An neuen Orten. Rainer Bucher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rainer Bucher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783429061623
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ist sie ein ohnmächtiger, weil von Gottes Gnade abhängiger Ort der Realisation des Evangeliums.

      Die Polarität und auch die Unentkoppelbarkeit beider Existenzweisen, der religionsgemeinschaftlichen wie der pastoralgemeinschaftlichen, sind unausweichlich; von welchem Pol her man Kirche begreift, ist es aber nicht. Die pastorale Wende des Konzils besteht ganz wesentlich darin, Kirche als Religionsgemeinschaft von ihrem Charakter als Pastoralgemeinschaft her zu entwerfen. Da „Pastoral“ im Konzil ein qualifiziertes Geschehen meint, nämlich die kreative und handlungsbezogene Konfrontation von Evangelium und Existenz heute, ist genau dies die „materiale Wende“ in der Konzeption und Reflexion kirchlicher Konstitutionsprozesse.

      Unsere Transformationsdiskurse sind ziemlich weit von ihr entfernt. Es würde etwa bedeuten, nicht zuerst Sozialformen, also Religionsgemeinschaftliches, zu reflektieren und dabei zu fragen, wie in ihnen Pastoral (noch) möglich ist, oder gleich gar, welche Zukunft diese Sozialformen haben, sondern umgekehrt zu reflektieren, wo und warum Pastoral im konziliaren Sinne heute dem Volk Gottes gelingt, um dann an der Weiterentwicklung jener Sozialformen mitzuhelfen, welche bessere Chancen für die Pastoral bieten.

      Für das Theoriedesign unserer Transformationsdiskurse würde dies aber erfordern, endlich die moderne Utopik zu überschreiten hin zu einer Lehre von den konkreten Orten, welche die Autorität des Glaubens in seiner Praxis erweisen. Das setzt Aufmerksamkeit für jene Orte voraus, an denen das Volk Gottes schon heute neu entdeckt, wie sich heutige Existenz und Evangelium wechselseitig erschließen, in offenen, experimentellen, unfestgestellten Prozessen.

      Utopien sind statische Projektionen der eigenen Wunschproduktion, und unsere Kirche ist voll davon, progressiven wie konservativen. Topologien aber, zumal praktisch orientierte, arbeiten mit den Differenzen im Netz der konkreten Orte und sind fasziniert von all dem, was Utopien nervös macht: Unberechenbarkeit, Differenz und Dynamik. Denn sie vermuten gerade dort den Reichtum dessen, was man braucht, aber noch nicht hat, und vor allem sind ihnen Ambivalenzen kein Gräuel, sondern notwendige Voraussetzungen humaner und damit christlicher Existenz.

      Das betrifft übrigens auch die Pastoraltheologie. Sie ist ein klassisches Aufklärungsfach und daher utopisch gestimmt, wurde zudem von einer Kaiserin eingeführt und daher schwanken ihre Utopien zwischen Befreiungspathos und hierarchienahem Institutionsmanagement. Ein topologischer Ansatz würde für die Pastoraltheologie wie auch generell für den aktuellen Transformationsdiskurs der Kirche bedeuten, jene Orte zu suchen und zu befragen, an denen gelingt, was nach dem Konzil Voraussetzung von Kirchenbildung ist: die Pastoral.17

      Es gibt eine Stelle im Konzil, die dabei sehr präzise definiert, worum es geht. Sie findet sich in Gaudium et spes 4. Dort heißt es: „Zur Erfüllung dieses ihres Auftrags obliegt der Kirche allzeit die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten.“ Das kennt man mittlerweile. Es geht aber spannend weiter: „So kann sie dann in einer jeweils einer Generation angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens und nach dem Verhältnis beider zueinander Antwort geben.“ (Gaudium et spes 4)

      Das ist eine wirklich brillante Formulierung. Sie behauptet nämlich erstens, dass diesseitiges und jenseitiges Leben in einem untrennbaren Zusammenhang stehen, zweitens, dass es die zentrale, die konstitutive Aufgabe der Kirche ist, dieses Verhältnis von diesseitigem zu jenseitigem Leben in jeder Generation neu zu vermitteln und zwar als Antwort auf die Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens überhaupt. Und dass dies drittens nur gelingt, wenn die „Zeichen der Zeit“, also die säkulare Realität angemessen im Licht des Evangeliums gedeutet wird. Ohne die Deutung der Zeichen der Zeit also kann die Kirche ihren Auftrag überhaupt nicht erfüllen: Es ist ihr daher eine wirkliche Pflicht.

