An neuen Orten. Rainer Bucher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rainer Bucher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783429061623
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bestimmt.61

      Insofern sich aber eine Defizitanalyse eben nicht alleine auf die Mängel an kirchlicher Partizipation beziehen kann, sondern auch auf die Nähe und/oder Distanz des jeweiligen Handelns zu Sinn und Bedeutung des Evangeliums, kann, ja muss es jenseits einer partizipationsorientierten Defizitzuschreibung eine am materialen Gehalt der kirchlichen Riten orientierte kritische Konfrontation von Person und Kirche geben. Der affirmative und normalitätsstabilisierende Charakter ihres Handelns etwa ist angesichts der selbst- und fremdkritischen Stoßrichtung der christlichen Botschaft sicherlich kritikbedürftig.

      Den Kasualienfrommen wird also weder gerecht, wer sie schlicht als defizitäre Kirchenfromme betrachtet, noch wird man ihnen gerecht, wenn man ihre Praxis einfachhin als eine eigenständige Form der Kirchenzugehörigkeit begreift und auf sich beruhen lässt. Die Kirche kann den Kasualienfrommen ersparen, Kirchenfromme zu werden, sie kann ihnen aber nicht ersparen, sich mit den materialen Gehalten der Riten, an denen sie teilnehmen, auseinanderzusetzen und diese mit ihrem eigenen Leben, ihrer eigenen Existenz zu konfrontieren. Dann aber scheint es notwendig, das Objekt ihres Zugehörigkeitswunsches in den Blick zu bekommen, schließlich ist es nichts Harmloses.

      Die Kasualienfrommen benützen den kirchlichen Sozialraum, um mit seiner Hilfe und durch ihn hindurch in einen anderen Raum einzutreten: jenen einer gefährdeten und mit den Kasualien bestätigten „normativen Normalität“ des eigenen Lebens. Was das theologisch bedeutet, kann dem kirchlichen Sozialraum nicht gleichgültig bleiben. Nicht so sehr also, dass die Kasualienfrommen mit den Kasualien nicht in den kirchlichen Sozialraum eintreten, dprfte ein theologische Problem sein, sondern wohin sie durch ihn hindurch eintreten und wie sich dieses Wohin mit dem Gehalt der jeweiligen Kasualien verträgt.

      Die Zugehörigkeitsproblematik erweist sich also als doppelt verflüssigt: theologisch, denn institutionelle Kirchenzugehörigkeit und selbst regelmäßige Kirchenpraxis vermitteln nicht schon heilsvergewissernde Kirchenzugehörigkeit, eine Zugehörigkeit zur Kirche nur dem „Leibe“ und nicht auch dem „Herzen“ nach ist im Hinblick auf das Heil, so ausdrücklich das II. Vatikanum in Lumen gentium 14, schlicht wertlos. Zum anderen aber ist das angestrebte Objekt der Zugehörigkeit für die Kasualienfrommen gar nicht die Kirche, sondern jener eher imaginäre „Raum des normativ Normalen“, in den sich die Kasualienfrommen gerade mittels der Kasualien recht selbstverständlich integriert glauben.

      Wieder scheint hier jene materiale Wende der Pastoraltheologie und auch der Sakramentenpastoral geraten, die oben bereits postuliert wurde. Denn auch und selbst die Kirchenzugehörigkeitsproblematik weitet sich von einem soziologischen Fragenkomplex (Gehören sie zu uns? Wenn ja, wie und worin? Und worin nicht? etc.) zu einem theologischen, und dies gleich in zweifacher Weise. Zum einen nämlich ist auf der Basis der Kirchenzugehörigkeitslehre des II. Vatikanums diese jeweils individuell geistlich und handlungsbezogen zu bestimmen und darin zuletzt sogar ein Reservat Gottes. Zum anderen aber ist der Zugehörigkeits- und Integrationswunsch zu jenem bzw. in jenen imaginären Raum der „normativen Normalität“, den die Kasualpraxis der Kasualienfrommen aktualisiert, in seiner theologischen Wertigkeit ausgesprochen fragwürdig.

      So sehr er nämlich im gewissen Sinne früherer volkskirchlicher Wirklichkeitsbejahung entspricht, so sehr kann er auch als kritiklose Affirmation der eigenen Existenz kritisiert werden, zumal auch die alte volkskirchliche „Kirche der Selbstverständlichkeit“ kritische Blicke auf die eigene Person einforderte, wie individualistisch und mit welch bisweilen verhängnisvollen Folgen konkret auch immer.62

      Wohin die Kasualien die Kasualienfrommen führen, das wäre weiter zu erforschen und vor allem noch näher theologisch zu analysieren. Das alte Thema der Tradition jedenfalls, wie sich im christlichen Leben Weltaffirmation und Weltdistanz, wie sich Normalität und Exzentrizität, wie sich selbstgewisse (kirchliche) communio und kritische Selbstrelativierung etwa vor dem Anspruch des eschatologischen Gerichts63 zueinander verhalten, wäre dabei neu und im Blick auf die konkrete Funktion der Kasualien für die Kasualienfrommen zu bedenken.

