Der eine Gott in der Jesustradition
Explizit erscheint die Einzigkeit Gottes in der Jesustradition nur an vier Stellen; in der Erzählung der Heilung eines Gelähmten (Mk 2,1–12), in der Frage nach dem höchsten Gebot (Mk 12,28–34), in der Perikope vom reichen jungen Mann (Mk 10,17–27) und in Mt 23,9, wo Jesus sagt: „Und niemanden auf Erden sollt ihr euren Vater nennen; denn einer ist euer Vater, der im Himmel“62. Mk 2,1–12 ist in seiner vorliegenden Form eine Bildung der vormarkinischen Gemeinde, die aber Jesu Anspruch sachlich zutreffend wiedergibt, Sünden vergeben zu können (Mk 2,5b). Er tritt an die Stelle des einen Gottes (vgl. Mk 2,7: „Was redet er so? Er lästert! Wer kann Sünden vergeben außer der eine Gott“) und handelt aus einem einzigartigen Gottesbewusstsein heraus63. Auch die Verbindung von Gottes- und Nächstenliebe unter Aufnahme von Dtn 6,5 und Lev 19,18 geht auf Jesus zurück (s.u. 3.5.3). Sie ist in der jüdischen Tradition zwar vorbereitet, kommt aber dort explizit nicht vor. Die gesamte Botschaft und das gesamte Handeln Jesu sind von der Verbindung von Gottes- und Nächstenliebe geprägt. Die grundlegende Bedeutung der Einzigkeit Gottes für die Verkündigung Jesu zeigt sich aber auch dort, wo nicht explizit von dem ‚einen Gott‘ gesprochen wird. Wenn Jesus im Vaterunser bittet: „Geheiligt werde dein Name, dein Reich komme“ (Lk 11,2), dann ist deutlich, dass die Heiligung des Namens Gottes letztlich auf die Anerkennung seiner Einzigkeit und damit das Kommen der Gottesherrschaft auf die Durchsetzung der Einzigkeit Gottes zielt. Mit der Verheißung und Ansage der kommenden Gottesherrschaft proklamiert Jesus die eschatologische Offenbarung der Einzigkeit Gottes. Die Vorstellung der Gottesherrschaft wird bei Jesus vom Gedanken der Einzigkeit Gottes getragen. Wahrscheinlich ist diese Verbindung der Grund dafür, warum Jesus den Begriff der Gottesherrschaft in analogieloser Weise zum Zentrum seiner Botschaft macht und andere Heilsvorstellungen diesem Begriff subsumiert64.
Die Rede von Gott als „Vater/Abba“
Terminologisch auffällig für Jesus ist die Bezeichnung und Anrede Gottes als „Vater“. Dies ist kein Novum, denn sowohl im griechisch-römischen Kulturraum65 als auch im Judentum66 findet sich diese Anrede für Gott. Bemerkenswert ist allerdings die Häufigkeit, denn das Wort πατήρ („Vater“) für Gott begegnet im Munde Jesu ca. 170mal in den Evangelien. Obwohl ein Großteil dieser Belege nicht als authentische Rede Jesu gewertet werden kann, zeigt die darin sichtbare Wirkungsgeschichte, dass „Vater“ die für Jesus typische Gottesbezeichnung war. Bemerkenswert ist auch die konkrete Form der Vateranrede Jesu mit
Im Vaterunser verbindet sich die Anrede Gottes als „Vater/Abba“ sogleich mit der Bitte um die Heiligung des Namens und das Kommen der Herrschaft des Vaters (Lk 11,2par). Gottes neuschaffendes Handeln soll sich durchsetzen und zum Ziel kommen, so dass alle den Namen des einen Vaters bekennen und somit sein Herr- und Königsein anerkennen. Die Wir-Bitten (Lk 11,3.4) des Vaterunsers fallen aus diesem eschatologischen Bezug nicht heraus, sondern applizieren nur das in den beiden ersten Bitten angesprochene Handeln Gottes auf die Existenz der davon Betroffenen. Die Bitte um die Vergebung