Sag mir, was du wirklich meinst. Oren Jay Sofer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oren Jay Sofer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783867813693
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Verletzlichkeit. So vieles in unserer Gesellschaft fördert nicht die Art von Entspannung, nach der sich unser Organismus sehnt: das Wohlgefühl warmer sozialer Kontakte und das Gefühl, einen Platz zu haben. Mir ist es wichtig, dass wir unsere individuelle Erfahrung im Kontext der größeren Strukturen unserer Gesellschaft verstehen, sonst neigen wir dazu, all unsere Herausforderungen zu persönlich zu nehmen und zu denken, dass wir irgendwie schuld daran seien.

      Wenn wir bedenken, wie wenig unsere moderne Kultur durch ein Gefühl von Gemeinschaft und Zugehörigkeit gekennzeichnet ist und wie wirtschaftlicher Druck die Zeit zum Aufbau einer gesunden Bindung zwischen Eltern und Kindern auf ein Minimum reduziert, ist es ganz klar, dass wir uns nicht entspannt und sicher fühlen! Vielleicht haben wir einen Mangel an Sicherheit aus negativen Erfahrungen internalisiert, die auf unserem Geschlecht, unserer sexuellen Orientierung, ethnischen Zugehörigkeit, sozialen Schicht oder einem anderen soziokulturellen Merkmal basieren. Es ist wichtig herauszufinden, an welchen Stellen wir Unterstützung brauchen, Ressourcen schaffen und daran arbeiten müssen, die strukturellen Ursachen dieser Probleme zu verändern.

      Zudem ist es wichtig, unsere Annahmen zu überprüfen. Vielleicht suchen wir Sicherheit, indem wir uns an dem festklammern, was uns emotionale Geborgenheit vermittelt. Doch Sicherheit ist illusorisch. Wir können tun, was in unserer Macht steht, um Verletzungen zu vermeiden und eventuelle Misshandlungen zu ­beenden, und zugleich anerkennen, dass die Welt kein sicherer Ort ist, weder physisch noch emotional. Anstatt unsere Angst noch zu verstärken, kann diese Einsicht zu großer Lebendigkeit und Freiheit führen.

      Die Methoden und Perspektiven, die ich hier mit Ihnen teile, können uns helfen, eine stabile Basis des Wohlbefindens und der Verbundenheit mit uns selbst zu schaffen, sodass unser Sicherheitsgefühl mehr von innen als von außen gestärkt wird. Hier ist das Prinzip, erst mal am »flachen Ende des Schwimmbeckens« zu üben, besonders wichtig. Halten Sie Ausschau nach Menschen oder Situationen, mit denen Sie sich eher sicher und eher entspannt fühlen, um mit dem Üben zu beginnen – und sei es mit Ihrem Haustier oder Ihrem Lieblingsbaum. Unser Nervensystem sehnt sich nach der beruhigenden Wirkung freundlicher sozialer Interaktion. Wir Menschen kennen sie seit Jahrtausenden, und unser Körper erinnert sich daran, wie wir uns untereinander verbinden, uns mitteilen und einander zuhören können, wenn wir nur die richtigen Umstände schaffen und alldem Gelegenheit geben.

      12 Zwar unterscheiden viele Meditationsansätze zwischen den Begriffen »Achtsamkeit«, »Gewahrsein« und »Präsenz«, doch für unsere Zwecke gebrauche ich diese Begriffe synonym. Jede trägt eine etwas andere Konnotation der Erfahrung des bewussten Gewahrseins in sich.

      13 Mir wurde auch klar, dass das unbewusste Ausleben der typischen Geschlechter­rollen – der Mann hat das Sagen, die Frau fügt sich – zu der Situation beigetragen hatte.

       3

      Gewahrsein in Beziehungen

      »Alles wahre Leben ist Begegnung.«

      Martin Buber

      Die Macht unserer Gewohnheiten und der soziale Druck in manchen Situationen kann es ausgesprochen schwierig machen, in Gesprächen präsent zu bleiben. Hier dient uns unsere innere Praxis als Basis. Wir betrachten das Gespräch als Übungsgelände für Präsenz, nutzen Techniken, um die Aufmerksamkeit zu verankern und mehr Gewahrsein in Beziehungen zu entwickeln.

      Als ich nach fünf Jahren engagierter Achtsamkeits- zur Kommunikationspraxis kam, stellte ich fest, dass sich bestimmte Verhaltensweisen veränderten. Ich fing ganz natürlich an, bewusster zu sprechen und zuzuhören. Ich begann auch, kleine Veränderungen in meinem Sprechfluss vorzunehmen, Pausen zu machen oder die Geschwindigkeit ein wenig zu ändern, um mein Nervensystem zu regulieren. Schließlich lernte ich, mein Gewahrsein von meinem eigenen Körpergefühl ausgehend so weit werden zu lassen, dass es mein Gegenüber, unsere Verbindung und den Raum um uns herum umfasste.

      Entscheidungspunkte: Sprechen oder zuhören?