      Fürchtet sie sich davor, sich mit den konkreten Herausforderungen der „neuen Zeiten“ zu konfrontieren, scheitert sie nicht nur an ihrer Zeit, sondern auch an ihrem eigenen Auftrag. Die Zeichen der Zeit aber sind topologisch, plural in Raum und Zeit, flüssig und neu, und heute, in postmodernen Zeiten, sind sie vor allem eines: überraschend, fremd und verstörend. Und deswegen empfiehlt das Konzil eben auch eine neue Haltung. Niemand hat diese Haltung bewegender verkörpert als jener Papst, der das Konzil einberufen hat. Dieser Papst steht für eine neue kirchliche Kultur als Folge des konsequenten Ortsbezugs der Kirche und ihrer grundsätzlichen Solidarität mit der „Menschheitsfamilie“, der sie, wie das Konzil immer wieder sagt, „eingefügt“ ist. Es heißt im „Akt des Glaubens“ von Johannes XXIIII., kurz vor seinem Tod:

      Nicht das Evangelium ist es, das sich verändert, nein, wir sind es, die gerade anfangen, es besser zu verstehen. Wer ein recht langes Leben gehabt hat, wer sich am Anfang dieses Jahrhunderts den neuen Aufgaben einer sozialen Tätigkeit gegenübersah, … wer wie ich zwanzig Jahre im Orient und acht in Frankreich verbracht hat und auf diese Weise verschiedene Kulturen miteinander vergleichen konnte, der weiß, dass der Augenblick gekommen ist, die Zeichen der Zeit zu erkennen, die von ihnen gebotenen Möglichkeiten zu ergreifen und in die Zukunft zu blicken.18

      Ein alter Mann und Papst bekennt kurz vor seinem Tod, immer noch am Beginn des Verständnisses des Evangeliums zu stehen. Und er nennt den Grund: die neuen Zeiten. Der oberste Repräsentant der alten Kirche markiert die vielen und ganz unterschiedlichen Orte, die ihn zu diesem Bekenntnis zwingen: sein langes Leben in diesem Jahrhundert, die Herausforderungen der sozialen Verwerfungen, der islamische Orient und das atheistische Frankreich und überhaupt die kulturellen Differenzen der Gegenwart.

      Das Evangelium in diesen unüberschaubaren Zeiten und von seinen Problemen her in Wort und Tat besser zu verstehen und zu verwirklichen, das ist die alte Aufgabe der Kirche. Die kulturellen Revolutionen einer postmodern gewordenen Gegenwart stellen völlig neue Fragen an uns und damit an das Evangelium, Fragen, die wir noch kaum verstanden, geschweige denn beantwortet haben. Das ist unsere pastorale Chance.

      Diese neuen Zeiten der Gegenwart sind für das pilgernde Volk Gottes eine große Herausforderung, denn das autologische Dispositiv zwingt die Kirche, eine ziemlich neue Konstitutionsform ihrer selbst zu entwickeln und dabei ihre Aufgabe nicht zu verraten, weder an den Markterfolg, noch an die kleingläubige Resignation des Autoritarismus. Das ist die kirchliche Herausforderung.

      Diese Zeiten sind aber auch eine große Gnade. Denn sie versprechen neue Entdeckungen der alten Wahrheit des Evangeliums und das im hilfreichen Kontext der Demut.

       DIE PROVOKATION ANNEHMEN

       Welche Konsequenzen sind aus der Sinusstudie zu ziehen?

       1 Außenperspektiven können schmerzen

      Damit sie für das Wohl der Gläubigen … geeigneter sorgen können, sollen sie sich bemühen, ihre Bedürfnisse in den sozialen Umständen, in denen sie leben, richtig kennenzulernen, wobei sie dazu geeignete Mittel anwenden sollen, besonders der Sozialforschung.

      So heißt es im Dekret des Zweiten Vatikanums über das Hirtenamt der Bischöfe, Christus Dominus 16. Wer immer das mittlerweile zu einer gewissen Berühmtheit gelangte „Milieuhandbuch religiöse und kirchliche Orientierungen“ beim Heidelberger Marktforschungsinstitut Sinus Sociovision in Auftrag gegeben haben mag – das „Handbuch“ selbst nennt die kirchennahe MDG Medien-DienstleistungsGmbH sowie die KSA Katholische Sozialethische Arbeitsstelle Hamm, unter „Beratung“ figurieren allerdings auch Mitglieder des Sekretariats der Deutschen Bischofskonferenz oder etwa der Pressesprecher Kardinal Meisners –, man muss ihm ohne Zweifel dankbar sein.

      Zwar können die Ergebnisse den halbwegs aufmerksamen Beobachter der gesellschaftlichen Szene(n) nicht wirklich überraschen und den oder die pastoral Tätige(n) auch nicht, besteht die Erhebungsmethode doch im Kern aus protokollierten und analysierten Gesprächen mit „Normalbürgern“ zu Lebenssinn, Religion und Kirche. Dies ändert aber nichts am exemplarischen Wert der Studie, denn sie leistet, was die katholische Kirche so dringend braucht: den wertvollen Dienst der Außenperspektive.

      Freilich: Solche Außenperspektiven können schmerzen, wie ein Spiegel,