Auffällig ist vor allem aber, dass die Willkürlichkeit der Stereotypen doch einigen fest gefügten Redefiguren folgt.9 So erscheinen beherrschte Ethnien aus der Sicht einer hegemonialen Kultur nachgerade uniform als ‚faul‘, wenig(er) intelligent, rückständig, moralisch fragwürdig, kurzum: der Erziehung durch den Hegemon bedürftig – egal, ob von Finnen im zaristischen Russland, Afrikanern oder Indern im British Empire oder Bosniern in Österreich-Ungarn oder Jugoslawien die Rede ist.10 Jene Topoi wirken wie virtuelle Eröffnungszüge auf dem Schachbrett kultureller Narrative und politischer Rhetorik, die in einer bestimmten historischen Situation aufgerufen werden – aber auch deaktiviert werden können, wenn sich die ideologische Motivation ändert.11 Diese scheinbar willkürliche De- und Rekodierung des Anderen erfolgt in Form eines „Blickregimes“12 bzw. im Rahmen einer „Bildpolitik“ (Mahasweta Sengupta spricht von einer „tyranny of representation“),13 die kulturwissenschaftlich als diskursive Formation beschreibbar ist. Dies könnte nun in einer Form geschehen, die weitgehend dem von Joep Leerssen vorgeschlagenen Arbeitsprogramm14 für eine künftige Imagologie folgt:
„literature (as well as more recent poetically-ruled and fictional-narrative media such as cinema or the compic strip) is a privileged15 genre for the dissemination of stereotypes“ – Literatur wird damit zu einem geeigneten Medium zur Erforschung von „long-durée topics“ wie etwa nationaler Stereotypen;
„images work […] primarily because of their intertextual tropicality. They […] obtain familiarity by dint of repetition and mutual resemblance.“
„Imagology is concerned with the representamen, representations as textual strategies and as discourse“;
„its aim is to understand a discourse of representation rather than a society“.16
Weiters gelte die Unterscheidung zwischen „the spected“ and „the spectant“, die immer zusammen zu sehen seien: „The nationally represented (the spected) is silhouetted in the perspectival context of the representing text or discourse (the spectant).“
„Imagology addresses a specific set of characterizations and attributes“, die in ihrer Allgemeinheit nicht überprüfbar sind und sich als ‚Fakten‘ gerieren: „These are here called imaginated.“ (Z.B. der Satz: „The French are freedom-loving individualists.“)
„The first task is to establish the intertext of a given national representation as trope.“
„The trope must also be contextualized within the text of its occurrence.“
„Historical contextualization is also necessary.“
Die hier vorgeschlagene „pragmatisch-funktionalistische Perspektive“17 für eine literatur- und kulturwissenschaftliche Imagologie zeichnet sich also durch folgende zentrale features aus:
1 Sie vermeidet die Mentalismus-Problematik, indem sie sich auf kulturelle Repräsentationen bezieht, und sich damit für eine undogmatische (und doch potenziell auch für Sozialpsycholog/inn/en und Anthropolog/inn/en anschlussfähige) Version des Konstruktivismus entscheidet.
2 Dies hat auch zur Konsequenz, dass die imag(in)es eher als eine kulturelle Rhetorik bzw. Grammatik gefasst werden denn als mentale Repräsentationen; sie sind daher im Rahmen einer Topik beschreibbar.18
3 Die psychische und kognitive Wirkungsweise der Stereotypen bleibt den damit befassten Fachdisziplinen überlassen, wobei mit der Dynamik von Angst und Begehren und dem freudianischen Moment des Narzissmus auch für die Kulturwissenschaften eine wichtige Arbeitshypothese gewonnen scheint, die sich damit trotz ihrer narratologisch-konstruktivistischen Ausrichtung nicht prinzipiell einer plausiblen psychologischen Konzeptualisierung der Repräsentationen widersetzt.
