Sag mir, was du wirklich meinst. Oren Jay Sofer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oren Jay Sofer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783867813693
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24 (5), 2004, S. 19–24. Siehe auch die vorangegangene und die folgende Anmerkung.

      11 Ursprünglich hat man zwei Äste des autonomen Nervensystems unterschieden: den sympathischen Zweig, der für die grundlegende physiologische Homöostase und den Kampf-oder-Flucht-Mechanismus verantwortlich ist, und den parasympathischen Zweig, verantwortlich für die Körperfunktionen des Ausruhens und Verdauens. Sympathische Aktivierung leitet Energie in den Körper, um ihn handlungsfähig zu machen, reguliert Funktionen wie den Herzschlag und bereitet ihn darauf vor, Gefahren zu begegnen. Der parasympathische Zweig bremst den Fluss dieser Energie und unterstützt uns, uns zu entspannen, abzuschalten und die Erregung der sympathischen Aktivierung zu drosseln. (Porges’ Polyvagal-Theorie geht von einem dritten Zweig des autonomen Nervensystems aus: dem »Social Engagement System«, das ebenfalls zum Parasympathikus zählt.)

       2

      Die Kraft der Achtsamkeit

      »Es ist etwas Mysteriöses und Heiliges daran, lebendig zu sein. Es ist ein Gewahrsein über etwas, was zu wichtig ist, um es zu vergessen.«

      Christina Feldman

      Mein Vater wuchs in den Vierzigerjahren in einer Hütte auf, die aus einem einzigen Raum bestand. In Palästina, damals unter britischem Mandat, züchtete seine Mutter Hühner, Ziegen und Hasen, während sein Vater Wände verputzte und einen Kiosk betrieb, in dem Zeitschriften, Süßigkeiten und frischer Saft angeboten wurden. Sie beide waren als Jugendliche in der Hoffnung auf ein besseres Leben aus Belarus und Polen gekommen. Als ältestes von drei Kindern wurde mein Vater mit dreizehn Jahren in einen Kibbuz geschickt, damit es in der Familie »ein Maul weniger zu stopfen« gab.

      Erst kürzlich erzählte er mir, wie er in den ersten Wochen, die er im Kibbuz verbrachte, jeden Abend in seinem Zimmer stand und zusah, wie die Sonne über den Feldern unterging. Er erzählte, wie schön diese Sonnenuntergänge gewesen seien und wie friedlich er sich dabei gefühlt habe. »Ein paar Monate später schaute ich zufällig auf, als ich gerade in meinem Zimmer war, und stellte fest, dass die Sonne unterging. Ich hatte aufgehört, sie wahrzunehmen.« Er hielt inne und wurde still. »Das beschäftigt mich seither. Wie kommt es, dass ich aufgehört hatte, den Sonnenuntergang wahrzunehmen?«

      Einen Großteil unserer Zeit sind wir nicht wirklich hier; wir sind nicht mit unseren Sinnen und der unmittelbaren Erfahrung unserer Lebendigkeit verbunden. Unsere Aufmerksamkeit ist woanders, wir denken an die Vergangenheit oder die Zukunft – planen, machen uns Sorgen, erinnern uns, bedauern. Die Geschichte meines Vaters erzählt von einem Schlüsselmoment, den wir in ähnlicher Form alle immer wieder erleben – wenn wir bemerken, dass wir nicht in voller Bewusstheit leben, was machen wir dann damit?

      Den Boden für die zwischenmenschliche Verbindung bereiten

      Achtsamkeit gibt uns unser Leben zurück. Sie lässt uns die Schönheit eines Sonnenuntergangs genießen, das Wunder eines alten Baums oder das Mysterium und das Glück, das in der Nähe zu einem anderen Menschen liegt. In solchen Erlebnissen sind wir mit ganzem Herzen anwesend. Die Kraft ihrer Intensität erzeugt einen Zustand natürlichen Gewahrseins, in dem wir ganz tief da sind, verbunden mit uns selbst und unserem Umfeld.

      Dieser Zustand achtsamer Präsenz steht uns jederzeit offen. Er bereichert alltägliche Erlebnisse, sei es die Zubereitung einer Mahlzeit, ein Gespräch mit einem Familienmitglied oder das Gefühl von Morgenluft auf der Haut. Er lässt uns das Leben wertschätzen und die schwierigen Zeiten leichter durchstehen.

