Ein Motiv der Königsideologie ist die göttliche Auffindung und väterlich-mütterliche Adoption eines Herrschers. Schon Sargon I., der Begründer des altassyrischen Reiches, nennt die Gottheit Enlil seinen Vater,[25] Gudea von Lagasch betet zur Göttin Gatumdu mit den Worten (Gudea Cyl. A IIII,6–7): »Für den, der keine Mutter hat, bist du die Mutter, für den, der keinen Vater hat, bist du der |71|Vater.«[26] In der sumerischen Gebetsliteratur wird der Himmelsgott Anu als abu shamê – himmlischer Vater – angeredet, in einem Shu-íl-lá Gebet an den Mondgott Sin heißt es: »Barmherziger, gnädiger Vater, in dessen Hand erfasst ist das Leben der Gesamtheit der Erde.«[27] Götter, Menschen, Könige und sozial Schutzbedürftige verehren in den Hochgöttern väterliche und mütterliche Aspekte und suchen bei ihnen Lebenskraft und Hilfe. In einem Hymnus des Assurbanipal an Ishtar von Arbela bekennt dieser etwa: »Ich kannte weder einen Vater noch eine Mutter, im Schoß meiner Göttinnen wuchs ich auf und die großen Götter erzogen mich wie einen Säugling.« (SAA 3,3 Z. 4. 13f.; V. 14–16).[28] Die Analogien der Auffindungsmythe Sargons und Moses sind hinlänglich aufgezeigt worden.[29] Bekannt ist das Motiv der Suche nach einem Herrscher durch Marduk im Kyroszylinder und durch Jhwh im Kyrosorakel (Jes 45,1–7).[30] In den Spruchsammlungen, die die Grundlage des Hoseabuches gebildet haben, wird – nach dem Verlust des Königtums von Ephraim – das Motiv der Erwählung des Sohnes auf Ephraim selbst übertragen: »Als Israel ein Knabe war, da liebte ich ihn und rief meinen Sohn aus Ägypten […]« (Hos 11,1). Von hierher findet es Eingang in die weitere Deutung der Geschichte Israels als erwähltes Volk, so in Verbindung mit der Einführung des Glaubensmotivs in Dtn 1,31–32, als Gegenstand der Gotteserkenntnis (Dtn 8,2–6). Sodann findet es Eingang in die redaktionelle Ausformung der nachexilischen Exoduserzählung im Motiv der Rettung des »Erstgeborenen Jhwhs« (Ex 4,22) und als Teil der Geschichtsreflexion in der schriftgelehrten Ausgestaltung der Prophetie (Jer [2,27]; 3,4.14.19.27; 31,9; Jes 63,8–9.16; 64,7; Mal 1,6; 2,10; 3,17). Im Horizont der Gebetsfrömmigkeit tritt Jhwh in den Blick als Schutzmacht der personae miserae: »Vater der Waisen, Richter der Witwen ist Elohîm in seiner heiligen Wohnung!« (Ps 68,6a).
|72|Der Gedanke der Vaterschaft Gottes wird zudem verschmolzen mit der Vorstellung einer Erschaffung des Einzelnen durch die providenziell wissende väterliche Gottheit im Dunkel der Erde, im Uterus der Frau (Ps 139,13–16): In dem Prophetengedicht des Mose Dtn 32,6 ist darum Jhwh Israels Vater und Schöpfer, der gleichwohl seine abtrünnigen Söhne und Töchter im Zorne verwirft (Dtn 32,19), doch sodann die Macht der fremden Götter bricht und sich als einziger, lebendig machender ewiger Gott erweist (Dtn 32,39–40), indem er Israel errettet. Mose blickt hier über das Ende des Exils hinaus in eine alles weitere Prophezeien umspannende eschatologische Zukunft, in der Israel als Mitte und Exemplum der Völkerwelt die Universalität des Wirkens des Gottes Israels veranschaulicht. So vermag an die Stelle des Königs den Ps 47,7 als Elohîm bezeichnet, von Gott selbst gesalbt und gesegnet, der Mensch in seiner Gottesebenbildlichkeit und Gottesnähe treten (Ps 8,6f.). Nicht das metaphorische mythische Repertoire der genannten Texte steht in einer differencia specifica zu den Gottesvorstellungen der Umwelt, sondern die je und dann aktualisierte und kontextualisierte Anordnung desselben im kulturellen, sozialpsychologischen, religiösen, metaphysischen und theologischen Deutungsraum Israels.[31]
4. Die Narration von einer Geschichte der Selbsterweise Jhwhs im Horizont des Monotheismus und der Universalität der Religionsgeschichte
