termen Hybridität und Mimikry kristallisierten. Letztere fasst der Theoretiker in seinem Aufsatz Of Mimicry and Man: The Ambivalence of Colonial Discourse17 als Bewegung, mit der die Kolonialisierten die Verhaltensvorgaben ihrer Kolonialherrn erfüllen und gleichzeitig hintertreiben:
[…] then colonial mimicry is the desired of the reformed, recognizable Other, as a subject of a difference that is almost the same, but not quite. Which is to say, that the discourse of mimicry is constructed around an ambivalence; in order to be effective, mimicry must continually produce its slippage, its excess, its difference.18
Diese subversive (und letztlich vergebliche?) Bewegung der Mimikry, die nie an ihrem Ziel ankommt, aber letztlich auch die scheinbar so feste Identität der Kolonialherrn unterminiert, hat Ute Weber in ihrer Monografie zu Genderkonstruktionen im indo-englischen Kolonialroman wie folgt kommentiert:
Die Ambivalenz dieses Konzepts besteht darin, dass es sowohl Ähnlichkeit (der Kolonialisierte wird wie der Kolonialherr – nämlich ‚anglisiert‘) als auch Nicht-Ähnlichkeit (aber nicht ganz – nämlich nicht ‚englisch‘) umfasst. Das Imitat muss hinsichtlich seines Status, seiner Rechte und Freiheiten von dem Original unterscheidbar bleiben und wirft damit auch die beunruhigende Frage nach der Definition und Identität des Originals auf – ‚was macht das typisch Englische aus?‘. Aus der Ähnlichkeit wird immer auch eine Bedrohung abgeleitet und so wird der Imitator häufig zum Gegenstand von Parodie und Spott erklärt.19
Im Folgenden arbeitet Weber Unterschiede zu herkömmlichen Konzeptionen des Eigenen und des Anderen heraus. Bei Bhabha könne die Fremdzuschreibung nie so wirkungsträchtig (und als ‚Einbahnstraße‘) wie etwa in der (Foucault orthodoxer folgenden) Konzeption des Orientalismus bei Said ihre Definitionsmacht ausspielen, sondern sie zeigt sich in der Definition des Eigenen und seiner Übertragung auf den Anderen wie bereits angedeutet als instabil und latent bedroht:
Bhabha unterscheidet nicht zwischen einem Selbst und einem Anderen, sondern zwischen einem Selbst und seinen Doppelgängern; nicht zwischen einer heimischen und einer fremden Kultur, sondern zwischen einer Mutterkultur und ihren Bastarden […]. Entgegen den Thesen Saids geht Bhabhas Konzept der Hybridität davon aus, dass der Kolonialherr nie die vollkommene Kontrolle über den kolonialen Diskurs besitzt. Jede Vorstellung, die er dem Kolonialisierten vermittelt, wird im Lichte der Kultur des Anderen wiedergeboren, erneuert und uminterpretiert, und ist so aus der Sicht des Kolonialherrn immer bis zu einem gewissen Maße gefährdet.20
Dieses Beharren auf die im System der Stereotypisierung angelegte Instabilität der oktroyierten Bilder und die Absage an deren totale Kontrollmacht als Diskurs ist vielfach als optimistische Wendung im Denken Bhabhas (gegen Said21) interpretiert, aber auch für ihre philosophische Naivität kritisiert22 worden – steht doch den Kolonisierten mit der industriellen Moderne des ‚Westens‘ ein umfassenderes Unterdrückungssystem gegenüber, das nicht nur auf der soft power kultureller Bilderwelten, sondern vor allem auf Administration und ökonomischer Ausbeutung, Disziplinarsystemen, Polizei- und Militärapparaten beruht. Ohne hier auf diese gewiss berechtigte Kritik umfassend eingehen zu können, soll doch noch im Folgenden gezeigt werden, in welchen scheinbar ‚unkolonialen‘ Texten wir Verfahren der Mimikry und Identitätsdestabilisierung überraschend begegnen, womit sich das ursprüngliche Unterfangen – die Fixierung des Eigenen und des Anderen im Stereotyp – nachhaltig und mit unleugbarer Didaxe unterminiert zeigt. So gesehen wird damit auch die Opposition von ‚wahrer‘, ‚authentischer‘ Identität und ‚falschen‘ Stereotypen dekonstruiert: vielmehr zeigen sich beide als – ambivalente und widersprüchliche – Effekte von Sprache bzw. Repräsentation.
8. Fallbeispiel: Mimikry & Ambivalenz in Ferdinand Kürnbergers Der Amerikamüde (1855)
Vieles, was hier in Zusammenhang mit Homi Bhabha formuliert wurde, kann als fundamentale Hinterfragung des Aachener Projekts einer „komparatistischen“ Imagologie verstanden werden. Zur Verteidigung jenes Unternehmens muss allerdings hinzugefügt werden, dass es insbesondere im Bereich der Reiseliteratur durchaus eine große Menge an affirmativen Texten gibt, die versuchen, die Ambivalenzen der Selbst- und Fremdbildkonstruktionen, des Eigenen und des Fremden, des sprechenden Subjekts und des besprochenen Objekts zusammen mit den Widersprüchen und Aporien, die von der ihnen zugrunde liegenden Spannung von Angst und Begehren herrühren, ruhig zu stellen. Ihnen gegenüber situiert sich freilich auch eine Klasse literarischer Texte, die jenen problematischen Repräsentationsapparat produktiv machen, indem sie ihn zu hintertreiben versuchen, was sie in eine überraschende Nähe zu Bhabhas Theoriegut rückt.
Das im Folgenden skizzierte Fallbeispiel präsentiert ein interessantes und unerwartetes Fundstück: Ferdinand Kürnbergers Roman Der Amerikamüde1 von 1855 fokussiert in satirischer Form auf die politischen Frustrationen der Restaurationszeit in Österreich und Deutschland, indem er seinen Protagonisten, den Schriftsteller Moorfeld,2 als Auswanderer und Möchtegern-Farmer nach New York und Ohio schickt – ein durchaus zeitgemäßes Schicksal. Es wird dies freilich ein Erlebnisparcours fast im Stil Karl Mays, hatte doch der Autor selbst die Vereinigten Staaten nie betreten: eine zunehmend anti-utopische Rundreise, die Moorfeld letztlich wieder zum Ausgangspunkt zurückführt und ihn zum enttäuschten Heimkehrer macht, wie schon der Titel des Romans suggeriert.
Durch den Text zieht sich eine dichte Auseinandersetzung mit ethnisch/national kodierten Bildern der kulturellen Differenz zwischen ‚den Amerikanern‘ und ‚den Deutschen‘,3 die sich bereits im initialen Kontakt des Protagonisten mit seinem New Yorker Quartiergeber Staunton und dessen Familie anbahnt (AM, Kap. I.2ff.) Gleichsam am Rande dieses Mikrokosmos kommt es aber auch zu einer weiteren bedeutungsträchtigen Begegnung mit dem Hausdiener, einem afrikanischstämmigen Sklaven: Moorsfelds „Bedienung“, so heißt es, „lag in Jack, des Negers, Händen. Diese Person hätte ihm freilich nichts mehr als eine Maschine sein dürfen, wenn er amerikanisch korrekt dachte. Aber so dachte er nicht. Zwischen ihm und dem Wollkopf spann sich manch zarter Faden“ (AM 88). Es ist ein „Charakterzug von satirischer Laune“ (ebd.), der dieses seltsame