Theologie des Neuen Testaments. Udo Schnelle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Udo Schnelle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846347270
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übte Jesus scharfe Kritik am herrschenden Tempelkult, die ihn in einen tödlich endenden Konflikt mit der jüdischen Obrigkeit und den Römern brachte (s.u. 3.10.2). Der Tempel gehört für ihn zu dem, was zerstört werden wird (vgl. Mk 14,58). Auch die seit der Mitte des 2. Jh. v.Chr. im jüdischen Leben dominierende Tora steht nicht im Mittelpunkt der Verkündigung Jesu, sondern das als nah geglaubte und erfahrene Reich Gottes (s.u. 3.4). Q 16,16 hebt ausdrücklich die Zeit des Gesetzes und der Propheten und die Zeit des Reiches Gottes voneinander ab, so dass Jesu eschatologische Perspektive die von ihm vorgenommene Neubewertung der Tora begründet. Die Tora wird nicht überwunden oder aufgehoben, sondern in eine neue theozentrisch-eschatologische Perspektive gerückt: „Im Horizont der Basileia-Verkündigung, in der Gottes Zukunft als lebenschenkendes, heilvolles Geschehen bereits sichtbar wird (Mt 11,5f/Lk 7,22f), müssen sich die Weisungen der Tora und ihre Auslegung danach beurteilen lassen, inwieweit sie dem von Jesus verkündeten und gelebten Inhalt der Gottesherrschaft entsprechen, deren einziges Kriterium der sich im Liebesgebot zentrierende Wille Gottes ist (Mk 12,28–34par; Mt 5,43–48par; 9,13; 12,7; 23,23; vgl. 7,12).“72 Es dominiert nicht die Vergangenheit, sondern die Erfahrung der Gegenwart und der Ausblick auf die Zukunft Gottes. Sie zeigt einen Gott, der das Verlorene sucht (vgl. Lk 15,1–10.11–32) und sich der Menschen erbarmt (vgl. Mt 18,23–27); einen Gott, dessen Wille es ist, die Kranken und nicht die Gesunden zu retten, den Sündern Vergebung zu gewähren und den Armen und Bedrückten das Heil zu bringen. Das Bild des gütigen und vergebenden Gottes findet sich auch in der jüdischen Tradition73, Jesus stellt es jedoch in neuer Weise in die Mitte seiner Verkündigung und formt es aus seiner eschatologischen Perspektive.

      N.PERRIN, Was lehrte Jesus wirklich? (s.o. 3), 52–119; O.CAMPONOVO, Königtum, Königsherrschaft und Reich Gottes in den frühjüdischen Schriften, OBO 58, Freiburg CH/Göttingen 1984; H.MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft, SBS 111, Stuttgart 1983; H.WEDER, Gegenwart und Gottesherrschaft, BThSt 20, Neukirchen 1993; H.MERKEL, Die Gottesherrschaft in der Verkündigung Jesu, in: Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult im Judentum, Urchristentum und in der hellenistischen Welt, hg. M.Hengel/A.M. Schwemer, WUNT 55, Tübingen 1991, 119–161; J.P. MEIER, A Marginal Jew II (s.o. 3), 237–506; M.WOLTER, „Was heisset nu Gottes reich?“, ZNW 86 (1995), 5–19; M. DE JONGE, Jesus’ rôle in the final breakthrough of God’s kingdom, in: H.Cancik/H.Lichtenberger/P.Schäfer (Hg.), Geschichte – Tradition – Reflexion. FS M.Hengel III: Frühes Christentum, Tübingen 1996, 265–286; G.THEISSEN/A.MERZ, Der historische Jesus (s.o. 3), 221–253; J.BECKER, Jesus von Nazaret (s.o. 3),100–121; N.T. WRIGHT, Jesus (s.o. 3), 198–474; B.J. MALINA, The Social Gospel of Jesus, Minneapolis 2001; G.VANONI/B.HEININGER, Das Reich Gottes, NEB.Th 4, Würzburg 2002; J.D.G. DUNN, Jesus Remembered (s.o. 3), 383–487; R.A. HORSLEY, Jesus and Empire, Minneapolis 2003; L.SCHENKE, Die Botschaft vom kommenden „Reich Gottes“, in: ders. (Hg.), Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen (s.o. 3), 106–147; J.SCHRÖTER, Jesus (s.o. 3), 189–213; D. C. ALLISON, Constructing Jesus (s.o. 3), 31–220.

      Religiöse Rede hat immer eine symbolische Dimension, weil die Wirklichkeit Gottes für Menschen nicht unmittelbar zugänglich ist. Symbole sind über sich selbst hinausweisende, neue Sinnwelten eröffnende Zeichen74, die eine andere Wirklichkeit in unsere Wirklichkeit hineintragen. Sie bilden diese neue Wirklichkeit nicht nur ab, sondern vergegenwärtigen sie so, dass sie wirksam werden kann. Sie repräsentieren sowohl die göttliche als auch die menschliche Welt und partizipieren zugleich an ihnen75. Symbole müssen so ausgewählt werden, dass sie einerseits für die Hörer/Leser rezipierbar sind, andererseits das zu Symbolisierende sachgemäß wiedergeben. Bei Jesus von Nazareth ist das zentrale religiöse Symbol das Reich/die Herrschaft Gottes, er verkündigte das Kommen des einen Gottes in seinem Reich.

