Theologie des Neuen Testaments. Udo Schnelle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Udo Schnelle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846347270
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das zukünftige Reich Gottes steht im Zentrum. Auch das Feigenbaumgleichnis in Lk 13,6–9 lässt die gespannte Erwartung Jesu deutlich erkennen. Dem unfruchtbaren Feigenbaum wird noch ein Jahr Gnadenfrist geschenkt vor dem Umhauen, d.h. dem Gericht.

      4) Anspruch auf Authentizität haben auch jene Worte, in denen das zukünftige Reich Gottes als eine Gegenwelt angekündigt wird. Angesichts der Randstellung von Kindern in der antiken Gesellschaft musste Mk 10,15 provozierend wirken: „Amen, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht annimmt wie ein Kind, wird nicht hineinkommen.“ Jesu Wort über die Reichen in Mk 10,23 („Da blickte Jesus um sich und spricht zu seinen Jüngern: Wie schwer kommen die Begüterten ins Reich Gottes“; vgl. Mk 10,25) zielt ebenso auf eine neue Wirklichkeit wie die provokante Aussage in Mt 21,31c: „Die Zöllner und Dirnen kommen vor euch ins Reich Gottes.“ Es gilt: „Die Ersten werden die Letzten sein“ (Mk 10,31), und: „Wer sich erniedrigt, wird erhöht werden“ (Lk 14,11). Die ‚Letzten‘ sind die Armen, denen die Gottesherrschaft gehört, die Weinenden, die Trost finden werden, und die Hungrigen, die satt werden sollen (Lk 6,20f). Auch der Makarismus im Kontext der Parabel vom Gastmahl (Lk 14,15: „Als aber einer von denen, die zu Tische lagen, das hörte, sagte der zu ihm: Selig, wer im Reich Gottes Brot essen wird“) und die rigorosen Forderungen in Mk 9,42–48 (V. 47: „Und wenn dein Auge dich zu Fall bringt, reiß es aus. Es ist besser für dich, einäugig in das Reich Gottes einzugehen, als mit beiden Augen in die Hölle geworfen zu werden“) lassen das zukünftige Reich Gottes als eine neue Welt erscheinen103.

      Das gegenwärtige Reich Gottes

      Ein singulärer Zug der Verkündigung Jesu besteht darin, dass für ihn das kommende und nahe Reich Gottes bereits gegenwärtig ist104. Er spricht allerdings nicht von der allgemeinen Präsenz Gottes (im Tempel), sondern von der vorweggenommen Gegenwart des Zukünftigen. Die konkrete Bestimmung dieser Gegenwart zeigt wieder den für Jesus charakteristischen Verfremdungseffekt:

      1) In den ursprünglichen Seligpreisungen spricht Jesus denen gegenwärtig das Reich Gottes zu, die sich selbst als Ausgeschlossene begreifen müssen: „Selig ihr Armen, denn euer ist das Königreich Gottes. Selig ihr Hungernden, denn ihr werdet gesättigt werden. Selig ihr Trauernden, denn ihr werdet getröstet werden“ (Q 6,20f)105. Dem leibhaftig Armen, Rechtlosen, Unterdrückten ist die eigenmächtige Gestaltung seines Lebens verwehrt, er kann nur auf Barmherzigkeit und Hilfe von außen hoffen. In dieser Situation des unbedingten Angewiesenseins gewährt Jesus Anteil am Reich Gottes. Damit offenbart sich ein Stück des Wesens des Reiches Gottes: Es ist Gottes Reichtum, seine schenkende Güte, seine Annahme des Menschen. Wo Gottes Herrschaft Raum gewinnt, dort ist allein Gott der Geber und der Mensch der Empfangende. Angesichts des Reiches Gottes kann sich der Mensch nur als Angenommener und Beschenkter verstehen. Nicht das Haben, der Besitz, befähigt den Menschen zur Offenheit gegenüber dem Reich Gottes, sondern die Erkenntnis des Angewiesenseins auf Gottes Hilfe. Wie die Armen befinden sich die Trauernden und Hungernden in einer Distanz zum Leben. Den Trauernden wurde durch den Tod eines geliebten Menschen auch ein Stück des eigenen Lebens genommen. Die Klage ist der sinnfällige Protest gegen diesen Lebensentzug. Das Leben der Hungernden ist in unmittelbarer Weise durch den Hunger bedroht. Leben artikuliert sich für sie in dem elementaren Verlangen nach Lebensmitteln. Jesus preist beide Gruppen selig und lässt sie teilhaben am Leben in der Gegenwart der Gottesherrschaft.

      2) Die Gegenwart des Reiches Gottes wird offenbar in der Entmachtung des Teufels und dem Zurückdrängen des Bösen. Die Dämonenaustreibungen und Heilungen, die Bitte im Vaterunser um die Erlösung vom Bösen (Mt 6,13b), die Vision Jesu in Lk 10,18, der Vorwurf, Jesus stehe mit den bösen Geistern in Verbindung (vgl. Q 11,14–15.17–19) und die in Mk 3,27/Lk 11,21f vorausgesetzte Entmachtung des Satans verdeutlichen den Kampf gegen das Böse bzw. den Bösen als zentralen Inhalt der Lehre und des Handelns Jesu (s.u. 3.5.2).

