Dies war schon eine Eigentümlichkeit der alttestamentlichen Schriftgelehrtheit und bestimmt insofern die normativen Texte, die |65|den Ausgangspunkt im Diskursgeschehen der jüdischen und christlichen Religionskulturen und Theologien bilden. Traditionsgeschichtlich sind an den Narrativen, die sie uns vermitteln, unterschiedlichste Ursprungselemente altorientalischer und israelitischer Gottesverehrung erkennbar, dennoch versuchen die Schriftgelehrten in immer neuen Anläufen, diese Elemente in eine einheitliche, sinnstiftende Erzählung zu gießen, die ihrerseits mit Mitteln der Mythenbildung operiert, um aus dieser hinwiederum Gottesbekenntnisse zu formen, die der Identitätsstiftung in ihrer jeweiligen Entstehungszeit dienen und in Verbindung von Ritus und Bekenntnis soziale und religiöse Integration ermöglichen. Dabei verarbeiten die Narrative historische und religiöse Erfahrungen in metaphorischen Gestalten und ermöglichen so die Generierung einer geschichtsbezogenen Verantwortung von theologischer Rede. Die Technik, die die Schriftgelehrten dabei anwenden, ist sowohl mit Hinsicht auf die einzelnen Elemente der heterogenen Gottesaussagen als auch mit Hinsicht auf die heterogenen Ausformungen ihrer Narrative die der komplementären Lesung, gleichsam der narrativen Gestalt eines Diskurses, in welchem harmonisierbare und widersprüchliche Elemente in ein narratologisches Verweissystem gebracht werden, aus welchem dann die Rezipienten ihrerseits anwendungsbezogene Auslegungen gewinnen können.[10] Wie auf diese Weise Religionsgeschichte und Theologie in ein diskursives Dienstverhältnis zueinander treten, möchte ich anhand des Beispiels der Diskussionen um die Ursprünge des Jahwismus veranschaulichen. Dazu soll zunächst die Vielfalt der gegenwärtigen Theorien über den Ursprung des Jahwismus (1) dargestellt werden. Sodann ist zu zeigen, dass der Pentateuch selbst eine Theorie von den Ursprüngen und der Entfaltung des Jhwh-Glaubens bietet, dabei allerdings die Form einer Narration über die stufenweise Selbsterschließung Gottes (2) ausbildet. Schließlich ist zu zeigen, wie sich spätere Schriftgelehrte in ihrer |66|Bearbeitung des Stoffes (3) zu dieser Theorie verhalten haben und wie sowohl hinsichtlich einer Protologie der Menschheitsgeschichte als auch hinsichtlich einer Eschatologie eine universale Offenheit der kanonischen Texte entsteht. In einem Ausblick sollen dann einige Folgen für das Verhältnis von historischer und theologischer Exegese bedacht werden.
3. Theorien über die Ursprünge der Jhwh-Religion und der Rede von Gott als Vater: Mythos, Metaphorik und Narration
Wie immer eine christliche Theologie die metazeitliche und metasubjektive Wahrheit ihres Gottesgedankens begründet, sie muss sich darüber Rechenschaft geben, dass die der historischen Forschung zugänglichen Hinweise auf die Ursprünge des Jhwh-Glaubens nur annäherungsweise Rückschlüsse auf die hierin beteiligten Prozesse der Generierung und Ausformung der Jhwh-Religion zulassen und dass zweitens diese Religion menschheitsgeschichtlich eine ausgesprochen junge Gestalt repräsentiert. Das gilt nicht nur angesichts der Ausprägung der altorientalischen ägyptischen, sumerischen und mesopotamischen Hochkulturen und ihrer Religionen, sondern schon angesichts der monumentalen Zeugnisse neolithischer Kultanlagen aus dem 10. Jahrtausend v. Chr., beispielsweise vom Göbekli Tepe, die machtvoll zur Geltung bringen, dass die israelitische Religion zunächst einmal ein Spätling in der antiken Religionsgeschichte war. Sie muss also einen Weg finden zu plausibilisieren, dass sich in einer relativ spezifischen Religionsgeschichte eine Erfahrung manifestiert, die mit Hinsicht auf Ewiges und Infinites zu gültigen Aussagen führt. Der von Jürgen van Oorschot und Markus Witte edierte Sammelband über »The Origins of Yahwism«[11] bietet einen höchst instruktiven Einblick in die gegenwärtige Diskussion. Das bisher älteste Zeugnis einer Namensform YHW findet sich auf Inschriften in einem nubischen Amun-Tempel von Soleb aus der Zeit Amenhoteps III (ca. 1386–1349 v. Chr) und in einem Tempel in Amarah-West aus der Zeit Ramses II. (ca. 1279–1213) sowie in weiteren Namenlisten aus Medinet Habu aus der Zeit Ramses III (ca. 1221–1156). In diesen wird der Name in einer Reihe mit anderen lokalen Namen in Verbindung mit dem Beduinenstamm der Shasu aufgeführt, sodass er |67|zunächst einmal in einem lokalen Konnex zu verstehen ist. Neben den »Yahu-Shasu« gibt es noch »Se’îr-Shasu«, »Laban-Shasu« etc.[12] In welcher Beziehung diese lokalen Bezeichnungen zu einer Gottheit YHW stehen, lässt sich aus dem Material nicht erkennen. Gleichwohl wird es von einer Reihe von Exegeten als ein Indiz zur Unterstützung der Annahme angesehen, dass es eine solche Gottheit im Gebiet südlich des Negev und des Seïr im 13. und 12. Jahrhundert gegeben hat, dass somit das Narrativ von der Begegnung einiger aus Ägypten entwichener Hebräer im 12. Jahrhundert mit dieser Gottheit möglicherweise hier einen Anhalt hat.[13] Das Etymon Jhwh wird meist von einem verbalen Ursprung hergeleitet und als Gottesname i.S. eines Wettergottes oder auch eines Berggottes deutbar ist (»Er weht«).[14] Allerdings sind die ältesten Schichten der literarischen Überlieferungen, die von der wundersamen Errettung der Hebräer am Schilfmeer erzählen (Ex 14,21b)[15] als auch der literarische Kern der Erzählung von einer Theophanie des Wettergottes am Gottesberg |68|(Ex 19,16) nur noch annäherungsweise zu erahnen,[16] ein traditionsgeschichtlicher Zusammenhang des Etymons mit dementsprechenden Urerfahrungen von Rettung und Gottesbegegnung ist denkbar, die literarische Gestalt, in welcher dieser Konnex hergestellt wird, kann nur annäherungsweise in der vorexilischen Königszeit datiert werden.
