Fremdheit scheint bei Venuti ein im Text gesetztes Faktum zu sein. Wenn allerdings in der Übersetzung Fremdheit repräsentiert wird, so bedeutet dies nicht, dass damit eine Realität des Anderen wiedergegeben wird. Judith Butler, unter anderen, weist auf die Gefahr hin, die Beziehung zwischen der sichtbaren Repräsentation und dem Realen zu verwechseln: „[T]he real is positioned both before and after its representation; and representation becomes a moment of the reproduction and consolidation of the real“ (Butler 1990: 106). Eine Absolutsetzung des kulturell Anderen bzw. seiner Repräsentation in der Übersetzung, wie dies Venuti indirekt fordert, birgt letztlich auch die Gefahr seiner bzw. ihrer Essentialisierung. Wie Clive Scott (vgl. 2012: 11) treffend feststellt, führt die Annahme einer unhinterfragten Differenz zwischen zwei Sprachen dazu, dass ÜbersetzerInnen in Begriffen wie sprachlicher Identität und nationaler Kultur gefangen gehalten werden und damit der Blick auf andere übersetzerische Möglichkeiten und damit auch Formen von Sichtbarkeit versperrt wird.
Das kulturell Andere und seine Vermittlung durch eine verfremdende Übersetzungsstrategie wird bei Venuti in eine lineare Relation zur Sichtbarkeit gesetzt. Sichtbarkeit wird also von vornherein und unabhängig von situativen, sozialen und kulturellen Faktoren mit bestimmten Eigenschaften verknüpft, eine Haltung, die der Soziologe Axel Honneth in seiner Diskussion von Sichtbarkeitskategorien als „starken Wertrealismus“ (Honneth 2003a: 331) bezeichnet. Sichtbarkeit ist jedoch von Normen, Erwartungen und Werten abhängig, die einem ständigen, kulturellen und sozialen Wandel unterworfen sind. Folglich erweist sich die Annahme einer starren Korrelation zwischen Sichtbarkeit und einer bestimmten Übersetzungsmethode als nicht haltbar, was gerade bei einem weiteren Blick zurück in die Geschichte der Übersetzung deutlich wird: Wie Coldiron (2012) in ihrer Studie zeigt, wurde die (Un-)Sichtbarmachung des Fremden in verschiedenen Epochen mit unterschiedlichen Wertigkeiten versehen. Eine flüssige Übersetzung bedeutete nicht automatisch Unsichtbarkeit von ÜbersetzerInnen, im Gegenteil, sie konnten durch Vorworte, Kommentare auf die Schwierigkeiten der Übersetzung hinweisen, ihren Wert hervorstreichen und gleichzeitig das Fremde weitgehend naturalisieren. Gerade eine – zumindest als Postulat – stark einbürgernde Übersetzung, wie Luthers deutsche Fassung der Bibel zeigt, wie immens sichtbar und exponiert eine Übersetzung sein kann, obwohl sie gerade die Lesbarkeit und Verständlichkeit zur Maxime erhebt. Zwar integriert Venuti – wie auch der Untertitel seines Buches deutlich macht – eine historische Dimension in seine Betrachtungen, die allerdings im Wesentlichen nur ins 19. Jahrhundert, das von der romantischen Sicht auf die Fremdheit der Sprachen geprägt war, zurückreicht.
Wie eine Übersetzung in Erscheinung tritt und damit sichtbar wird, wird durch die Normen und Erwartungen und auch die Einstellungen geregelt, die in einer Zeit, einer Kultur einer Gesellschaft für ein bestimmtes Genre bestehen. In diesem Zusammenhang scheint auch eine genauere Unterscheidung von Sichtbarkeit in einen Akt des Erkennens und des Anerkennens, wie sie der Sozialphilosoph Axel Honneth (2003b) vorgenommen hat, für die Übersetzung sinnvoll zu sein:2 Das Erkennen eines Translats stellt einen Akt der Identifikation dar. Dieser wird gesetzt, indem ich bewusst wahrnehme, dass ein Text eine Übersetzung ist. Da Übersetzungen zeit- und kulturabhängig unterschiedliche Merkmale aufweisen können, sind auch die jeweiligen Identifikationsmerkmale unterschiedlich. Vom Erkennen der Übersetzung ist die Anerkennung der Übersetzung zu unterscheiden. Anerkennung stellt einen „expressiven Akt“ dar, durch den dem Identifikationsakt „die Bedeutung des ‚Geltenlassens‘ der ‚Befürwortung‘“ verliehen wird (Honneth 2003b: 15).