      Symbole sind als sprachliche Zeichen immer eingebunden in die Enzyklopädie eines Kulturkreises, speziell in seine Sprache. Um ein Symbol verstehen zu können, muss die Enzyklopädie des Begriffes abgeschritten werden. Bei ‚Reich/Herrschaft Gottes‘ ist dies die Vorstellung von Gott als König im Alten Testament76, im antiken Judentum77 und im Hellenismus78. Dazu gehören ein weites Sprachfeld (Gott als König und verbale Formulierungen von Herrschen), Assoziationen verwandter Art (z.B. Gott als Herr und Richter), königliche Attribute und Insignien (z.B.Palast, Thron, Hofstaat, Herrlichkeit), königliche Metaphorik (z.B. der König als Hirte) und typische königliche Aufgaben (den Frieden gewähren, die Feinde richten). Ausgangspunkt dieser Vorstellungen ist die in der Antike unmittelbare Erfahrung der uneingeschränkten Herrschaft und Allmacht von Königen, deren Machtfülle sich als Symbol für Gott anbot.

      Religiöse Dimensionen

      Der im Tempel (vgl. Jes 6,1ff; Ps 47,9; 99,1f: „Der Herr ward König; es zittern die Völker; er thront auf den Cheruben; es wankt die Erde; groß ist der Herr in Zion“) bzw. der auf dem Zion thronende Jahwe (vgl. Ps 46; 48; 84; 87)79 ist König über alle Völker (vgl. Ps 47; 93; 96–99). Nach dem Exil vollzieht sich eine Eschatologisierung der mit der Herrschaft Jahwes verbundenen Traditionen, die deutlich mit Deuterojesaja einsetzt. Der König Israels wird sich seines Volkes in einer neuen Weise annehmen (vgl. Jes 41,21; 43,15; 44,6). Er beherrscht die Völker und lenkt die Könige (vgl. Jes 41,2f; 43,14f; 45,1), regiert die Geschichte und Schöpfung (40,3f; 41,4; 43,3). Damit verbindet sich eine unausweichliche Spannung zwischen gegenwärtiger und erwarteter Gottesherrschaft, von der auch Jesu Verkündigung geprägt ist. Das futurische Element dominiert in der Apokalyptik, wo Gott in einem endzeitlichen Kampf seine Feinde unterwerfen wird. Die Vorstellung eines Endkampfes zwischen zwei Machtblöcken findet sich in vielfältigen Variationen, wobei vor allem Beliar/Belial als Feind Gottes auftritt (vgl. TestDan 5,10b–13: „Und er selbst (Gott) wird gegen Beliar Krieg führen / und siegreiche Rache über seine Feinde geben. … Und er wird ewigen Frieden denen geben, die ihn anrufen. Und die Heiligen werden in Eden ausruhen, / und über das neue Jerusalem werden sich die Gerechten freuen … Und Jerusalem wird nicht länger Verwüstung erdulden, noch Israel in Gefangenschaft bleiben, denn der Herr wird in ihrer Mitte sein, und der Heilige Israels wird über ihnen König sein“; vgl. ferner Joel 3; Zeph 3,15; Sach 14,9; Jes 24,21–23; Dan 2,24–45; 2 Makk 1,7–8; 1QM; Sib I 65–86; III 46–62. 716–723. 767–784). Bemerkenswert ist PsSal 17 (um 50 v.Chr.), wo Gott Israels König für immer ist (PsSal 17,1.3.46), zugleich aber der erwartete Messias als Repräsentant dieses Königtums erscheint (PsSal 17,32.34). Er wird als Herrscher Jerusalem und das Land Israel von den Völkern reinigen (PsSal 17,21.22.28.30), das heilige Volk sammeln (PsSal 17,26) und die Heidenvölker werden zur Fron nach Israel kommen und ihre Tribute abliefern (PsSal 17,30f). Das Reich Gottes für Israel ist hier wie in zahlreichen anderen Texten (vgl. z.B.Dan 2,44; 7,9–25; Ob 15–21) in Opposition zu den Heiden gedacht. Nach der um die Zeitenwende entstandenen Assumptio Mosis wird Gott in der Endzeit seiner Herrschaft über die gesamte Schöpfung antreten „und dann wird der Teufel nicht mehr sein“ (AssMos 10,1) und „der höchste Gott, der allein ewig ist, wird sich erheben, und er wird offen hervortreten, um die Heiden zu strafen, und alle Götzenbilder wird er vernichten“ (AssMos 10,7). In liturgischen Texten wie den Sabbatliedern aus Qumran dominiert eine präsentische Perspektive80. Diese Preisungen Gottes als des ewigen himmlischen Königs konzentrieren ihr beschreibendes Lob auf das himmlische unbegrenzte Königtum Gottes. Der irdische Kult partizipiert am himmlischen, indem man den himmlischen lobend beschreibt und somit Schöpfung und Geschichte weitgehend hinter sich lässt81. Ein weiteres eindrückliches Beispiel ist das Bittgebet in äthHen 84,2–3a: „Gepriesen seiest du, Herr (und) König, groß und mächtig in deiner Größe, Herr der ganzen Schöpfung des Himmels, König der Könige und Gott der ganzen Welt. Deine Gottheit, Königsherrschaft und Majestät währen für immer und alle Zeit und deine Herrschaft durch alle Geschlechter: Und alle Himmel sind dein Thron in Ewigkeit und die ganze Erde der Schemel deiner Füße für immer und alle Zeit. Denn du hast (alles) geschaffen und du regierst über alles, und schlechterdings nichts ist dir zu schwer“. Auch protorabbinische Grundtexte jüdischen Glaubens, wie das Achtzehnbittengebet