Ähnlich wie Goethe imaginiert Miguel de Cervantes das, was zwischen Ausgangs- und Zieltext steht, in einer optischen Metapher. An die Stelle des verführerischen Schleiers tritt bei ihm die Webart eines Teppichs, wenn er seinem Protagonisten Don Quijote folgendes Urteil in den Mund legt:
Dennoch bin ich der Ansicht, das Übersetzen von der einen Sprache in eine andere, […], so ist, als betrachtete man die flämischen Wandteppiche von der Rückseite her, wo man die Figuren zwar erkennt, doch nur unter allerlei Fäden, die sie verschleiern, so dass sie nicht in der Klarheit und dem Farbenglanz hervortreten wie auf der Vorderseite. (Cervantes 2008: 545)
Der Ritter kommentiert hier wohlgemerkt eine Übersetzung aus dem Italienischen ins Spanische: Das Bild des Teppichs, dessen kunstvolle Muster auf der Rückseite nur schemenhaft erkennbar seien, bezieht sich bei Cervantes konkret auf eine Übersetzung zwischen eng verwandten Sprachen und vor allem auf jenen Sonderfall, bei dem jemand Ausgangs- und Zielsprache gut beherrscht. Nur dann kann man beim ersten Blick auf die Übersetzung eine Ahnung von der sprachlichen Formung des Originals bekommen. Beide Einschränkungen aber haben die weite Verbreitung dieses Bildes über 400 Jahre hinweg nicht bremsen können. Noch im 20. Jahrhundert sekundiert der italienische Schriftsteller Leonardo Sciascia: „Am besten hat es Cervantes ausgedrückt: Übersetzung ist wie die Rückseite eines Teppichs“ (Cervantes 2008: 545). Gut zu erkennen ist hier, wie sich in der Überlieferungstradition das Bild (der Teppich und seine Webart) von den beiden höchst spezifischen Voraussetzungen der Aussage (verwandte und vom Sprecher beherrschte Sprachen) gelöst hat. Zudem suggeriert es bildhaft konkret und folglich sehr überzeugend, dass Literaturübersetzen nur eine Ahnung von dem vermitteln kann, was ursprünglich gesagt wurde; die Vorderseite des Teppichs, ihre dicht gewebte Schönheit ohne Brechung sowie die darauf beruhende ästhetische Wirkung des Originals bleiben für die Übersetzung unerreichbar. Kurz gesagt: Gutes Übersetzen ist unmöglich.
Die Unmöglichkeit guten Übersetzens: Diesen Gaul reiten zahlreiche Redensarten, mal schneidend („Poesie ist das, was in der Übersetzung verloren geht“, Robert Frost), mal pointiert („Das Original ist der Übersetzung nicht treu“, Jorge Luis Borges), mal die Metapher der Schifffahrt aufnehmend, die zwangsläufig im Schiffbruch endet. So Wilhelm von Humboldt:
Alles Übersetzen scheint mir schlechterdings ein Versuch zur Auflösung einer unmöglichen Aufgabe. Denn jeder Übersetzer muss an einer der beiden Klippen scheitern, sich entweder auf Kosten des Geschmacks und der Sprache seiner Nation zu genau an sein Original oder auf Kosten seines Originals zu sehr an Eigentümlichkeiten seiner Nation halten. Das Mittel hierzwischen ist nicht bloß schwer, sondern geradezu unmöglich. (Humboldt 1963: 78)
Der preußische Sprachwissenschaftler, der als Kenner europäischer, orientalischer und asiatischer Sprachen wusste wovon er sprach, ist eine der vielen Stimmen im Chor, die in solchen Entweder-Oder-Sätzen das Übersetzen als unmöglich markieren. Dessen Gesang ist so reich, dass er einen Unmöglichkeits-Topos erschaffen hat, der sich in Hunderten von Aufsatz- und Buchtiteln niederschlägt, die vom Übersetzen einzig und allein als ‚Problem‘ sprechen können.2
4 Vom Misstrauen zur Unsichtbarkeit
Redensarten über das Übersetzen speichern, tradieren und vermitteln viel Skepsis und Vorbehalt, reichlich Herabwürdigung, ein wenig Lobpreis. Soweit der Befund. Doch was steht hinter diesen Aussagen? Denn „ganz allgemein gesprochen wären Sprichwörter als Medium zu verstehen, in dem die Sprecher auf einen spezifischen Reiz reagieren, dem sie eine im Sprichwort formulierte Haltung ausdrücken, als Ausdruck eines spezifischen Bewusstseins“, so Werner Krauss (1988: 27). Wenn es einen Begriff für die Haltung gibt, die hinter der Mehrzahl der Aussagen steht, dann ist es der des Misstrauens. Misstrauen steckt in allen Aussagen der ersten Gruppe, der sich die weitaus meisten Belege zuordnen lassen. Dem Übersetzer und der Übersetzung wird grundsätzlich misstraut. Die beiden anderen Rubriken der hier vorgeschlagenen Sortierung wären demgegenüber zu verstehen einerseits als Zuspitzung (wenn aus Misstrauen Verachtung wird), andererseits als Gegenrede. Letztere, mit der dem Misstrauen demonstrativ eine Geste des Vertrauens entgegengesetzt wird, findet sich v.a. seit dem 20. Jahrhundert.