      Wie ich bereits sagte, spielt achtsame Präsenz auch in der Kommunikation eine wichtige Rolle, und zwar schlicht und einfach deswegen, weil wir zuallererst einmal da sein müssen, um überhaupt etwas zu verstehen. Haben Sie schon einmal probiert, sich mit jemandem zu unterhalten, der gerade in Gedanken woanders war? Oder erlebt, wie jemand mitten in der Unterhaltung sein Smartphone zückte? (Oder sich selbst dabei ertappt, während eine Unterhaltung sich dahinschleppte?) Wie oft haben Sie sich gestritten, einfach nur, weil einer der Beteiligten nicht zugehört hat? Oder den Mund nicht halten konnte? Viele der S­­­chwierigkeiten, die in Gesprächen entstehen, lassen sich schon allein dadurch vermeiden, dass wir entschleunigen und präsenter sind.

      Gewahrsein ist natürlich noch sehr viel mehr als nur eine Voraussetzung für Verständigung. Präsenz schafft den Boden für die Verbindung von Mensch zu Mensch. Wir spüren es, wenn jemand bei der Sache ist und zuhört. Präsenz ist einladend. Sie gibt anderen Raum und öffnet ihnen die Tür, um sich auf uns einzulassen. Diese Art von Gewahrsein im gegenwärtigen Moment ist die Grundlage für gelingende, heilsame Gespräche. Ist es nicht vorhanden, funktionieren wir bestenfalls im Autopilotmodus, und es kann passieren, dass wir unbeabsichtigt Samen der Trennung säen. (Wenn wir nicht achtsam sind, sind wir wahrscheinlich achtlos.)

       Prinzip: Präsenz schafft die Basis für die Verbindung von Mensch zu Mensch.

      Die Ironie ist, dass es nicht mal unbedingt zusätzlicher Anstrengung bedarf, achtsam zu sein. Auf lange Sicht gesehen, stellen wir vielleicht sogar fest, dass Achtsamkeit unsere Energiereserven schont, verglichen damit, wie viel Energie wir vergeuden, wenn wir achtlos sind.

      Wie oft nehmen wir uns die Zeit, ein Gespräch damit zu beginnen, dass wir der anderen Person mit Präsenz begegnen? Wir rasen durch den Tag, wir hetzen in eine Unterhaltung, und dann wundern wir uns, warum wir immer wieder aneinandergeraten. Wie wäre es stattdessen, von einem Ort des klaren, geerdeten Selbstgewahrseins aus zu beginnen? Gesammelt und respektvoll in den Kontakt mit einem anderen Menschen hineinzugehen?

      Mit Präsenz zu beginnen ist der erste Schritt zu gelingenden Gesprächen; es ist eine reichhaltige und tiefe Praxis mit vielen Dimensionen. Das Wichtigste dabei ist, dass wir Gespräche aus der Einfachheit und Kraft unserer eigenen Präsenz initiieren.

      Mit Präsenz zu kommunizieren, bedeutet auch, dass wir während des Gespräches das Gewahrsein aufrechtzuerhalten versuchen. Es ist ein fortwährender Prozess, in dem wir immer wieder zur Präsenz zurückkehren und so gut wie möglich bewusst zuhören und sprechen. Dazu in der Lage zu sein erfordert Übung, insbesondere in der Hitze eines schwierigen Gesprächs. Haben wir diese Fertigkeit erst einmal entwickelt, erinnert unser Nervensystem sich von selbst daran, gegebenenfalls in die Präsenz zurückzufinden. Wie ein Kreisel, der in sein Zentrum zurückkehrt, bemerken wir es schneller, wenn wir im Autopilotmodus oder in einer Reaktion stecken geblieben sind, und richten uns wieder neu aus.

      Was also ist achtsame Präsenz? Einfach gesagt bedeutet Achtsamkeit zu erkennen, was jetzt gerade passiert, auf eine ausgeglichene und nichtreaktive Weise. Sie ist wie das scharfe, beobachtende Auge einer Naturwissenschaftlerin, die ihr Objekt geduldig, mit Klarheit, Interesse und Staunen studiert.

       Achtsamkeit bedeutet, sich auf eine ausgeglichene, nichtreaktive Weise gewahr zu sein, was im gegenwärtigen Moment geschieht.

      Um Ihnen einen Geschmack davon zu vermitteln, wovon ich hier spreche, lassen Sie uns ein einfaches Experiment machen.

      Übung: Den Körper spüren

      Können Sie sich, genau jetzt, während Sie dies hier lesen, der Empfindungen Ihres Körpers gewahr sein? Vielleicht spüren Sie Schwere oder Druck an den Stellen, an denen Ihr Gesäß und Ihre Oberschenkel Kontakt zum Stuhl haben, oder die Berührung der Füße mit dem Boden. Bringen Sie Ihre Aufmerksamkeit zu diesen Kontaktstellen. Waren Sie sich vor einigen Augenblicken, bevor ich Sie dazu angeregt habe, dieser Empfindungen schon bewusst? Wie schwer oder leicht ist es Ihnen gefallen, sich Ihrer unmittelbaren Erfahrung in diesem Moment bewusst