der Schuld (Lk 11,4a; vgl. auch Mk 11,25; Mt 6,14) unterstreicht das menschliche Angewiesensein auf das jetzt geschehende, die Schuld tilgende Erwählungshandeln Gottes und versichert sich dessen in der Bereitschaft, selbst Schuld zu vergeben. Die Schlussbitte (Lk 11,4b: „Und führe uns nicht in Versuchung“) bringt zum Ausdruck, dass der Beter das neue Gottesverhältnis nicht in eigener Kraft durchhalten kann, sondern nur, wenn Gott ihn durch alle Versuchung hält und ihn in der Anfechtung bewahrt. Auch die Brot-Bitte (Lk 11,3par) ist zutiefst eschatologisch geprägt, denn der Beter bittet nur um das notwendige Brot für heute, d.h. er erwartet eine andere Zukunft, die über die irdische Vor-Sorge hinausgeht. Es ist die eschatologische Zukunft, die in der vorangehenden Bitte angesprochen wurde. Die Sorge für morgen ist unnötig; nicht nur, weil die eventuell morgen kommende Gottesherrschaft die Vorsorge von heute als voreilig ausweisen könnte, sondern weil das Geschehen der Gottesherrschaft die Gewissheit gibt, dass der Vater das jeweils heute Nötige geben wird, bis er dieses Geschehen zum Ziel gebracht hat. Deshalb mündet die Spruchgruppe vom Bitten (Q 11,9–13) und vom Nicht-Sorgen in Q (Lk 12,22b–31/Mt 6,25–33) in den Hinweis, dass „euer Vater weiß, dass ihr dies (alles) braucht“; Lk 12,30bpar), und dann mit der Mahnung schließt: „Vielmehr sucht seine (= des Vaters!) Königsherrschaft, und dies (alles) wird euch dazugegeben“ (Lk 12,31par). Der Rückgriff auf weisheitliche Motive aus dem Bereich der Schöpfungswirklichkeit zur Veranschaulichung der Sorge des Vaters (vgl. „die Vögel des Himmels“ und „die Lilien (des Feldes)“ in Lk 12,24.27f /Mt 6,26.28–30; ferner Lk 12,6f/Mt 10,29–31), zeigt, dass Jesus das Alltägliche in einem neuen eschatologischen Licht sieht. Das erwählende Handeln Gottes gibt ihm die Gewissheit, dass sein Vater weiß und gibt, was zum Leben notwendig ist (Lk 12,30bpar; vgl. auch Mt 6,8). Die Eschatologie Jesu ist der sachgemäße Ort seiner Rede vom Vater, so dass die Theozentrik eschatologisch strukturiert ist! Die eschatologische Perspektive prägt bei Jesus das Gottesbild, man kann von einer „Koinzidenz von ‚Aufblick‘ und ‚Ausblick‘, von Theo-logie und Eschato-logie“69, von einem gegenseitigen Durchdringen von Aufblicken zum Vater und Ausblicken auf die kommende Basileia bei Jesus sprechen. Jesus verkündet den einen Gott als den eschatologisch handelnden Vater, dessen Herrschaft er als bereits gegenwärtiges Geschehen erfährt.
Jesus hat ein neues, aber keineswegs unjüdisches Gottesbild gebracht. Es stand allerdings in Spannung zu den herrschenden Gottesbildern im Judentum, denn Jesus ließ (wie der Täufer) zentrale Elemente der Gottesvorstellung seiner Zeit außer Acht und wertete andere Traditionen neu. Auffällig ist zunächst, worauf sich Jesus nicht beruft70: Der für das Judentum seiner Zeit zentrale Bundesgedanke71 wird ebenso wenig aufgegriffen wie die Exodus- und Landtradition, die Geschichte Israels kommt nur ansatzweise in den Blick. Die Erzväter- und Zionstradition erscheint auffälligerweise im Kontext des Verhältnisses Israels zu den Heiden und wird entschieden abgewandelt (s.u. 3.8.3). Obwohl sich Jesus zu Israel gesandt weiß, nimmt er die geläufige Opposition