Auch auf anderen Ebenen sind kleinere Veränderungen zu erkennen, die von einem gesteigerten Bewusstsein für den Wert der Übersetzung zeugen. Insbesondere wurden mehr Übersetzer:innenpreise und -stipendien eingerichtet, so etwa die Radial-Stipendien des Deutschen Übersetzerfonds, der Deutsch-Hebräische Übersetzerpreis oder der Nerval-Goethe-Preis. Und natürlich: Auch die Forschung wendet sich verstärkt der Rolle von Übersetzungen zu, holt diese aus ihrem vermeintlichen Schattendasein heraus und leistet damit einen kleinen Beitrag, die Bedingungen, Möglichkeiten und Folgen von Literaturkontakten zu reflektieren.1 Diesem Ziel ist auch der vorliegende Band verpflichtet, der die Sichtbarkeit der Übersetzung aus dem Spannungsfeld zwischen Text und literarischem Feld heraus begreift und exemplarisch konkretisiert. Um dies zu leisten, werden in dem Teil I „Theorien der Übersetzung“ Formen und Strategien der Un/Sichtbarkeit von Übersetzungen thematisiert und kritisch kommentiert. Klaus Kaindl problematisiert in seinem Beitrag auch unter Rückgriff auf Ralph Ellisons Roman Invisible Man (1952) und dessen (Neu-)Übersetzung allzu eindimensionale Konzepte von Sichtbarkeit. In seiner theoretischen Fundierung zeigt er in kritischer Auseinandersetzung mit Venutis Thesen, dass flüssige Übersetzungen keineswegs gleichzusetzen sind mit der Unsichtbarkeit von Übersetzer:innen. Sichtbarkeit, so eines seiner zentralen Argumente, ist keine textuell gegebene Kategorie, sondern wird durch verschiedene Akteur:innen generiert und ist damit als ‚multifaktoriell‘ zu konzipieren. In seinem Beitrag über „Dienstboten, Kuppler, Verräter“ setzt sich Albrecht Buschmann aus begriffsgeschichtlicher und kulturtheoretischer Perspektive mit dem Phänomen der Sichtbarkeit auseinander und gelangt dabei zu einer Unterscheidung zwischen einer philologisch objektivierbaren Sichtbarkeit und der kulturellen Wahrnehmung derselben. Um dieser Wahrnehmbarkeit auf die Spur zu kommen, stellt er zwei bislang wenig beachtete Bereiche ins Zentrum, nämlich zum einen die Thematisierung des Übersetzens in Sprichworten und Redensarten, zum anderen die Sichtbarkeit von Übersetzungen in Bibliotheken bzw. Bibliothekskatalogen.
Teil II des Bandes „Praktiken der Übersetzung – Zielsprache Deutsch“ setzt sich zum Ziel, interlinguale Übersetzungen ins Deutsche zu analysieren und einige der Voraussetzungen und Effekte translatorischer Entscheidungen zu reflektieren. Berücksichtigt werden nicht nur die Rolle von Übersetzer:innen, sondern auch die Anforderungen des Buchmarktes. Die Analyse sprachlicher Spezifika wird hier ergänzt durch soziologisch orientierte Ansätze zum literarischen Feld, auch in der Absicht, starre Grenzen zwischen dem sogenannten Innen und Außen des Textes zu dynamisieren. Der Beitrag von Ursula Reutner und Philipp Heidepeter untersucht translatorische Sichtbarkeit aus vergleichender Perspektive: Es geht um die Übersetzung sowie Neuübersetzung von Raymond Queneaus Klassiker Zazie dans le métro (1959), vorgelegt von Eugen Helmlé (1960) bzw. Frank Heibert (2019). Dabei steht der unterschiedliche Umgang mit Namen und Kulturspezifika, die als Kristallisationspunkte für die Vermittlung sprachlicher und kultureller Alterität verstanden werden, im Vordergrund. Um Fragen nach translatorischer Sichtbarkeit zu beantworten, entwickelt der Beitrag aus sprachwissenschaftlicher Perspektive Kategorien, die das Maß