Theologie des Neuen Testaments. Udo Schnelle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Udo Schnelle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846347270
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ist legitim die Frage nach der Kontinuität des Evangeliums in der Diskontinuität der Zeiten und der in Variation des Kerygmas.“5 Zwar war man weit davon entfernt, ein Leben Jesu rekonstruieren zu können, aber man erkannte, dass zwischen der Verkündigung Jesu und der frühen Gemeinde nicht so radikal getrennt werden konnte, wie Bultmann dies tat. Käsemann stellte bei seiner Rekonstruktion das sogenannte Differenzkriterium in den Mittelpunkt, wonach wir einigermaßen festen historischen Boden unter den Füßen haben, wo sich eine bestimmte Jesustradition weder aus dem Judentum noch aus dem frühen Christentum ableiten lässt. Als einflussreiche Jesusbücher aus dieser Forschungsphase sind die Werke von Günther Bornkamm (1905–1990) und Herbert Braun (1903–1991) zu nennen.

      Die neuere Jesusforschung in Amerika (‚third quest‘)6 ist in sich uneinheitlich, deutlich stehen aber die Forderung nach Einbeziehung aller Quellen (außerkanonische Überlieferung, Archäologie, postulierte ‚Quellen‘7) und eine veränderte Wertung von Quellen (Qumran-Schriften, Nag-Hammadi-Funde mit dem Thomasevangelium) im Mittelpunkt der Diskussion8. So gelten die Qumranfunde als ein Zeugnis für die Vielschichtigkeit des Judentums im 1.Jh. n.Chr.9; diese Vielschichtigkeit ermöglicht es, auch Jesus von Nazareth konsequent im Rahmen des Judentums seiner Zeit zu interpretieren (z.B. G.Vermes, E.P. Sanders). Das von E.Käsemann so hoch geschätzte Differenzkriterium wird einer scharfen Kritik unterzogen, Jesus gilt als besonderer Jude innerhalb des Judentums10. Eine radikale Neubewertung erfährt teilweise das Thomas-Evangelium, das von einigen Exegeten als ältestes Zeugnis von Jesusüberlieferungen angesehen und nicht in die Mitte des 2.Jh., sondern um 50 n.Chr. datiert wird (J.D. Crossan). Eine solche Interpretation des Thomasevangeliums führt zu einem veränderten Jesusbild, bei dem nicht mehr die futurische Eschatologie im Mittelpunkt steht. Jesus ist nicht (mehr) der Verkünder des kommenden Reiches Gottes, sondern ein gesellschaftlich unangepasster, geisterfüllter, charismatischer Weisheitslehrer und Erneuerer (M.J. Borg). Allerdings sprechen die konsequente Entkontextualisierung der Worte Jesu, die sekundäre Stilisierung überkommener Formen und die gänzliche Abkopplung von der Geschichte Israels deutlich für eine spätere Datierung des Thomasevangeliums11.

      In Teilen der nordamerikanischen Jesusforschung war und ist deutlich die Tendenz zu spüren, tatsächliche oder postulierte außerkanonische Überlieferungen in den Rang von Vor- oder Nebenformen der synoptischen und johanneischen Jesusüberlieferung zu erheben (H.Köster/J.M. Robinson12; J.D. Crossan, B.L. Mack13). Das Ziel solcher Konstruktion liegt zweifellos darin, die Deutungsmacht der kanonischen Evangelien zu brechen und ein alternatives Jesusbild zu etablieren. Dabei dienen häufig die Lust am Sensationellen (Jesus und die Frauen; gleichgeschlechtliche Liebe, Jesus als Prototyp alternativen Lebens, undogmatische Anfänge des Christentums), die bloße Vermutung und das unbewiesene Postulat als Stimulans für eine bewusst öffentlichkeitswirksam geführte Debatte14. Historischer Kritik halten solche Konstruktionen nicht stand, denn weder die Existenz eines ‚geheimen Markusevangeliums‘ oder einer ‚Semeia-Quelle‘15 lassen sich wahrscheinlich machen und das Thomasevangelium gehört in das 2.Jh.!

      Schließlich ist die neue Frage nach Jesus durch eine starke Einbeziehung sozialgeschichtlicher und kultur-hermeneutischer Fragestellungen16 sowie ein Zurücktreten genuin theologischer Themen gekennzeichnet. Nach der Funktion der radikalen Liebes- und Versöhnungsethik Jesu innerhalb der damaligen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Gegebenheiten wird ebenso gefragt wie nach der besonderen Form des Judentums in Galiläa oder nach Übereinstimmungen zwischen der Jesusbewegung und der Kynikerbewegung in Syrien/Palästina17.

      Das Phänomen der Erinnerung spielt innerhalb der Jesusforschung schon seit Jahrzehnten eine Rolle. Dabei rückten in den letzten Jahren zwei Forschungsrichtungen in den Vordergrund:

      1) Das Konzept der Augenzeugen, wobei vor allem mit Hinweis auf die Gedächtnis- und Erzählforschung von einer gesicherten und stabilen mündlichen Tradition ausgegangen wird, die bei Augenzeugen des Geschehens (vor allem dem Zwölferkreis) ihren Ausgangspunkt hat18. Dies könnte für kurze stabile Überlieferungseinheiten (Einzellogien, kurze Logiensammlungen, Gleichnisse, Sentenzen) durchaus zutreffen, nicht aber für größere komplexe Texteinheiten. Zumal die Einbindung einer Erzählung in einen vorher nicht vorhandenen schriftlichen Kontext die Textgestalt verändert, was gegen die These einer kontinuierlichen Traditionsentwicklung vom Mündlichen zum Schriftlichen spricht. Hinzu kommt, dass dieser Ansatz teilweise mit apologetischen Motiven verbunden ist, indem die historische Zuverlässigkeit der Traditionen stark betont wird.