Wie aber passt dieser schlechte Leumund zusammen mit dem unbestreitbaren kulturellen Nutzen des Übersetzens? Wie lässt sich erklären, dass Übersetzen für die Entwicklung unserer Kulturen zentral und allgegenwärtig ist, dass es aber zugleich keine Wertschätzung erfährt, die dieser Relevanz annähernd angemessen wäre? Mehr noch, wie erklärt sich die Selbstverständlichkeit, mit der dieses Misstrauen von Generation zu Generation im Archiv der Sprache weitergetragen wird?
Wie auch immer die Ursprünge und Gründe für das Misstrauen kulturgeschichtlich zu erklären wären – fest steht, dass es unserer Sprach- und Diskursgeschichte so tief eingeschrieben ist, dass es ganz und gar selbstverständlich und wie naturalisiert daherkommt. Als ob hier ein Naturgesetz Geltung beanspruchen würde: Wasser kocht bei 100 Grad, auf den Sommer folgt der Herbst, Übersetzen ist verdächtig und den Übersetzern ist zu misstrauen. Wenn dem so ist, erklärt sich immerhin die lange selbstverständliche Sortierung der Bibliothek nach Grundregeln, die Übersetzungen unauffindbar macht. Denn wer so einen schlechten Ruf hat wie die Übersetzer, für den muss man keinen Platz auf der Karteikarte freiräumen. Er kann ruhig unauffindbar bleiben und in der Folge kulturell unsichtbar.
Literaturverzeichnis
Buschmann, Albrecht. 2015. „Von der Problemforschung zur Ermöglichungsforschung. Sieben Vorschläge für eine praxisorientierte Theorie des Übersetzens.“ In. Ders. (Hg.). Gutes Übersetzen. Neue Perspektiven für Theorie und Praxis des Literaturübersetzens. Berlin: de Gruyter, 163–176.
Cervantes, Miguel de. 2008. Der geistvolle Hidalgo Don Quijote von der Mancha. Band II, herausgegeben und übersetzt von Susanne Lange. München: Hanser Verlag.
Delisle, Jean. 2007. La traduction en métaphores. Ottawa: Presses Universitaires d’Ottawa.
Freitas, Luana F. de. 2003. „Visibilidade problemática en Venuti.“ Cadernos de Tradução 12, 55–63.
Goethe, Johann Wolfgang von. 1967a. Briefe. Hamburger Ausgabe Bd. IV. Hamburg: Christian Wegner Verlag.
—. 1967b. Maximen und Reflexionen. Hamburger Ausgabe Bd. 12. Hamburg: Christian Wegner Verlag.
Heibert, Frank. 20.09.2015. „Der unsichtbare Dritte.“ Der Tagesspiegel, 7.
Humboldt, Wilhelm von. 1963. „Einleitung zum Agamemnon.“ In: Hans Joachim Störig (Hg.). Das Problem des Übersetzens. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 71–96.
Krauss, Werner. 1988. Die Welt im spanischen Sprichwort. Leipzig: Reclam Verlag.
Laermann, Klaus. 09.06.2014. „Von Babel bis Pfingsten.“ Neue Zürcher Zeitung. Online verfügbar unter https://www.nzz.ch/meinung/debatte/von-babel-bis-pfingsten-1.18318291 [7.1.2021].
Lukrez. 2014. Über die Natur der Dinge. In deutsche Prosa übertragen und kommentiert von Klaus Binder. Berlin: Galiani Verlag.
Manguel, Alberto. 29.11.2003. „Propuestas para definir al lector ideal.“ El País. Online verfügbar unter https://www.elpais.com/diario/2003/11/29/babelia/1070066367_850215.html [7.1.2021].
Martín Muñoz, Ricardo. (1995): „La visibilidad al trasluz.“ Sendebar 6, 5–21.
Prunč, Erich. 2012. Entwicklungslinien der Translationswissenschaft. Von den Asymmetrien der Sprachen zu den Asymmetrien der