Galt Unsichtbarkeit in religiösem oder feudalem Umfeld einst als Privileg und Sichtbarkeit als Makel alles Irdischen, haben sich die Wertigkeiten im Kontext kulturwissenschaftlicher Theorie und identitätspolitischer Praxis umgekehrt: Gemäß der Logik heutiger Aufmerksamkeitsökonomien gilt das Streben nach Sichtbarkeit in der Mediengesellschaft als unerlässlich, während der Unsichtbare offensichtlich nicht über Reichweite und Relevanz verfügt; und ohne Wahrnehmbarkeit keine Macht. Solche Zusammenhänge mögen im literarischen Feld nicht ungefiltert gelten, doch betrifft die Konjunktur von Sichtbarkeitsimperativen auch das Literaturübersetzen. Lawrence Venutis Studie über „the translator’s invisibility“ (Venuti 1995, 2008) beschrieb das Übersetzen als eine nicht sichtbare Tätigkeit und reihte bereits vor über zwei Jahrzehnten die Übersetzer in die Liste all derer ein, die mehr Sichtbarkeit verdienten. Seitdem ist der Titel seines Buches zu einem Schlagwort der Diskussion geworden, ungeachtet der Tatsache, dass übersetzte Texte durchaus sichtbar sind (sonst wären sie ja nicht lesbar), ebenso wie die konkreten Personen, die übersetzen. Aber – siehe oben – „Was ist, unterscheidet sich von dem, was wir zu sehen meinen.“ Zunächst also wäre zu klären, was mit Unsichtbarkeit im literarischen Feld gemeint sein kann.
Betrachten wir zunächst Übersetzungen, einmal als Buch (als Ware im Buchhandel), einmal als Text (als Zeichenfolge). Da die Ware, die im deutschsprachigen Raum veröffentlichten übersetzten Bücher, bis heute nur in Ausnahmefällen auf dem Cover einen Hinweis auf den Übersetzer tragen, sind Übersetzungen in Buchhandlungen zwar (physisch) sichtbar, aber nicht als solche (kulturell) wahrnehmbar. Ähnliches lässt sich von den übersetzten Texten selbst sagen: Sie sind lesbar, also ganz sicher nicht (physisch) unsichtbar. Aber die diskursive Rahmung übersetzter Texte, wie sie in Metatexten ebenso erfolgt wie im editorischen Paratext, befördert eine Lektüre des übersetzten Textes, so als ob es der des Autors selbst wäre.2 Zwar entspringt jedes Wort der Übersetzung – mit Ausnahme von Eigennamen, Deiktika usw. – dem kreativen Prozess und den Gedanken des Übersetzers, doch die diskursiv beförderte und kulturell eingeübte Wahrnehmung lässt diese Tatsache in den Hintergrund treten. Die philologisch eindeutig zu benennende Sichtbarkeit des übersetzten Textes wird in der kulturellen Praxis überschrieben von einer Unsichtbarkeit, die korrekter als Nichtwahrnehmung zu benennen wäre (vgl. Heibert 2015). Der Grammatik, die hinter diesem Bestreben steht, Übersetzungen möglichst nicht als solche zu lesen, werde ich im Folgenden nachgehen.
Was nun die Übersetzer betrifft, so möchte ich ihre Sichtbarkeit im folgenden Abschnitt unterscheiden entlang einer soziologischen, einer ökonomisch-juristischen und philologisch-kulturellen Achse, wobei ich in dieser Einleitung die historische Perspektive ausklammern und allein die gegenwärtige Konstellation skizzieren möchte.
Soziologisch gesprochen sind Übersetzer, zumal Literaturübersetzer, irrelevant: Sie sind eine kleine Gruppe, in Krisensituationen sind sie nicht „systemrelevant“, und mangels ikonischer Zeichen des Berufstandes sind sie sozial nicht als solche erkennbar wie Ärzte (weißer Kittel) oder Polizisten (Uniform). Auch innerhalb des literarischen Feldes haben sie, die meist allein am heimischen Schreibtisch arbeiten, anders als der Buchhändler des Vertrauens oder der zeitweise im Zentrum der Aufmerksamkeit stehende Autor kein Gesicht.