Dass die Geschichte der Gotteserkenntnis Israels Teil einer universalen Erkenntnisgeschichte war, wurde infolge der Auslöschung der israelitischen und judäischen Königreiche durch imperiale Großmächte und ihre Weltherrschaftsrhetorik den israelitischen Gelehrten bewusst. Die schlichte Behauptung, nicht Assur, nicht Marduk, nicht Ahura-Mazda, sondern Jhwh, der Gott Jakobs und Israels, sei der Lenker der Weltreiche und ihrer Geschichte, genügte nicht. Auch die Behauptung, diese Gottheit sei nicht nur der Befreier des Exodus, sondern auch Schöpfer der Welt, vermochte die Herausforderung des Alleinverehrungsanspruchs nicht zu bewältigen. Wollte man aber die |73|These der Ausschließlichkeit der Gotthaftigkeit und Gottheit Jhwhs, also einen strikten monotheistischen Gedanken, bewähren, musste man das deuteronomistische Konzept einer auf Israel ausgerichteten Theologie des Bundes, des Bundesbruches und der Bundeserneuerung gleichfalls erweitern und überbieten. Die Eintragung des monotheistischen Deutungsschemas in das Deuteronomium in Dtn 4,5–8.39 und 32,39–40.43[32] war nur möglich auf der Basis einer Einbeziehung der Geschichte Israels, wie sie die Deuteronomisten entworfen hatten, in eine Universalgeschichte. Und diese bot die Priesterschrift, indem sie die Ursprungsgeschichten Israels in Gestalt der Erzväter- und der Exoduserzählung mit dem kosmischen Mythos der Urgeschichte verband und auf die Einrichtung eines Ortes der Einwohnung der Gottheit inmitten Israels ausrichtete.[33] Dabei bot sie als Integrationsmodell die Konzeption einer gestuften Offenbarungsgeschichte an. In ihm sind mythische, sagen- und legendenhafte Elemente mit historischen Erinnerungskernen zu einer religiös bestimmten Narration einer Heilsgeschichte verschmolzen, die man als narrative Theologie beschreiben kann. Die Schöpfung galt als Werk Gottes Elohîm, dessen Ebenbild der Mensch ist. Gerecht und vollkommen kann der Mensch (Noah, Gen 6,9) sein, weil ihm das was als »gut« gilt mit der Erschaffung des Lichts den Maßstab des Lebensspendenden und -bewahrenden |74|Elements vorgibt, an dem er sich orientiert. »Gut« ist in diesem Sinne die gesamte erschaffene Natur. Dem entspricht eine allgemeine Gotteserkenntnis, der Gedanke, dass die Menschheit insgesamt auf Elohîm ausgerichtet ist. Die Urkatastrophe der Sintflut führt zu einer neuerlichen Manifestation Elohîms, indem er vor Noah als dem Ahnvater des neuen Menschengeschlechts einen Bund mit Mensch, Tier und Erde eingeht, in welchem er den Bestand der Schöpfung zusagt und die Menschheit zur Achtung des Lebens verpflichtet. Aus dem Menschengeschlecht geht sodann Abraham hervor, dem die Gottheit sich neu als El Schaddaj erschließt. Im abrahamitischen Völkerkreis wird es die Nachkommenschaft Isaaks und Jakobs sein, in deren Mitte die Gottheit sich erst gegenüber Mose als Jhwh erschließt mit den Worten »Ich bin Jhwh« (Ex 6,2–8!), der Gott der Väter, der sein Volk als Jhwh-Volk aus der ägyptischen Sklaverei erlöst und so innerhalb der Menschheit einen Orientierungspunkt setzt: Ägypter wie Israeliten sollen Jhwhs Gottheit in ihrem Wesen (seinem Kavôd) durch die Erlösung erkennen (Ex 14,18). Ziel des Erlösungswerkes ist die Einwohnung Jhwhs als Gott Israels in dessen Mitte (Ex 29,46). Unter den Bedingungen des monotheistischen Glaubens kann die Religionsgeschichte nur als eine Geschichte sukzessiver Selbsterschließung der Gottheit verstanden werden, in deren Mittelpunkt die durch diese Gottheit Israel und den Völkern ermöglichte Gotteserkenntnis den Weg in eine versöhnte Zukunft ermöglicht. Wie das urzeitliche Gericht der Sintflut stehen auch die künftigen Völkergerichte unter dem Vorzeichen des noachitischen Bundes, wonach nicht die Vernichtung der Welt und der Menschheit, sondern vielmehr ein universaler Schöpfungsfriede die eschatologische Perspektive aller Geschichte ist.
Dabei differenziert die Priesterschrift zwischen der Perspektive der Textrezipienten, für welche die Identität des El Schaddaj mit Jhwh nunmehr feststeht, und dem Narrativ von den Offenbarungsempfängern, denen diese Identität erst von Mose her zugänglich geworden sein soll. Die Schriftgelehrten des Zweiten Tempels nutzten dieses Narrativ, um es einerseits mit dem deuteronomistischen zu verbinden.[34] Die deuteronomistische Bundestheologie orientierte sich am Gedanken der Verpflichtung Israels auf das Gesetz, das die Grundlage für seine Identität und seine Existenz als Volk Jhwhs bot und ihm zugleich den Maßstab für die Verheißungen Jhwhs als des Gottes Israels |75|gab. Der Gedanke des Scheiterns des Bundes und des Zornesgerichts des eifernden Gottes wurde hier durch den Gedanken der Neubegründung des Bundes aus der Selbstüberwindung Gottes begründet, der die Präponderanz seines gnädigen Wesens zur Grundlage jeglicher Bundeserneuerung machte. Anstelle des dekalogischen »ein eifernder Gott, der da heimsucht […]« steht in der Erzählung vom neuen Bund am Sinai die Gnadenformel an erster Stelle: »Jhwh