Dies impliziert freilich, dass die Universalgeschichte nicht ohne die mosaische Unterscheidung des ersten Gebotes verstanden werden kann. Hier findet eine grundlegende Distinktion statt, die aller Integration eine Grenze setzt – die allerdings sowohl mit Hinsicht auf die Vorstellungen über den Ursprung der Menschheitsgeschichte als auch hinsichtlich der Eschatologie unter dem Vorbehalt des Gedankens einer Universalität des Ethos und eines Gottesgedankens steht. Das Phänomen der Religion ist den Schriftgelehrten nicht vorstellbar in einem abstrakten, vom Gottesgedanken selbst losgelösten Sinne, wohl aber hinsichtlich einer mehr oder weniger bestimmten Ausformung. Noah kann gerecht und vollkommen sein, indem er »mit Gott wandelt« (Gen 6,9), also in der schlichten Ausrichtung seiner Existenz auf Elohîm, ohne dass er die Mosaische Tora kennt. Henoch kann gar in die |76|himmlische Gemeinschaft entrückt werden. Hiob kann in der Urzeit mit der Theodizee ringen und alle Formen einer Lehre vom Tun-Ergehen-Zusammenhang zurückweisen, seine Gerechtigkeit erlangt er allein auf einer vor-mosaischen Auseinandersetzung mit dem Schöpfergott.
Eine weitere Besonderheit sahen die Schriftgelehrten im Wesen der Gottheit selbst. Geht man davon aus, dass die Verbindung der im Rahmen der klassischen Urkundenhypothese sogenannten »jahwistischen« und »elohistischen« Erzählungen mit der Priesterschrift nicht blind geschehen ist, sondern dass den nachexilischen Gelehrten die These eine Offenbarung des Jhwh-Namens an Mose vorgegeben war und von ihnen akzeptiert wurde, so stellt sich die Frage, in welchem Sinne dann die Erzählungen zu verstehen sind, die mehr oder weniger explizit vom Wirken Jhwhs bzw. Elohîms an den Erzeltern und den Nichtisraeliten erzählen bzw. in welchem Sinne sie die Rede vom Umgang der Erzeltern mit Jhwh bzw. Elohîm verstehen. Eine wichtige Beobachtung in diesem Zusammenhang ist, dass in den nicht-priesterschriftlichen Passagen zwar erzählt wird, dass Jhwh zu den Erzvätern redet, dass aber – im Unterschied zur priesterschriftlichen Darstellung, nach der er sich mit den Worten »Ich bin El Schaddaj« zu erkennen gibt (Gen 17,1b; 35,11; vgl. Gen 28,3f.; 48,3) – in den anderen Texten in der frühen redaktionellen Stufe der Zusammenführung der Stoffe eine Selbstvorstellungsformel mit Nennung des Jhwh-Namens fehlt (vgl. Gen 12,1–3.7; 13,14–17; 15,2*.7[LXX!].18–21; 18,13f.; 22,16; 26,2.24; 31,3)![35] Am deutlichsten ist dies in der Moseerzählung der Fall. In der nicht-priesterschriftlichen Berufungserzählung Ex 3 gibt sich Jhwh zunächst als »Gott deines Vaters«[36] und als »Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs« zu erkennen. Auf die Frage, was sein Name sei, verweigert die Gottheit die Auskunft und verweist auf die Souveränität ihrer Existenz: »Ich bin, der ich bin!« Damit bleibt die Spannung der Erzählung bis Ex 6 erhalten: Erst sub contrario in Ägypten erfährt Mose den Gottesnamen. Das war einem späteren Schriftgelehrten so unerträglich, dass er in Ex 3,15 erklärend |77|nachgetragen hat: »Und dann sprach Elohim nochmals zu Mose und sagte: ›So sollst du zu den Israeliten sagen: Jhwh, der Gott eurer Väter, […] hat mich gesandt.‹« Damit nimmt er aber nur vorweg, dass der Name erst in Ägypten offenbar werden soll, und liefert gleichsam eine explizite göttliche Erklärung für das, was nach seiner Sicht in Ex 3,14 impliziert ist.[37]
Eine Korrektur des Bildes, das durch die Komposition aus Erzählungen der Priestergrundschrift mit den vor-exilischen Väter- und Exoduserzählungen entstanden ist, bildet der Eintrag in Gen 4,26b, der feststellt, dass man schon in der Urzeit begonnen habe, »den Namen Jhwh anzurufen«. Versteht man diese Wendung explizit, so steht sie im Widerspruch zu Ex 6,2–8, und man muss annehmen, dass der Eintrag eine Gegenposition gegen P in die Urgeschichte einfügt und eine synchrone Lesung des Pentateuch nicht beabsichtigt.