      3) Angesichts des hereinbrechenden und in der Wundertätigkeit Jesu offenbar werdenden Gottesreiches werden Menschen von den sie unterjochenden Mächten des Satans befreit und wieder ihrer schöpfungsgemäßen Bestimmung zugeführt; die Heilungen Jesu zeugen vom gegenwärtigen Anbruch des Reiches Gottes. Programmatisch formuliert Q 11,20: „Wenn ich aber mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, so ist die Königsherrschaft Gottes schon zu euch gelangt“106. Auch der Lobpreis der Augenzeugen in Q 7,22f und Q 10,23f weist in dieselbe Richtung (s.u. 3.5.2); Jesus sah die Gegenwart als die Zeit der Heilswende an.

      4) Die Wachstumsgleichnisse zeugen vom verborgenen Beginn der Gottesherrschaft. Sowohl beim Gleichnis von der ‚selbst wachsenden Saat‘ (Mk 4,26–29) als auch im Doppelgleichnis vom ‚Senfkorn‘ und ‚Sauerteig‘ (Q 13,18f.20f) geht es um die Pointe, dass aus kleinen Anfängen etwas Großes entsteht. Das Entscheidende, die Aussaat, ist schon geschehen; die Senfstaude wächst schon und der Teig wird schon durchsäuert.

      5) Auch im Stürmerspruch Q 16,16 ist die Gottesherrschaft unabhängig von der Gesamtinterpretation des Verses in jedem Fall eine gegenwärtige Größe. Sie ist seit den Tagen Johannes d. T. präsent und kann in der Gegenwart „erobert“ werden.

      6) Die Fastenfrage in Mk 2,18–22 zielt ebenfalls auf die erfüllte Gegenwart. Weil jetzt der Bräutigam da ist, können die Jünger – im Unterschied zu den Anhängern des Täufers – nicht fasten.

      7) Auf die Frage, wann das Gottesreich komme, antwortet Jesus nach Lk 17,20f: „Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten kann, man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es! oder: Da ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch (ἐντὸς ὑμῶν).“ Die Übersetzung, die Bedeutung und die Zurückführung von ἐντὸς ὑμῶν auf Jesus sind umstritten107. Es kann in einem spirituellen Sinne verstanden werden, etwa „das Reich Gottes ist innerlich in euch“ (vgl. ThEv 3: „Das Reich Gottes ist inwendig in euch und außerhalb von euch“). Möglich ist auch eine räumliche Deutung: „in eurer Mitte“ (vgl. ThEv 113: „Vielmehr ist das Königreich des Vaters ausgebreitet über die Erde, und die Menschen sehen es nicht“). Neben der spirituellen und lokalen gibt es noch eine dynamische Deutung im Sinn von: die Gottesherrschaft ‚ist in eurer Verfügung‘ oder ‚in eurem Erfahrungsbereich‘, d.h. „die Gottesherrschaft ist in euren Erfahrungsbereich eingetreten“108. Diese Deutung verbindet sich mit den anderen Logien (bes. Q 11,20), denn hier spricht sich die Gewissheit der Gegenwart des Reiches in besonderer Weise aus!

      Das gegenwärtig zukünftige Gottesreich

      Wie verhalten sich die Aussagen über das zukünftige und gegenwärtige Gottesreich zueinander? Einen Hinweis liefert Mk 1,15, wo der Evangelist am Anfang seines Evangeliums Jesu Botschaft so zusammenfasst: „Erfüllt ist die Zeit, und nahe herbeigekommen ist die Gottesherrschaft. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium“ (Mk 1,15)109. Weil die Gottesherrschaft kommt, ist die Zeit erfüllt, d.h. zwischen den präsentisch-eschatologischen Aussagen und den futurisch-eschatologischen Aussagen darf keine Alternative aufgebaut werden. Alle Texte zeigen, dass Jesus ‚Reich/Herrschaft Gottes‘ nicht in erster Linie im Sinne eines Territoriums, sondern dynamischfunktional versteht: Gottes Zukunft nähert sich sichtbar der Gegenwart, Gott herrscht und Mächte wie Menschen stehen unter seiner Herrschaft. Die Gegenwart wird als Gegenwart Jesu als Endzeit qualifiziert, weil sich nun das Endheil unaufhaltsam und unwiderstehlich durchsetzt, bis die uneingeschränkte, keinen Widerspruch des Bösen mehr duldende Alleinherrschaft Gottes die alles bestimmende Größe in Schöpfung und Geschichte ist. Futurische Worte kündigen das Hereinbrechen der neuen Welt an und Anbruchsworte versichern zugleich: Sie beginnt verborgen schon jetzt. Im Gebet zu Gott und letztlich in Gott selbst werden Gegenwart und Zukunft verbunden: die Fürsorge des Vaters in der Gegenwart mit dem Kommen seiner Königsherrschaft in der Zukunft. Die Alternative von Gegenwart und Zukunft der Gottesherrschaft ist bei Jesus überwunden, weil sich die Gottesherrschaft von der Zukunft bis in die Gegenwart hinein erstreckt. Die entscheidende Zeit ist die von der Zukunft erfüllte Gegenwart! In der Gegenwart eröffnen sich neue Zugänge zu Gott, neue Wahrnehmungen der Wirklichkeit Gottes in der Welt und ein neues Handeln des Menschen. Gottes neue Zeit ragt nach Jesu Verständnis in die alte Zeit der Menschen hinein und gestaltet sie in der Gegenwart um. Überwunden ist damit auch die in vielen jüdischen Apokalypsen vorherrschende Nivellierung der Gegenwart durch eine Glorifizierung der Zukunft. Für Jesu Zeitverständnis verläuft