An neuen Orten. Rainer Bucher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rainer Bucher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783429061623
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eröffnet sich der Kontrast von Fremd- und Eigenperspektive: Wie man auf diesen Kontrast reagiert, hat seinerseits Diagnosecharakter. Die Differenz von Fremd- und Eigenperspektive ist aber der genuine Ort intellektueller Erkenntnis und zugleich jener geistlicher Demut. Beidem ist die Kirche verpflichtet.

      Die Untersuchung geht von zwei plausiblen Grundannahmen aus: zum einen, dass die situative Integration der Kirchenmitglieder jede normativ regulierte Kirchenmitgliedschaft abgelöst hat,19 mithin also auch katholische Religionspraxis unter den Individualisierungszwang moderner Lebensführung geraten ist; zum anderen, dass „Individualisierung“ nicht voraussetzungslose Wahlfreiheit, sondern Entscheidung auf der Basis neuer Integrationsmechanismen bedeutet. Schließlich müssen es moderne Biografien irgendwie schaffen, das Übermaß an Wahlmöglichkeiten zu bewältigen.

       2 Sociovision hat der Kirche einen Marktlagebericht geliefert

      Seit Gerhard Schulzes berühmter Studie Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart20 stehen dabei lebensstilorientierte „Milieus“ im Mittelpunkt des Interesses. Deren konkreter Zuschnitt ist relativ sekundär: Bei Schulze waren es fünf solcher Milieus, bei Sociovision sind es zehn. In ihrer bildlichen Signifikanz haben sie bei allem Stereotypieverdacht nicht nur einen gehörigen Unterhaltungs-, sondern auch Erkenntniswert, nicht zuletzt, wenn man versucht, den eigenen Lebensentwurf einzuordnen.

      Schon beim Bamberger Soziologen Schulze war dabei zu lernen, dass im Unterschied zu vormodern traditionalen Gesellschaften und auch zur weltanschaulich versäulten deutschen Gesellschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Milieuzugehörigkeit in „Lebensstilmilieus“ von den Beteiligten grundsätzlich als selbst gewählt erfahren wird, so sehr dies dem kritischen Außenblick auch als Selbstverblendung erscheinen mag. Der methodische Ansatz der Sociovisions-Studie kombiniert nun diese Milieutheorie mit einem einfachen Dreistufenschema der sozialen Lage und gelangt so zu einer ebenso plastischen wie differenzierten Matrix, in der die „Milieus“ mit Bezeichnungen „illustrativen Charakters“21 wie „Bürgerliche Mitte“, „Traditionsverwurzelte“ oder „Konservative“ situiert sind. Deren jeweilige religiöse und kirchliche Orientierungen erhebt die vorliegende Untersuchung.

      Die Ergebnisse sind für die katholische Kirche einigermaßen provokativ. Bekommt sie doch bestätigt, dass sie in der Wahrnehmung der Bevölkerung offenbar nur noch in jenen drei eben genannten Milieus, die ca. 35 Prozent der Bevölkerung repräsentieren, verwurzelt ist und das noch nicht einmal langfristig stabil. In allen anderen Milieus stößt die katholische Kirche dagegen weitgehend auf Desinteresse oder gar Ablehnung: Dort glaubt man in der Kirche nicht zu finden, was man an Religion nachfragt, wenn man denn Religion nachfragt, was allerdings, vielleicht mit Ausnahme der „DDR-Nostalgischen“, bei den meisten Menschen immer noch der Fall zu sein scheint.

      Mit anderen Worten: Sociovision hat der Kirche geliefert, was man von einer Marktforschungsgesellschaft erwarten kann, einen Marktlagebericht. Das ist in jeder Hinsicht konsequent, schließlich vergesellschaftet sich Religion in entwickelten modernen Gesellschaften nicht mehr in herkunftsbezogenen Schicksalsgemeinschaften, sondern zunehmend über marktgesteuerte Mechanismen.

      Die Ergebnisse der Sinusstudie sind einigermaßen ernüchternd. Man braucht freilich nur die eigene kirchliche Statistik zu konsultieren, erfahrene Seelsorger und Seelsorgerinen zu befragen oder etwa die ausgesprochen instruktive, von Johannes Först und Joachim Kügler herausgegebene Studie Die unbekannte Mehrheit, Mit Taufe, Trauung und Bestattung durchs Leben22 zur Kenntnis zu nehmen, um bestätigt zu bekommen, was auch Sociovision herausgefunden hat: Mit der Marktgängigkeit der katholischen Kirche steht es hierzulande trotz eindrucksvoller diakonischer Präsenz nicht besonders gut.

      Damit bestätigt sich, was in Pastoraltheologie und Religionssoziologie schon länger diskutiert wird. Die Sinusstudie pointiert aber eine Erkenntnis: Die katholische Kirche steht nicht einem, gar „dem“ modernen Milieu gegenüber, sondern einer Vielzahl unterschiedlicher Milieus mit teilweise konträren Erwartungen an sie. Schärfer noch: Die Kirche selbst ist in das Spannungsfeld differenter Milieus geraten und kann sich nur noch in wenigen Milieus wirklich vermitteln, während sie andere schon kaum mehr erreicht.