Das komplexe und komplizierte Verhältnis dieser beiden Dimensionen von Sichtbarkeit kann an der Übersetzung von Lawrence Norfolks Roman Lemprière’s Dictionary (1991) illustriert werden. Die Übersetzung löste – mit einiger Zeitverzögerung – eine heftige Debatte um die Qualität der Übersetzung bzw. (fehlende) Maßstäbe der Übersetzungskritik aus. Sie veranschaulicht allerdings auch das dynamische Verhältnis zwischen Erkennen und Anerkennen der Übersetzung. Als die Übersetzung von Hanswilhelm Haefs im Herbst 1992 erschien, waren die Rezensionen meist hymnisch. Der Fokus lag auf den Konstruktionsprinzipien des Romans, seinen historischen Bezügen und vor allem den sprachlichen Meriten von Norfolk, die mit Umberto Eco und Thomas Pynchon verglichen wurden. Dass es sich um eine Übersetzung handelte, wurde nirgends ausführlich thematisiert; die stilistischen Eigenschaften des deutschen Textes wurden ausschließlich dem Autor zugeschrieben. Das Identifizieren des deutschsprachigen Textes als Übersetzung erfolgte sehr beiläufig: In der Rezension von Die Zeit (vgl. Kilb 1992) wurde lediglich am Ende der Rezension in den bibliographischen Angaben der Name des Übersetzers genannt; im Spiegel wurden die bibliographischen Angaben inklusive Nennung von Hanswilhelm Haefs in den Text eingefügt (vgl. Saltzwedel 1992). Wofür der Übersetzer Anerkennung erhielt, waren seine Sacherläuterungen, die für die Lektüre als hilfreich erachtet wurden (vgl. Saltzwedel 1992). Die Tatsache, dass der Übersetzer in einem Nachwort explizit anführte, dass er seine Aufgabe in der strengen Nachbildung des Originals und nicht im „Dienst an sogenanntem ‚schönen Deutsch‘“ sieht (Haefs 1992: 711), wurde nirgends erwähnt.
Einige Monate später ging allerdings ein heftiges Rauschen durch das deutsche Feuilleton: 11 literarische ÜbersetzerInnen wandten sich in einem offenen Brief, der an den Verlag der deutschen Ausgabe, Buchhändler- und Verlegerverbände sowie die Presse ging, gegen die Übersetzung mit dem Argument:3 „Es ist gar keine Übersetzung, sondern ein schon im Ansatz falscher und in der Ausführung jämmerlich gescheiterter Versuch einer Übersetzung.“ (Baumrucker u.a. 1992/1993: 1) Die Übersetzung erfüllt laut den unterzeichnenden ÜbersetzerInnen nicht die Identifikationsmerkmale einer Übersetzung, folglich kann sie als solche auch nicht anerkannt werden. Mit dem Versuch, die Übersetzung nicht gelten zu lassen – eine Form der Unsichtbarmachung – rückte die Übersetzung und die Legitimität der von Hanswilhelm Haefs postulierten verfremdenden Übersetzungsstrategie jedoch erst recht ins Rampenlicht. Die klare Sichtbarkeitsordnung von Venuti – auf der einen Seite die Verlage, die eine flüssige und damit unsichtbare Übersetzung wollen, auf der anderen Seite die ÜbersetzerInnen als MaklerInnen der Fremdheit – wurde dabei zum Teil auf den Kopf gestellt: Der Knaus Verlag, in dem Lemprière’s Wörterbuch erschien, aber auch Verlagslektoren, wie Karl Heinz Bittel, plädierten für eine sperrige und gegen eine flüssige, leicht verständliche Übersetzung (vgl. Bittel 1993: 10f.), während ÜbersetzerInnen darin vor allem einen Mangel an Stilempfinden, Sprachkenntnis und fehlender Lektoratsqualität sahen. Dass der Verlag sicherlich auch – oder vielleicht sogar vornehmlich – aus ökonomischen Gründen so argumentierte, um den bis dahin sehr erfolgreichen Verkauf des Buches nicht zu gefährden, ist sehr gut möglich. Dieser Fall zeigt sehr deutlich, dass Sichtbarkeit nicht einfach ist, sondern durch die Handlungen und unterschiedlichen Interessen der beteiligten AkteurInnen geschaffen wird. Sichtbarkeit vollzieht sich nicht auf eine bestimmte Weise, sie ist multifaktoriell. Die Praktiken der Sichtbarmachung sind dabei abhängig von sozialen, kulturellen, ästhetischen und auch ökonomischen Faktoren, die letztlich auch ausschlaggebend sind, inwieweit die Sichtbarkeit positiv oder negativ ausfällt.
Während in der Übersetzungswissenschaft Sichtbarkeit grundsätzlich als positiv dargestellt und Unsichtbarkeit als Problem erachtet wird, werden von WissenschaftlerInnen anderer Disziplinen auch die dunklen Seiten der Sichtbarkeit bzw. die Vorteile der Unsichtbarkeit thematisiert. Vor allem Michel Foucault hat gezeigt, wie Sichtbarkeit zu einem Instrument der Kontrolle werden kann. In seinem Buch Überwachen und Strafe (1977) beschäftigt er sich ausgehend von den Überwachungspraktiken in Strafsystemen mit der Problematik der Sichtbarkeit und kommt zu dem Schluss: „Sichtbarkeit ist eine Falle.“ (Foucault 1977: 257) In der Folge wurde auch in anderen – vor allem in sozialen – Kontexten Sichtbarkeit kritischer diskutiert. Auch ÜbersetzerInnen sehen Sichtbarkeit nicht zwangsläufig als Vorteil. So schreibt die Übersetzerin Mascha Dabić (2020: 62):
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