[38] Eine solche Gedankenlosigkeit ist den ansonsten durchaus reflektiert handelnden Schriftgelehrten nicht zu unterstellen. Die Alternative zu dieser Position besteht nun allerdings in der Annahme, dass die Wendung eine implizite Deutung der Formel repräsentiert. Das würde bedeuten, dass der Verfasser festhalten will, dass die Gottesverehrung in der Urzeit ihre Wurzeln hat, und dass sie sich auch unter dem Vorzeichen eines allgemeinen Gottesgedankens und des Monotheismus nur an den einen Gott Jhwh gerichtet hat, gerade auch dann, wenn man die Vorstellung einer urzeitlichen Gerechtigkeit des Menschen für möglich hält. Das fügt sich zu der Beobachtung, dass die Wendung in der weiteren Erzählung des Pentateuch nur noch für Abraham (Gen 12,8; 13,4; 21,33) und Isaak (Gen 26,25) ausgesagt wird.[39] In Gen 28,11–12.17–19.20–21a.22a |78|wird von der Entdeckung einer heiligen Städte Elohîms erzählt und von dem Gelübde, ein Haus für Elohîm zu errichten; analog zu der Ergänzung von Ex 3,14 in 3,15 wird auch in Gen 28,13–16 die Offenbarungserzählung durch eine Jhwh-Theologie korrigiert und vereindeutigt. Diese Deutung fließt auch in das Gebet Jakobs Gen 32,10 ein. Jakob nennt aber den Ort, an dem Elohîm zu ihm redet, Bet-El (Gen 35,15). Hagar hat zwar das Wort Jhwhs empfangen, nennt seinen Namen aber El-Roi – Gott, der mich sieht (Gen 16,13). Nur von Abraham heißt es Gen 22,14, er nenne den Ort seines Opfers für den Erstgeborenen »Jhwh sieht«, gleichsam in prophetischer Voraussicht auf den erwählten Ort auf dem Berg Jhwhs selbst, obschon dieser ihm seinen Namen nicht offenbart hat. Der Berg wird in 2 Chr 3,1 mit dem Tempelberg assoziiert. In der Melchisedek-Legende (Gen 14,18–20) wird diese prophetische Rolle des Abraham geradezu mystifiziert.
Weitere Spolien dieser jahwistischen Bearbeitung des Pentateuchs finden sich in Gen 29–31. Auch den Erzmüttern ist in den Fortschreibungen der Geburtssagen über die Stammväter Israels solches prophetische Wissen um den Gottesnamen zugeschrieben worden (Gen 29,32.33.35; 30,24), und auch von ihrem Vater Laban wird erzählt, er habe den Namen Jhwhs ausgesprochen, wenn er bekennt, dass er um Jakobs willen Segen empfangen habe und Jakob selbst gesegnet sei (Gen 30,27.30; 31,49). Überhaupt wird erst an dem Segen auf den Erzvätern für Fremde das Wirken Gottes als ein Wirken Jhwhs sichtbar (Gen 39,3.5.21).
Die in der neueren exegetischen Diskussion vertretene Ansicht, die ältesten Schichten der narrativen Überlieferung des Penateuch beruhten auf der Quelle eines »Elohisten«,[40] ist also dadurch bedingt, dass die nachexilischen Schriftgelehrten bei dem Einbau der vor-exilischen Erzählungen in die Priesterschrift diese im Sinne einer universalen Elohîm-Theologie bearbeiteten. Die Texte, die daran anschließend die Gottheit des Uranfangs mit Jhwh explizit identifizieren, führen auf die Selbstvorstellung Jhwhs an Mose (Ex 6,2, P) und Israel (Ex 20,2, Dtr) hin, nehmen sie aber nicht vorweg! Besonders |79|anschaulich wird die Vorstellung einer allgemeinen Gotteserkenntnis nach der Elohîm-Theologie[41] in der Josefsnovelle. Das göttliche Wirken erschließt sich sogar dem Pharao, vermittelt durch den einsichtigen Josef, in welchem der Pharao die Ruach Elohîm erkennt, also das Wirken des göttlichen Geistes (Gen 41,38), während sich die Frau des Potiphar der Gottesfurcht gegenüber verschlossen zeigt, als Josef sie auf die große Sünde wider Gott hinweist (Gen 39,9).[42] Im Gegensatz zu dem relativ exklusivistischen Israelglauben der Deuteronomisten und dem gestuften und konzentrischen Offenbarungsgedanken der Priesterschrift ergibt sich aus der Hinzufügung der alten Väter- und Exoduserzählungen eine Elohîm-Theologie, auf deren Basis eine Integration Fremder anschaulich wird. Da redet der Engel Gottes zu der ehemals in Ägypten versklavten arabischen Stammmutter Hagar und verheißt ihrem Sohn Ismael eine große Zukunft auch gegenüber seinen abrahamitischen Brüdern.[43] Da empfängt der Philister Abimelech im Traum göttliche Botschaften, ja, da wird ihm durch Abrahams Fürbitte gar Jhwhs Segen zuteil.[44] Da entdecken die Väter in den alten Orakelstätten von Bet-El, Sichem, Pnu-El und Mamre Ort, die in tiefer Verbundenheit zu Jhwh stehen, und an denen sich die Himmelswesen und fremdartigen dämonischen Gestalten in den Kreis der Jhwh dienenden Wesen einfinden,