Dass Jhwh der Gott der im ostjordanischen Gebiet ansässigen Israeliten war, bezeugt die moabitische Meschastele für die Mitte des 9. Jahrhunderts.[17] Älteste Stufen der Psalmen lassen hingegen Jhwh in Analogie zu nordwestsemitischen Wettergottheiten des sog. Baal-Hadad-Typos als einen ebensolchen Wettergott erscheinen (vgl. Ps 29,3–5*.7–9; 18,8–16*; 77,17–20; 65,10–14), der analog dem Baal im siegreichen Kampf gegen die Chaosmächte den Thron über Götter und Menschen erringt (Ps 24,7–10) und sodann auch als Königs- und Kriegsgottheit verehrt wird (Ps 29,1–2.9–10; Ps 93,1–5*), dessen Züge und Eigenschaften dem von Kanaanäeren verehrten Göttervater El gleichen.[18] Die Zuschreibung und Amalgamierung von Motiven des El-Mythos und des Baal-Mythos an die Jhwh-Gestalt sowie die ikonographische Assoziierung Jhwhs mit Cherubenthron, Stier, Götterberg (Zaphon, Sinai, Zion), Regentschaft im göttlichen Thronrat, die Rede von Jhwh als dem Gott der Zebaot, die analoge Prädizierung Jhwhs als ‘Elyôn, ausgestattet mit einem feurig leuchtenden Kavôd-Lichtglanz, ja, möglicherweise auch die Übernahme von ursprünglich an Baal oder El gerichteten Gebetstexten in den Jhwh-Kult,[19] all das zeigt allerdings, dass die Jhwh-Religion ihre charakteristische Ausprägung, wie sie in den ältesten literarischen Schichten des Alten Testaments zutage tritt, erst im Kulturraum der Königreiche |69|Israel und Juda und mit zunehmender Ausprägung einer israelitischen und judäischen Stadtkultur erhalten hat.[20] Mit der Überformung lokaler Traditionen und ihrer ursprünglich kanaanäischen Kulte kommt es zur Adaptation weiterer mythologischer Motivgruppen. So hat etwa Othmar Keel die umfängliche Prägung der Jerusalemer Tempel- und Lokaltradition durch solare Motivik aufgezeigt, die Glyptik bezeugt etwa die Übernahme der Symbolik der geflügelten Uräusschlangen, der Serafim, als deren Herr die Gottheit Jhwh gilt. Die Ausprägung einer Präsenzsymbolik durch die sphingischen Mischwesen des Cherubenthrones ist Anzeichen für eine umfängliche Ausprägung der mit dem Jhwh-Kult verknüpften Bildwelt, in deren vor-deuteronomistischen Gestalt die rettende Göttin Aschera Jhwh zur Seite getreten ist.[21] Kosmische Tempelideologie und göttliche Herrschaftslegitimation führen zu einer Anreicherung des mit Jhwh verknüpften mehrfach konnotierten Metaphern-Repertoires, auf das die hymnischen und narrativen Deutungstexte in immer neuen Varianten zugreifen.
Das gilt natürlich auch für das Motiv der göttlichen Vaterschaft, das in der Königsideologie Ägyptens am stärksten ausgeprägt ist, aber auch im hethitischen, sumerischen, babylonischen, assyrischen, ugaritischen und ptolemäischen und seleukidischen Kulturraum unterschiedliche Ausformungen erfährt.[22] Wie in Ugarit El so gilt auch |70|im judäischen Jerusalem Jhwh, der ja die Position des El Israels einnimmt, als Vater von Göttersöhnen (Ps 82,6; Gen 6,1–4) und Vater des Königs.[23] Im Kontext der Orakel zur Herrschaftslegitimation und Inthronisation spielt das Motiv eine wichtige Rolle (2 Sam 7,14–15; Ps 89,27f.31–34; 1 Chr 17,13; 22,10; 28,6f.). In Ps 2,7 haben sich über Jahrhunderte hinweg