      3.3 Das Sprachproblem: Das „beredte Beschweigen“

      Die vorliegende Studie dokumentiert nun aber nicht nur von der Subjektseite her, wie weit sich die Einzelnen zum einen der früher wirksamen Bindekraft kirchlicher Institutionen entzogen und zum anderen ihre eigene Interpretation kirchlichen Handelns in Wort und Tat geschaffen haben, sondern ermöglicht auch einen schlaglichtartigen Einblick in die aktuellen Strategien des Umgangs des pastoralen Personals mit diesen Phänomenen. Dabei zeigt sich Zweierlei. Einerseits gilt:

      Viele IP sind über die gegenwärtigen Erfahrungen mit der Kirche positiv überrascht. Sie sind dem Bild von Kirche gegenläufig, das sie von Kindheit und Jugend her kannten.64

      Die „schrittweise Distanzierung von Kirche, die viele als Befreiung aus ehemals erfahrenen Zwängen erleben“65, führt im Augenblick der Wiederbegegnung zur Erfahrung der Differenz zwischen verlassener und (punktuell) wiedergefundener Kirche, zumindest auf der konkreten Erfahrungsebene. Statt Strenge und Formalismus findet man Zugänglichkeit, „Modernität“ und Unaufdringlichkeit: kommunikative Werte also, die frühere Ohnmachts- und Repressionserfahrungen im Raum der Kirche positiv kontrastieren.

      Dieser kommunikativen Sensibilität steht andererseits eine bemerkenswerte inhaltliche Sprachlosigkeit gegenüber.

      Der Wandel im Verständnis der Kirche wurde in den Vorbereitungsgesprächen zur Kasualfeier mit dem jeweiligen kirchlichen Hauptamtlichen nicht thematisiert. Obwohl mit dem Pfarrer beziehungsweise Pastoralreferenten stets ein persönliches Treffen vereinbart wurde, führte der anscheinend weitgehend ‚ritualisierte‘ Charakter der Begegnung dazu, dass diese biographische Ebene der IP nicht zur Sprache kam. Die Schilderungen der Vorbereitungsgespräche zeigen, dass die Beteiligten mit sehr unterschiedlichen Interessen in das Gespräch hineingingen. Während die IP häufig kaum Erwartungen mitbrachten … richtete sich das Interesse der kirchlichen Hauptamtlichen vor allem darauf, den Ablauf der Feier zu besprechen.66

      Geradezu tragikomische Züge nimmt diese Sprachlosigkeit an, wenn Först berichtet, dass die aktivierenden Angebote der Hauptamtlichen an die Kasualienfrommen, „eigene Gestaltungsmomente in den Gottesdienst einzubringen, von den IP nicht verstanden“ wurden, insofern es nach deren Auffassung doch den Hauptamtlichen als den „Experten“ obliege, „die kirchliche Feier ‚sachgemäß‘ zu gestalten“.67

      Es ist also bei aller kommunikativen Sensibilität eine doppelte Sprachlosigkeit bei den pastoralen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu beobachten. Diese Sprachlosigkeit bezieht sich auf die Rekonstruktion der religiösen Situation der Kasualienfrommen, die offenbar in den Vorbereitungsgesprächen zu den Feiern „beredt beschwiegen“ wird. Sie gilt aber offenkundig auch für die Theologie des anstehenden rituellen Vollzugs selber, die ebenfalls nicht wirklich thematisiert wird. Die letztlich schwindelerregend instabile Basis des gemeinsam vollzogenen Ritus ist das Beschweigen der – zumindest von Seiten der Hauptamtlichen nur zu gut erahnten – Differenz im Verständnis dessen, was man gemeinsam zu tun beabsichtigt. Was bleibt ist die Konzentration auf den korrekten und störungsfreien Ablauf der Feier.

      Es ist deutlich, dass sich diese beiden Sprachlosigkeiten bedingen. Weil man nicht sieht, wie das von der offiziellen Lehre abweichende Verständnis der Kasualien bei den Kasualienfrommen mit dem kirchlichen Verständnis in Einklang zu bringen sein soll, thematisiert man es nicht, um diese Differenz nicht bearbeiten zu müssen. Die klassische Bearbeitungsart dieser Differenz, autoritäre Einforderung bei Sanktionsandrohung, ist in Zeiten schwindender Sanktionsmacht ebenso unmöglich geworden wie die neue Bearbeitungsart im gemeindetheologischen Kirchenszenario. Hier wären einigermaßen kontinuierliche gemeinsame Kommunikationsprozesse in Familienkreisen und/oder Vorbereitungsgruppen das (tatsächlich ja bisweilen eindrucksvolle Erfolge erzielende) Mittel der Wahl, um ein gemeinsames Verständnis der anstehenden Kasualfeier zu erarbeiten und gar in eigenständige liturgische Gestaltungsbeiträge umzusetzen.

      Doch genau dieser Gemeindeintegration entziehen sich die Kasualienfrommen. Es zeigt sich in diesem Zusammenhang wieder einmal, dass die gemeindetheologisch akzentuierte Pastoral, bei aller kommunikativen Sensibilität, Anstrengung