Diachrone Betrachtung – Anteil der Cervantes-Übersetzungen am Markt der Übersetzungen aus Spanien (1970–2015)
In Fünfjahresschritten gemittelt erkennt man deutlich den Boom der Übersetzungen aus dem Spanischen, und dass das Gewicht des meistübersetzten Autors abnimmt. Anfang der 1970er Jahre waren viel übersetzte Autoren wie Cervantes oder Lorca (bei ihm sind die Relationen ähnlich) im damals noch kleinen Gesamtmarkt dominant. Ab den 1990er Jahren ändern sich die Relationen: Noch immer wird Cervantes regelmäßig und in beträchtlicher Zahl verlegt, aber in einem nun wesentlich größeren Gesamtmarkt. Seine Titel sind nunmehr Teil einer weitaus differenzierteren Rezeption der spanischen Literatur.
Ein solcher algorithmengestützer Zugriff auf den Katalog ermöglicht datenbasierte Antworten auf vielfältige Fragestellungen zur Rezeption übersetzter Literatur. Konkret könnte man nun auf Grundlage solcher Auswertungen zum Beispiel der Frage nachgehen, ob es tatsächlich einen „Javier Marías-Effekt“ für die Rezeption der spanischen Literatur in Deutschland gab oder einen „Umberto Eco-Effekt“ im Fall der Italienischen. Einschränkend muss allerdings hinzugefügt werden, dass selbst für die Zeit nach 1970 die verfügbaren Quelldaten mit Unsicherheit behaftet sind, weil die Auszeichnung der Übersetzungen im Katalog nicht eindeutig ausgelesen werden kann. Für die Zeit vor 1970 wird die Datenbasis wackelig, vor 1900 brüchig.
Wenn nun aber gilt, dass für eine valide kulturgeschichtliche Übersetzungsforschung Bezüge und Relationen lesbar sein müssen, um die einzelne Übersetzung und ihren Träger in ein halbwegs vollständiges Bild einzuordnen, dann ist solch eine Katalogrecherche mit avancierten Algorithmen zeitlich begrenzt und mit den vorgegebenen Recherchetools der öffentlich zugänglichen Nutzeroberfläche so gut wie gar nicht möglich. Es mögen zehntausende von Übersetzungen in den Magazinen der Bibliotheken stehen, man kann sie für die Zeit vor 1970 nicht systematisch recherchieren. Physisch besetzt jede von ihnen im Regal eine Stelle – kulturgeschichtlich aber bleibt sie eine Leerstelle.
Das ist gemeint, wenn hier von einer Leerstelle die Rede ist: Mit den vorhandenen Recherchetools sind Übersetzungen im Archiv nicht auffindbar. – Kommen wir nun zum Archiv der Sprache selbst, in dem Übersetzer und Übersetzungen durchaus sichtbar sind.
3 Sprichwörter, Redensarten und die kollektive Rede vom Übersetzen
Die bis hierher beschriebene bibliothekarische Unsichtbarkeit der Literaturübersetzung mag einst erfassungstechnisch begründet gewesen sein. Doch ist die Wirkmacht preußischer Bibliotheksregeln bis zum Ende des 20. Jahrhunderts nicht allein pragmatisch zu erklären. Was könnte es noch für Gründe geben, die Übersetzer nicht zu nennen? Irgendwie scheinen sie ja als unwichtig oder wenig wichtig zu gelten, und das nicht unter bibliophoben Analphabeten, sondern auch unter Bibliothekaren. Welche kulturellen Grammatiken stehen also hinter jener Logik, die die Recherche nach Übersetzern unmöglich macht, weshalb sie auch nicht angemessen in das Wissen über die Entstehung kultureller Tradition eingegangen sind? Dieser Frage möchte ich im Archiv der Sprache selbst nachgehen. Eine wichtige Quelle für solche Aussagen ist der Band La traduction en citations (Delisle 2007), in dem Jean Delisle über 3000 Einträge verzeichnet und allein für den Übersetzer als Akteur knapp 400 gängige Redensarten auflistet.1 Offensichtlich gibt es ein Archiv, in dem Übersetzer gut sichtbar verzeichnet und wahrnehmbar sind: die Sprache. Hier sind sie und ihre Arbeit seit Jahrhunderten präsent, und ein aufmerksamer Blick auf die vielen tausend Einträge fördert Einiges zu Tage, was den heutigen Umgang mit der Berufsgruppe erhellt.