      Die weltanschaulich versäulte Gesellschaft der Weimarer Zeit, katholisch auch in der Nachkriegszeit noch ausgesprochen reststabil, wurde also abgelöst von einer Gesellschaft lebensstildifferenzierter Milieus. Diesen Differenzierungsprozess konnte die Kirche aber, wie es scheint, schlicht nicht mitvollziehen, was dann als „Milieuverengung“ der Gemeinden (Michael N. Ebertz) beschrieben werden kann.

       3 Kirche ist nicht nur Pfarrgemeinde

      Freilich ist die Kirche nicht nur (Pfarr-)Gemeinde. Als solche und als bischöfliche Hierarchie scheint sie aber in der Sociovisions-Untersuchung primär auf, was insofern korrekt ist, als sie inner- wie außerkirchlich primär genau so wahrgenommen wird. Die Studie bezieht sich denn auch vor allem auf diese beiden kirchlichen Handlungssektoren, insofern sie Wahrnehmungseinschätzungen abfragt. Viele andere Handlungsfelder der Kirche jedoch, allen voran die Caritas, aber auch der Bildungssektor und in weiten Teilen auch die so genannte Kategorialpastoral, bleiben damit weit unterbeleuchtet. Gerade aber dort gelingt es weitaus besser als in den Gemeinden, aus dem beschriebenen „Dreier-Milieu-Ghetto“ auszubrechen.

      So tröstlich diese Ergänzung des Sociovisions-Befundes erst einmal ist, provoziert sie doch zwei Fragen: Auf welcher Basis gelingt ihnen diese Milieuüberschreitung und wie gestaltet sich dann das Verhältnis zum gemeindlichen Binnenmilieu? Hinter diesen Fragen aber lauert noch eine dritte: Wie kann die katholische Kirche in dieser Situation überhaupt noch ihre Steuerungs- und Handlungsfähigkeit behalten?

      Der Ausdifferenzierungs- und Professionalisierungsprozess der pastoralen Struktur der deutschen katholischen Kirche kann als Versuch gedeutet werden, der neueren Milieudifferenzierung der deutschen Gesellschaft zu folgen. Das scheint in nicht geringem Maße gelungen: Zur Caritas gehen, falls notwendig, auch die kirchlich sonst kaum ansprechbaren „Konsum-Materialisten“; avancierte Künstler und damit „Experimentalisten“ finden sich etwa im „Grazer Kulturzentrum bei den Minoriten“ oder in der Kölner „Kunststation St. Peter“, und für die „Postmateriellen“ gibt es manch gutes Kloster oder wenigstens Anselm Grün. Man fällt auf die seit den 1970er-Jahren dominierende Selbstdefinition der Kirche als „Gemeindekirche“ herein, wenn man übersieht, dass die Kirche dieser Gesellschaft ein breit ausgebautes und durchaus nachgefragtes Handlungsnetz jenseits der Gemeinde anbietet.

      Allerdings verlagern sich damit die Milieuspannungen in die Kirche, besser und genauer: sie verstecken sich zwischen den Ritzen der weitgehend unabhängig voneinander agierenden kirchlichen Handlungssektoren.23 Deren wechselseitige Nichtwahrnehmung ist mit den Händen zu greifen und jetzt auch besser zu verstehen.

      Die Kirche ist auf den (religiösen) Markt geraten – ohne Zweifel eine Änderung ihrer Kontextbedingungen epochalen Ausmaßes. Sie darf aber nicht unversehens einer institutionalistischen Marktperspektive verfallen. Denn sie ist weder der Macht, noch dem Markt, sondern ihrer Botschaft verpflichtet.

       4 Der unbequemen Außenperspektive nicht ausweichen

      Es bedarf an dieser Stelle der Überlegungen einiger theologischer Vergewisserungen. Zum einen ist an den universalen Heilswillen Gottes zu erinnern. Gott will, so heißt es etwa in 1 Tim 2,4, „dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“. Die deutet nicht auf ein bevorzugtes begnadetes Segment von Menschen, auf einige wenige Auserwählte, sondern auf alle Menschen überhaupt. Die Kirche als das Volk Gottes in seiner sichtbaren Verfasstheit ist Zeichen dafür, dass alle Menschen in universaler Weise zum Heil berufen sind. (vgl. Gaudium et spes 23f).

      Zum anderen ist die Kirche nicht für sich selber da, sondern für die Verkündigung der Botschaft vom Gott Jesu in Wort und Tat. Die Bindung der Kirche an ihre sakramentale Sendung reißt sie aus dem Sog ihrer reinen institutionellen Selbsterhaltung und verweist sie auf ihre Existenz