4 Welleks Vorwurf der Eliminierung der ästhetischen Besonderheit des einzelnen Texts zugunsten des Kontexts wird damit entkräftet, dass jeweils beide mitgedacht werden in einer Auffassung von Literatur, die diese als Möglichkeit der Affirmation wie der Subversion sieht und Ambivalenzen nicht begradigt, sondern zur Sprache bringt.19
5 Hier gilt es auch, eine weitere Anregung Leerssens in Bezug auf einen „pragmatic turn“ aufzugreifen und im Rahmen künftiger sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung auf den Umgang der Rezipien/inn/ten mit den Stereotypen zu achten und damit gewissermaßen auch auf deren Rezeptionsästhetik.20
Wenn man auf die systemischen Zusammenhänge der Dissemination der Bilder fokussiert, könnte man hier wohl auch mit Pierre Bourdieu von einer Bildökonomie sprechen – in Anbetracht der Tatsache, dass die stereotypen imag(in)es als Bestandteil von publizierten Texten auf einem kulturellen Markt um Leser/innen-Zuspruch werben und in einem eigentümlichen Verhältnis zu einer ‚Volkswirtschaft‘ kursieren, die Menschen als Produzent/inn/en und Konsument/inn/en nicht nur kultureller Differenz, sondern auch den Hierarchisierungen von wirtschaftlichem Erfolg und Marktzyklen – kurzum: einer Sozio- und Kulturökonomie21 – unterwirft. Exemplarisch hat dies der deutsche Afroromanist János Riesz formuliert: „Der Kampf um das erwünschte Bild (image) findet in allen Lebensbereichen statt: politisch ist er ein Teil eines globalen Machtkampfes, ökonomisch […] ein wichtiger Teil unserer ‚freien Marktwirtschaft‘, Teil des Kampfes um Marktanteile […]“.22 Hier mag ein kurzer und fast schon abgeschmackter Blick in die Medienlandschaft genügen, um zu zeigen, dass Stereotypen nicht nur (wenn auch ambivalente) rhetorische Mittel der politischen Legitimation, sondern ebenso Waren sind; sie appellieren konsumistisch an die narzisstische Spannung von Angst und Begehren, die sie letztlich auch hervorgebracht hat.
Hier ist nun der Punkt, um den Kolonialismus-Faden des letzten Kapitels (A.1) wieder aufzugreifen. Auf dem verbliebenen Raum wäre zu fragen, wie die in der Diskussion gewonnenen Erkenntnisse und Resultate – so provisorisch sie mitunter auch sein mögen – auf die anschließenden Fallstudien umzulegen wären. In diesem Sinne soll ein vorläufiges Arbeitsprogramm formuliert werden.
10. Coda: Mögliche Analyse-Kategorien für den (k.u.k.) Kolonialdiskurs
We must take stock of the nostalgia for empire, as well as the anger and resentment it provokes in those who were ruled, and we must try to look carefully and integrally at the culture that nurtured the sentiment, rationale, and above all the imagination of empire. And we must also try to grasp the hegemony of the imperial ideology, which by the end of the 19th century had become completely embedded in the affairs of cultures whose less regrettable features we still celebrate.1
Trotz der Tatsache, dass der sog. „habsburgische Mythos“ in der Literatur häufig erst a posteriori formuliert worden ist,2 ist er – wie aus dem bisher Gesagten abgeleitet werden kann – als imperial(istisch)e Selbstrechtfertigungsstrategie für innere und äußere Kolonisation beschreibbar. Und, wie das obige Zitat von Edward Said im Rahmen der britischen und französischen Imperien des 19. Jahrhunderts ausdrückt: Eine ausgewogene Lektüre der habsburgischen Kultur/en des selben Zeitraums sollte nicht nur den hegemonialen Diskurs lesen, sondern auch das, was ihn ermöglichte, und ebenso das, was ihm im Inneren und Äußeren Widerstand leistete3 – im Sinne einer Bestimmung postkolonialer Kritik als Lektürepraxis:
[…] postcolonial criticism can still be seen as a more or less distinct set of reading practices, if it is understood preoccupied principally with analysis of cultural forms which mediate, challenge or reflect upon the relations of domination and subordination – economic, cultural and political – between (and often within[!]) nations, races or cultures, which characteristically have their roots in the history of modern European colonialism and imperialism […].4
Dies entspricht in etwa dem, was schon Edward Said in einer musikologischen Metapher „kontrapunktisches Lesen“ nannte, dessen mehrschichtige Bedeutung eine Zusammenschau der einschlägigen Stellen in Culture