Dabei kann gegenwärtig noch offen bleiben, ob es sich dabei, wie Engelbrecht and vermutet,40 eher um ein Kohortenphänomen handelt, das sich mit dieser noch katholisch sozialisierten Generation erledigt haben wird, oder um ein typisches und damit bleibendes Phänomen der Nutzung religiöser Institutionen unter neuen gesellschaftlichen Bedingungen. Für beide Annahmen spricht einiges.
Drittens, und vielleicht am überraschendsten, wird dieser Gruppe im Untertitel der Studie, wenn auch in Anführungszeichen, der Frömmigkeitsbegriff zugesprochen. Das ist überraschend, überwindet es doch demonstrativ einen defizitorientierten Zugang zu dieser innerkirchlichen Mehrheitsgruppe.41 Der Titelbegriff „Kasualienfromme“ jedenfalls überschreitet markant bisher gültige Zuschreibungsmuster. Normalerweise werden nämlich jene, die sich nur an den kirchlichen Kasualien beteiligen, gerade nicht als „Fromme“ bezeichnet, sondern als „Abständige“ und „Taufscheinchristen“, so die früheren Bezeichnungen,42 oder als „Fernstehende“ und „Gelegenheitschristen“, so die neueren Zuschreibungen. All das sind sie natürlich offenkundig auch, aber wie die Studie eindrucksvoll zeigt eben nicht nur.
„Fromme“, das sind in der kirchlichen Normalwahrnehmung jene, die all das tun, was die Kirche für „Fromme“ vorschreibt. Es sind Menschen, die ihr Leben nachweisbar in ständiger Nähe zum kirchlichen Sozialraum und getreu dessen kognitiven, ethischen und ritualpraktischen Standards führen. Die Studie wendet nun diese klassisch binnenkirchliche Auszeichnungskategorie für hervorragendes Handeln und Leben ausgerechnet auf jene an, die gerade keine kontinuierliche Nähe zum kirchlichen Sozialraum halten. Das ist pfiffig, muss sich in seiner Berechtigung aber natürlich auch erweisen. Inwiefern also sind die ehemaligen „Lauen“ und „Fernstehenden“ tatsächlich „Fromme“, sollen die Anführungszeichen im Titel nicht Ironie oder unernste Anwendung des Begriffs „Fromme“ signalisieren?
Eine Unbekanntheitsthese, eine Mehrheitsthese und eine Frömmigkeitsthese also stecken im Ansatz und im titelgebenden Konzept der vorliegenden Untersuchung. Für die pastoraltheologische Lektüre sind das drei manifeste Provokationen, sie lohnen unbedingt die Beschäftigung, denn sie betreffen zentrale Felder kirchlicher Konstitution.
Die Mehrheitsthese betrifft die Kirchenbildung selber und die Bindekraft der Sozialformen der Kirche, ja überhaupt das Muster kirchlicher Vergemeinschaftung heute: Was bedeutet es, wenn sich die Mehrheit der Katholiken und Katholikinnen den klassischen Sozialformen der Kirche, vor allem der Gemeinde, entzieht, ohne die Kirche selber zu verlassen? Und was bedeutet das für die Pastoraltheologie als klassische Reflexions- und Konzeptionswissenschaft kirchlichen Handelns?
Die Frömmigkeitsthese betrifft die (Kirchen-)Mitgliedschaftsproblematik und die Frage: In welchen (virtuellen und/oder realen) Raum hinein orientieren sich die Kasualienfrommen, wenn es offenbar nicht der kirchliche Sozialraum mit seinen spezifischen Frömmigkeitsanforderungen ist? Kirchenrechtlich und theologisch ohne Zweifel durch Taufe und häufig auch Firmung zur Kirche gehörig, halten die Kasualienfrommen keinen nennenswerten Kontakt zu kirchlichen Sozialräumen aufrecht, pflegen also keinerlei traditionelle Frömmigkeitsformen. Ihnen dennoch den Frömmigkeitsbegriff zuzugestehen, kann dann nur bedeuten, ihnen die Integration in einen anderen Sozialraum, die Mitgliedschaft in einen anderen „Raum normativer Praktiken“ zuzubilligen. In welchen?
Die Unbekanntheitsthese aber betrifft das Sprachproblem von Kommunikation und Verkündigung: Wenn der Kirche eine Mehrheit ihrer eigenen Mitglieder unbekannt ist, hat sie nicht nur ein Selbstwahrnehmungs-, sondern auch ein internes Kommunikations- und Sprachproblem. Sie kann offenbar ihren eigenen Mitgliedern nur noch unzulänglich vermitteln, worum es ihr geht. Sie beherrscht aktiv wie passiv nur unzulänglich die Sprache einer Mehrheit ihrer eigenen Mitglieder. Das kann, so diese Kasualienfrommen dann in gemeindlichen kirchlichen Binnenräumen auftauchen, nur zu manifesten wechselseitigen Missverständnissen führen.