      2) Tendenziell in die entgegengesetzte Richtung geht der sog. memory approach, der vor allem im anglo-amerikanischen Bereich beheimatet ist. Er betont im Rahmen der neueren geschichtstheoretischen Diskussion (s.o. 1.1–3)19, dass jeder Erinnerungszugang unumgänglich durch die je eigene Gegenwart des Erzählenden/der Erzählenden geprägt ist. Im Mittelpunkt stehen die Interessen und Motive der Erzählgemeinschaft. Die Texte sagen immer zuerst etwas über die aus, die sie überliefern; über ihre Erinnerungskultur, ihre Probleme und ihre theologischen Konzepte. Nicht die Vergangenheit an sich wurde bewahrt, sondern als Wirkung von Vergangenheit jene Traditionen, die einer Erzählgemeinschaft zur Deutung ihrer Gegenwart wichtig waren. Diese zutreffenden Beobachtungen, wonach uns Jesus nur in den narrativen Präsentationen der Evangelien zugänglich ist (s. u. 3.1.1), werden jedoch vielfach mit grundsätzlichen Einwänden20 gegen die gängigen Kriterien der kritischen Jesus-Forschung verbunden (s. u. 3.1.2). Was der memory approach der Jesusforschung vorwirft, trifft aber in einem viel höheren Maß für ihn selbst zu: eine unpräzise Fragestellung mit einer völlig unklaren Methodik21. Zunächst ist social memory keine Methode, sondern eine Fragestellung; besser: eine Metapher, in die jeder/jede etwas hineinlegen kann. Erinnerung gibt es streng genommen immer nur bei Einzelpersonen. Kann man die Erinnerungen einer Gruppe erfassen? Es geht um anonyme Erinnerungs- und Erzählprozesse von Gemeinschaften, die sich aber nicht wirklich greifen lassen und faktisch nur behauptet werden! Hinzu kommt: Die Evangelien sind keine abgeschlossenen narrativen Räume, die nur auf einer Ebene – der Ebene der Erzählgemeinschaft – Auskunft über sich selbst geben. Vielmehr sind Gedächtnis, Erinnerung und Erzählung grundsätzlich offene Systeme, das Resultat einer Geschichte und als solche reflektieren sie Geschichte. Geschichte geht in die Texte ein und wird in und mit den Texten verarbeitet. Deshalb werden Textgrenzen keineswegs überschritten, wenn methodisch reflektiert über die Jesusbilder der erzählenden Gemeinschaften hinaus nach den Ausgangspunkten dieser Bilder in den Texten gefragt wird: dem Wirken des geschichtlichen Jesus von Nazareth. Die von und über Jesus handelnden Texte selbst geben zahlreiche Hinweise auf sie prägende historische Ereignisse. Genau diese Ereignisse überliefern uns die Erzählgemeinschaften und man würde ihr Interesse geradezu ins Gegenteil verkehren, bliebe man auf ihrer Ebene stehen.

      Unübersehbar sind auch die neuen Jesus-Bilder Spiegel ihrer Zeit; der Jesus der Postmoderne erfüllt alle politischen und kulturellen Hoffnungen seiner Interpreten/Interpretinnen: Er überwindet geschlechtsspezifische, religiöse, kulturelle und politische Spaltungen, wird so zum Sozialreformer und universalen Versöhner. Deutlich in den Hintergrund treten alle nicht zeitgemäßen Aspekte des Wirkens Jesu: seine Wundertätigkeit, seine Gerichtspredigt mit ihren dunklen Visionen und sein Scheitern an den gesellschaftlichen/politischen Verhältnissen der Zeit. Er ist vor allem das, was auch wir sind und sein wollen: Mensch, Freund und Vorbild. Auf dem Hintergrund der vorangegangenen geschichtstheoretischen Überlegungen (s.o. 1) überrascht dies nicht, denn jedes Jesus-Bild ist unausweichlich eine Konstruktion der Exegeten in ihrer Zeit.

      Methodisch zweifelhaft wird dann aber ein Grundzug, der nach wie vor Teile der internationalen Jesusforschung bestimmt: den ‚historischen‘, ‚wirklichen‘ Jesus hinter den uns vorliegenden Quellen zu finden22. Jesusforschung wird dabei weitgehend als ein reduktives Verfahren verstanden, mit dem Ziel, hinter der Vielfalt der Deutungen die tatsächlich geschehene Geschichte aufzuspüren. Auch das vermehrte Wissen über das antike Judentum, die vertieften Einblicke in die historischen und sozialen Kontexte Galiläas im 1.Jh. und eine reflektierte Methodik können die Perspektivität und Relativität historischer Erkenntnis nicht überwinden. Erst in der narrativen