      Bewusst zu entscheiden, wann wir sprechen und wann wir zuhören, ist wesentlich für ein sinnvolles Gespräch. In mancherlei Hinsicht ist das die grundlegendste Kommunikationsfertigkeit. Wie oft haben Sie schon etwas gesagt und sich dann, nur wenige Augenblicke nachdem die Worte Ihrem Mund verlassen hatten, gewünscht, sie zurücknehmen zu können? Oder in einer E-Mail auf »Senden« gedrückt, obwohl es besser gewesen wäre, die Sache erst einmal auf sich beruhen zu lassen? Und ebenso wichtig ist es, Mut zu fassen und zu sagen, was wir zu sagen haben. Wenn das unterbleibt, kann es sich so anfühlen, als hätten wir uns selbst oder die Menschen, die wir lieben, im Stich gelassen.

      Ein Gespräch ist ein dynamisches Zusammenspiel zwischen der Entscheidung zu sprechen und der Entscheidung zuzuhören. Werden diese Entscheidungen bewusst und respektvoll getroffen, ist das Gespräch meistens produktiver und angenehmer. Fallen sie unbewusst oder impulsiv, ist das Gespräch weniger produktiv und stressiger.

      Ich nenne diese Weggabelung den »Entscheidungspunkt«. Wenn wir präsent sind, gibt es in jedem Moment eine Entscheidungsmöglichkeit. Einer meiner Kollegen, der ebenfalls Gewaltfreie Kommunikation lehrt, verwendet das Akronym WAIT, um sich daran zu erinnern: »Warum spreche ich?« (»Why am I talking?«) – eine Frage, die darauf verweist, wie schnell und unüberlegt wir oft zu sprechen beginnen. Und mit der Frage »Was denke ich?« können wir uns den mentalen Prozess bewusst machen, der unsere Worte hervorbringt.

       Ein Entscheidungspunkt ist ein Moment des Gewahrseins, in dem wir uns entscheiden, ob wir sprechen oder zuhören wollen.

      Die Fähigkeit, an dem Entscheidungspunkt präsent zu sein, erfordert Übung. Manchmal fliegt er an uns vorbei wie ein Straßenschild, während wir mit Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn fahren. Der Impuls, uns mitzuteilen, kann so stark sein, dass er uns dazu treibt, etwas auszusprechen, bloß um inneren Druck abzulassen. Wenn wir hingegen eher zu den stilleren Gemütern gehören, mag es uns so vorkommen, als ob diese Gelegenheiten vorübergezogen sind, bevor wir unsere Stimme erheben konnten.

      An dieser Stelle kommt Achtsamkeit ins Spiel. In der Meditation lernen wir, unangenehme Empfindungen zu beobachten (Knieschmerzen, Verspannungen im Rücken), ohne direkt darauf zu reagieren. Wir entwickeln die Fähigkeit, uns eines Impulses bewusst zu sein, ohne auf ihn zu reagieren.

      Die Angst, die wir in Gesprächen empfinden, wurzelt meist in tieferliegenden Bedürfnissen, wie etwa gesehen oder gehört zu werden, Bedürfnissen nach Sicherheit, Akzeptanz, Zugehörigkeit und Ähnlichem mehr. Je weniger zuversichtlich wir sind, dass diese Bedürfnisse erfüllt werden, desto mehr Druck verspüren wir, etwas zu sagen beziehungsweise lieber weiter zu schweigen. Wenn wir nicht jetzt sofort etwas zur Sprache bringen, so fürchten wir vielleicht, werden wir nie mehr die Gelegenheit dazu haben. Oder aber: Wenn wir etwas sagen, wird darauf sicherlich eine Katastrophe oder eine Trennung folgen.

      Je mehr Möglichkeiten wir finden, diese Bedürfnisse zu erfüllen (und gut mit ihnen umzugehen, wenn sie nicht erfüllt sind), desto weniger Druck verspüren wir, zu sprechen oder weiter zu schweigen; wir können uns in den Fluss einer Unterhaltung hinein entspannen. Es ist nicht gefährlich, wenn wir unsere Meinung sagen, und es gibt keine Eile, alles auf einmal mitteilen zu müssen. Wenn es wichtig ist, werden wir den richtigen Zeitpunkt und die richtige Art und Weise finden.

      Diese Fähigkeit entwickelt sich langsam. Indem wir üben, unsere Bedürfnisse zu achten, lernen wir, uns selbst zu vertrauen. Wenn wir jedem noch so kleinen Erfolg Beachtung schenken, hilft das unserem Nervensystem, zur Ruhe zu kommen und sich neu auszurichten. Weil es sich an ein grundsätzliches Wohlbefinden gewöhnt, muss es nicht immerzu falschen Alarm schlagen, der uns dazu antreibt oder davon abhält zu sprechen, und wir können immer öfter eine bewusste Wahl treffen. Dann können wir entscheiden, was am hilfreichsten für den Fortgang des Gesprächs ist und wie die Bedürfnisse aller Beteiligten berücksichtigt