3 Die zentralen pastoraltheologischen Reflexionsaufforderungen
3.1 Das Problem der Kirchenbildung: Kirche funktioniert offenbar anders, als sie selber möchte
Zentrales Merkmal der untersuchten Gruppe und recht eigentlich der Grund, sie zu erforschen, ist die Tatsache, dass sich die Kasualienfrommen klassisch-vorkonziliaren wie nachkonziliaren gemeindeorientierten Konzepten der Kirchenbildung entziehen, ohne freilich jeglichen Kontakt zur Kirche aufzugeben. Sie nutzen Kirche also in anderer Weise, als diese es möchte.
Klassisch-katholische Kirchenbildung war zumindest seit der Rekonfessionalisierung des 19. Jahrhunderts die tendenziell rückhaltlose Integration in die „societas perfecta ecclesia catholica“. Päpstlich-priesterliche Imperative beanspruchten, das Leben bis in das Privateste hinein zu regeln,43 die jahres- und lebensbegleitenden Riten und Sakramente bedeuteten Schutz und Heimat in der Institutionsfestung Kirche, bedeuteten Integration in eine wirkliche Schicksals-, Glaubens- und Heilsgemeinschaft, die nicht nur synchron, sondern auch diachron universale Züge besaß. Sie zu verlassen, hieß Glauben, Heil und Heimat zu verlassen und soziale Anerkennung zu verlieren, es bedeutete, einem ungewissen Schicksal entgegenzugehen, in der Transzendenz, aber auch schon unter ganz irdischen Bedingungen.
Nachkonziliar gemeindlich-familiaristische Kirchenbildung hingegen wollte und förderte Integration in einen nunmehr (fast) hierarchiefreien Raum voller (Pfarr-)Aktivitäten, (Familien-)Kreise und voller Kommunikation in, zumeist, freundschaftlicher Halbdistanz. Die nunmehr auch in der katholischen Kirche entdeckte Gemeinde wurde als „Pfarrfamilie“ der Emanzipierten und geschwisterlich Verbundenen erhofft und gedacht und zum Teil auch gestaltet. Nachkonziliare Kirchenbildung war nach der vorherrschenden pastoraltheologischen Theorie und zu einem gehörigen Teil auch in der realen Praxis vor allem aktivierende Gemeindebildung. „Lebendige Gemeinde“ wurde zum überwölbenden Schlagwort gerade zu Zeiten beginnender Erosion der (volks)kirchlichen Gnadenanstalt.44
Im gewissen Sinne stellt dabei der regelmäßige Sonntagskirchgang die zentrale Kontinuität zwischen vorkonziliar juridisch-katholischer und nachkonziliar gemeindlich-familiaristischer Kirchenbildung dar. In vorkonziliaren Zeiten war der Sonntagskirchgang die Pflicht zum gültigen Messbesuch, in der gemeindetheologischen Phase bedeutete er die Teilnahme am wöchentlichen Treffen der Pfarrgemeinschaft als liturgischer Gemeindeversammlung mit anschließendem (gemütlichen) Beisammensein. Der (halbwegs) regelmäßige Sonntagskirchgang blieb, was er schon vorkonziliar war: das charakteristische Merkmal katholischer Kirchenzugehörigkeit. Gerade ihn aber stellten die Befragten ein, ohne allerdings sich von der Kirche ganz abzuwenden. Der „biografische Verlauf“, so Först in seinem Resümee, „ist in den Interviews durchgängig: Kindheit und Jugend sind zumeist von einer recht intensiven Phase der Beteiligung am kirchlichen Leben und einer von Frömmigkeit geprägten Alltagswelt gekennzeichnet.“45
Damit zeigt sich: Die katholische Kirche möchte seit einiger Zeit als „Gemeindekirche“ funktionieren, wird von ihrer eigenen Mehrheit aber als rituelle Lebensbegleitungskirche genutzt. Der von der Studie herausgearbeitete Hauptgrund für diese bleibende Nutzung bei alltäglicher Abstinenz, die Hoffnung auf biografischen „Schutz und Segen“ angesichts der Unwägbarkeiten und Risiken des Lebens, ist plausibel und im Übrigen an sich relativ kompatibel zum kirchlichen Verständnis der Kasualien.
Wie verhält sich nun aber dieses reale Funktionieren der Kirche zu ihrem Selbstverständnis? Natürlich gab es immer eine Differenz zwischen kirchlichem Selbstverständnis und kirchlicher Realität, doch es dürften schwer Zeiten auszumachen sein, in denen das Bewusstsein von dieser Differenz so unabweisbar war und in denen diese Abweichung eben nicht einfach in moralischen Kategorien gefasst werden kann, was sie für die Institution selber ja immer relativ leicht und vor allem folgenlos kommunizierbar macht.