der sprachlichen Akzentuierung von französischen Partikularitäten im Zieltext beschreibbar machen. Es geht weiter mit einem Beitrag von Helena Küster zur „Allgegenwart und Unsichtbarkeit des Englischen in der Zielsprache Deutsch“, der sich wiederum auf grundlegendere Weise mit Venutis Unterscheidung zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit befasst und zugleich die Rolle von Anglizismen in deutschsprachigen Übersetzungen beleuchtet. Der Beitrag problematisiert die kulturspezifische Prägung von Venutis Thesen, die sich, so die grundlegende Einsicht, gerade auch aufgrund symbolischer Hierarchien zwischen Sprachen kaum auf andere Kontexte übertragen lassen. Die Integration von Anglizismen in deutschsprachigen Übersetzungen ist eben nicht primär als Strategie der Verfremdung zu verstehen, die auf Akzentuierung von sprachlicher und kultureller Differenz ausgerichtet ist. Vielmehr unterstellt sie eine oftmals trügerische Nähe und Verstehbarkeit anglo-amerikanischer Kulturen. Der Beitrag von Eva Ulrike Pirker nimmt sich den übersetzerischen Herausforderungen an, die „Figur(ation)en des Übersetzens“ in literarischen Texten mit sich bringen. Konkret geht es um die deutsche Übersetzung von Petina Gappahs Roman Out of Darkness, Shining Light (2019), die von Anette Grube (2018) angefertigt wurde. Übersetzungsfigurationen in der Literatur machen häufig gerade auf die Unübersetzbarkeit – von Wertvorstellungen und Weltzugängen in unterschiedliche Kontexte, Medien und Sprachen – aufmerksam. Sie erfordern daher ein besonderes Maß von Reflexion über die in der Übersetzung getroffenen Setzungen. Der Artikel zeigt in einer kontextsensiblen und rezeptionsorientierten Analyse von Grubes Übersetzung Gewinne und Verluste entsprechender Setzungen. Der darauffolgende Artikel von Rike Bolte beleuchtet die Herausforderungen von Übersetzungen aus indigenen Sprachen in hegemoniale Literatursprachen – ein Thema, das trotz seiner Brisanz bislang kaum Beachtung gefunden hat. Ihr geht es vor allem um ethische Fragen, die die Übersetzung von in Wayuunaiki verfasster Literatur – konkret die Dichtung von Vito Apüshana – aufwirft. Wie lassen sich, so fragt die Wissenschaftlerin und Übersetzerin, die sozialen, politischen, kulturellen und kosmologischen Besonderheiten der südamerikanischen Wayuu-Kultur – und ihrer Sprache, Wayuunaiki –, überhaupt angemessen ins Deutsche übersetzen? Die Herausforderung, die entsprechende Übersetzungen ins Deutsche bedeuten, gründet nicht zuletzt in dem Umstand, dass diese immer medialisiert sind, also von einer bereits vorliegenden spanischen Übersetzung ausgehen. Christine Ivanovics Beitrag „Die radikale Übersetzung“ bildet schließlich den Abschluss von Teil II und schlägt bereits einen Bogen zu Teil III. Ivanovic fragt nach dem Stellenwert von sichtbaren und verfremdenden Übersetzungen, die trotz aller übersetzungstheoretischer Argumente bis heute eine untergeordnete Rolle auf dem Buchmarkt spielen. Sind radikalere Formen des Übersetzens, die Mehrdeutigkeiten und Leerstellen generieren, allein die Domäne einer übersetzerischen Avantgarde? Vor diesem Hintergrund lenkt Ivanovic den Blick auf das mehrsprachige und vielschichtige Werk von Yoko Tawada. Tawada ist eine der – im deutschsprachigen Raum stark wahrgenommenen – transkulturellen Autor:innen, die übersetzen und schreiben und das historisch belastete Verhältnis von Original und Übersetzung