Die Aussagekraft solcher Bonmots und Redensarten ist wissenschaftlich erprobt: Erinnert sei an Werner Krauss, der 1946 in einer Analyse spanischer Sprichworte ein kulturgeschichtliches Porträt des spanischen Siglo de Oro destillierte (vgl. Krauss 1988). Folgt man seinen methodologischen Überlegungen, wäre solchen Redensarten die Summa aller Rede vom Übersetzen eingeschrieben, die sich, Tradition geworden durch häufiges Zitieren, als Kanon Tag für Tag aufs Neue selbst bestätigt. Indem sie von Mund zu Mund gehen oder als Motto gesetzt werden, erzeugen sie trügerische Evidenz. Denn ob die in ihnen aufgehobenen Thesen zum Übersetzen sachlich begründet sind, ob sie vielleicht nur als Pointen in einem längst vergessenen Disput aufblitzten, ist nicht relevant; und noch weniger, ob sie dem heutigen Stand des Wissens entsprechen. Denn das Wissen über Sprache hat sich in den letzten gut 100 Jahren grundlegend verändert: Seit Ferdinand de Saussures Theorie des Zeichens haben wir eine vollkommen andere Vorstellung davon als alle Generationen vor ihm. Viele Redensarten zum Übersetzen aber lassen sich über Jahrhunderte zurückverfolgen, bis in Epochen, die Worte nicht als arbiträre Zeichen, sondern als Dinge betrachteten; dass im Übersetzen ein Ding nicht ein anderes Ding werden kann ohne substanzielle Veränderung leuchtete einst unmittelbar ein. Seit aber die Sprachwissenschaft Worte als Zeichen erkennt, deren Bedeutung variabel und veränderbar ist, kann das Übersetzen konzeptionell grundlegend anders gedacht werden. Doch die alten Sprichworte ficht das nicht an, denn sie werden – Saussure hin, Semiotik her – immer weiter zitiert und variiert. Wie ich nun an einigen Beispielen zeigen möchte, leben vor allem ihre alten Denkfiguren von ‚Verlust‘ und ‚Verfälschung‘ weiter. Sie sind die Zombies des Übersetzungsdenkens: Im Kern schon lange tot, aber als schaurig Untote unterhalten sie nach wie vor das Publikum.
3.1 Der skeptische Blick
Eine statische Auswertung der Einträge in Delisles Sammlung sowie der erwähnten Datenbank bringt folgendes Ergebnis: Nur in maximal einem Viertel der Belege kommt eine eindeutig positive Haltung gegenüber den Übersetzern zum Ausdruck, die dort etwa als ‚Brückenbauer‘ oder ‚Fährmänner‘ apostrophiert sind, als ‚Friedensstifter‘ oder ‚Zauberer mit Sprachen‘. Aber gut 75 Prozent der Benennungen sind hingegen kritisch, skeptisch, wenn nicht verletzend: Übersetzer seien ‚Souffleure‘, ‚Schattenschreiber‘, ‚Lohnschreiber‘, ‚fröhliche Vampire‘, ‚Bindestriche‘, ‚Trickser‘, ‚Nacherzähler‘ oder schlicht ‚Kolonisatoren des Ausgangstextes‘, kurz: ‚Herumirrende zwischen Grenzen‘ oder ‚Falschmünzer‘.1
Betrachten wir im zweiten Schritt die skeptischen Aussagen zum Übersetzen, die die weitaus größte Gruppe in den Sammlungen bilden: Gerade sie wirken vertraut, klingen ganz selbstverständlich, wir alle haben sie immer schon im Ohr. „Beim Übersetzen geht immer etwas verloren“, heißt es im deutschen Volksmund bedauernd; der Franzose formuliert seine analoge Skepsis mit Esprit: „Le mariage est la traduction en prose du poème de l’amour.“ Es heißt, Übersetzer seien ‚Künstler im Auftrag‘, Zwitterfiguren, bei denen die künstlerische Seite der Arbeit dadurch abgewertet ist, dass sie nur auf Auftragsbasis, also zweckgebunden erfolgt. Als Richtschnur für übersetzerisches Handeln gilt dem Mann auf der Straße: „Man muss so treu wie möglich und so frei wie nötig übersetzen.“ Friedrich Schleiermacher spitzt den gleichen Gedanken wie folgt zu: „Entweder der Uebersetzer läßt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er läßt den Leser möglichst in Ruhe und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen.“ (Schleiermacher 1963: 47)
Schleiermacher konstruiert hier eine Entweder-Oder-Maxime, die klug klingt, sich bei der praktischen Arbeit am konkreten Text aber schnell in Luft auflöst, weil die sprachlichen Entscheidungen feinstofflich zu komplex sind für solch ein Schwarz-Weiß-Schema. Viele skeptische Redensarten basieren auf solchen Entweder-Oder-Aussagen. Sie wirken wie Aporien, als ob sich die Pole ihrer Aussage kategoriell ausschließen würden. Es klingt ja auch irgendwie „logisch“, dass eine Übersetzung nicht zugleich treu und frei sein kann, oder? Aber die Grundlage solcher Entweder-Oder-Aussagen sind oft schlichte Setzungen ohne argumentative Herleitung. Denn was zum Beispiel im Umgang mit natürlichen Sprachen Treue sein soll und was Freiheit, bleibt unausgesprochen und wird nicht definiert. Die Wirkung solcher Setzungen, die sich als Aporien spreizen, ist weitreichend: Aus der Denkfigur