Die ökonomisch-juristische Achse der (Un-)Sichtbarkeit nimmt Effekte in den Blick, die sich aus den im Durchschnitt mit Literaturübersetzungen zu erzielenden Einnahmen sowie dem Urheberrecht ergeben. Die geistige Urheberschaft an einem übersetzten Text ist heutzutage rechtlich zweifelsfrei anerkannt, dennoch drängt das Urheberrecht den Schöpfer gegenüber den Verwertern (Verlage, Sender, Plattformen usw.) in eine Position der Schwäche: Von den Berufsverbänden angestrebte Rahmenverträge oder Mindesthonorare kommen seit Jahren branchenweit nicht zustande, weshalb Literaturübersetzer wie auch die meisten Autoren als Geringverdiener gelten.3 Eine ökonomische Potenz, die sich in (mediale) Sichtbarkeit transformieren ließe, ist für Übersetzer so gut wie ausgeschlossen. Mangels Macht und Einfluss wird ihnen nicht der rote Teppich ausgerollt. Etwas besser steht es um die Sichtbarkeit der Literaturübersetzer als Urheber – wenn sie denn in der Lage sind auf öffentlichen Foren, Bühnen, Festivals so gewandt und gewinnend aufzutreten, dass sie als Performer Sichtbarkeit gewinnen; ein Talent, das nur den Wenigsten gegeben ist.
Unsichtbarkeit im philologisch-kulturellen Sinn meint zunächst einmal jene „invisibility“, die Venuti beklagte und die sich daraus ergibt, dass (US-amerikanische) Übersetzungen dazu tendierten, einbürgernden Strategien zu gehorchen. Venuti argumentiert hier entlang der binär angelegten Denkfigur, wie sie sich in vielen älteren Studien zur Literaturübersetzung findet (vgl. Buschmann 2015: 165f.), denn als Ausweg aus der selbstverschuldeten Unsichtbarkeit aufgrund illusionistischer Übersetzungspoetik forderte er einen verfremdenden oder anti-illusionistischen Ansatz des Übersetzens. Auf der philologisch zu bearbeitenden textuellen Ebene solle der Übersetzer sich durch Syntax, Wortwahl, Idiomatik und andere Einzelentscheidungen so zu erkennen geben, dass er als Subjekt des derart verfremdet übersetzten Textes sichtbar werde. Venutis Plädoyer für das „foreignizing“ im Übersetzen ist aus unterschiedlichsten Richtungen widersprochen worden (vgl. Martín Muñoz 1995; Freitas 2003; Pym et al. 2006; Prunč 2012: 265ff.). Für die folgenden Überlegungen relevant ist vor allem die Befragung seiner Prämisse: Sind Übersetzer tatsächlich „invisible“, selbst wenn sie sich einer Poetik der Einbürgerung verschreiben und eine Übersetzung abliefern, die sich so liest, als wäre sie auf Deutsch geschrieben? Philologisch betrachtet sind sie – siehe oben – ja in beinahe jedem Wort sichtbar, nur werden sie nicht als übersetzend schreibende Subjekte wahrgenommen. Auch hier wäre also zu unterscheiden zwischen einer philologisch objektivierbaren Sichtbarkeit, die aber nicht in eine entsprechende kulturelle Wahrnehmung übergeht. An diesem Punkt drängt sich zum zweiten Mal die Frage auf, wie sich dieses Auseinanderfallen von Sichtbarkeit und Wahrnehmung erklären lässt.
Zu fragen ist also nach der Grammatik, die in unserer Kultur die Sichtbarkeit und Wahrnehmbarkeit von Übersetzern und Übersetzungen steuert. Eingedenk der angeschnittenen Asymmetrien untersuchen die folgenden Ausführungen zwei in der Diskussion bisher nicht berücksichtige Bereiche, die das symbolische Kapital von Übersetzern und die Wertigkeit des Übersetzers prägen: zum einen die Thematisierung des Übersetzens in Sprichworten und Redensarten, zum anderen die Sichtbarkeit von Übersetzungen in Bibliotheken, insbesondere ihre Findbarkeit in Bibliothekskatalogen. Wie ich zeigen werde, gibt es zwar viele geflügelte Worte über Übersetzer, aber vor allem viele abschätzig konnotierte; es gibt zwar viele Übersetzungen in Bibliotheken, aber sie sind dort aufgrund der Systematik der Katalogisierung nur eingeschränkt recherchierbar, unauffindbar und daher für die Kulturgeschichtsschreibung weitgehend unsichtbar.
2 Die Leerstelle im Archiv: Warum Literaturübersetzungen so schwer zu finden sind
Bibliotheken sind das zentrale Archiv unserer Schriftkultur. Sie sammeln selbstverständlich auch Übersetzungen, die dort physisch vorhanden und potenziell sichtbar sind; in Nationalbibliotheken sogar für große Zeiträume weitgehend vollständig. Dennoch sind Übersetzer in der Bibliothek unsichtbar. Übersetzer sind dort – zweitens – nicht zufällig unsichtbar, sondern systembedingt nicht zu finden, weil die Regeln der Katalogisierung sie systemisch ausschließen. Da diese bibliothekarischen Normen erst seit den 2000er Jahren international halbwegs verpflichtend vorschreiben, bei der Erfassung eines Buches auch den Übersetzer zu