Das (kirchen-)politische Kräftefeld, stark und mächtig in dieser Frage, verschiebt und versetzt die argumentativen Vektoren aus der eigentlich angezielten gemeinsamen Ebene. Insofern ist diese kleine Diskussion geschätzter (und sich offenkundig schätzender) Kollegen auf pastoraltheologischem Feld ein schönes Exempel für das, was man die „politische Ablenkbarkeit des theologischen Diskurses “ nennen könnte: ganz hinter dem Rücken der Beteiligten und diesseits aller bewussten Funktionalisierung und Instrumentalisierung.
Widerstand gegen diese „politische Ablenkbarkeit“ könnte im Rückgriff auf Gaudium et spes und dabei speziell auf dessen beiden zentralen Termini, den Volk-Gottes- und den Pastoral-Begriff, erworben werden. Werbick wie Ebertz verzichten in ihren Artikeln sowohl auf den konziliaren Volk-Gottes-Begriff wie auf den konziliaren Pastoral-Begriff. Sie verzichten mit dem Volk-Gottes-Begriff auf die Basis für die kontrollierte Zuordnung von soziologischen und theologischen Kategorien in den soziologischen Kategorien und mit dem Pastoral-Begriff auf die Basis für die Zuordnung von soziologischen und theologischen Kategorien in den theologischen Kategorien.
Die Kirche als soziale Größe kommt mit dem Volk-Gottes-Begriff unter einen theologischen Horizont, denn der Volk-Gottes-Begriff besagt, dass die Kirche nicht irgendein Volk ist und nicht irgendeine gesellschaftliche Institution, sondern nur dann die Kirche Jesu, wenn sie die Institution des Volkes des Gottes Jesu ist. Das aber zeigt sich darin, ob in ihr dieser Gott in Wort und Tat präsent ist und also erfahren werden kann.
Die Kirche als theologische Größe kommt mit dem zweitvatikanischen Pastoral-Begriff aber unter eine soziologische Herausforderung, insofern dieser Begriff in Gaudium et spes die kreative und handlungsbezogene Konfrontation von Welt und Evangelium meint.
Der konziliare Volk-Gottes-Begriff294 wiederum verhindert, in jenen katholischen Institutionalismus abzugleiten, der die Existenz, Größe und Fortdauer der Sozialform für die Existenz, Größe und fortdauernde Präsenz des Evangeliums nimmt; der Pastoral-Begriff aber verhindert, dass kirchliche Sozialformen sich in irgendeiner Weise als selbstbezügliche Gleichgesinntengrüppchen konstituieren, denen die Existenzprobleme der Menschen von heute fremd sind und die diesen dann mit kulturpessimistischer Abwertung begegnen.
Ersteres, ein modernisierter Institutionalismus, das ist die Gefahr von Ebertz’ Position, und Werbick wirft ihm das ja auch vor. Letzteres, romantisierender Kleingruppenharmonismus, geschart etwa um den nahen priesterlichen Hirten, ist die Gefahr der Werbickschen Position, und Ebertz hält sie ihm vor.
Man muss aber die beiden Positionen nicht von ihren Schwächen, sondern von ihren Stärken her nehmen. Die Stärke der Ebertzschen Position ist ihr realistischer, unvoreingenommener Blick auf die Beziehungen von Individuum und Institution, von Einzelnem und Kirche. Die Stärke von Werbicks Position ist der klare Blick auf die systemkonformistischen Implikationen und Versuchungen der Ebertzschen Position und die Option für die „Fläche“ als Herausforderung für die pastorale Raumordnung in Zeiten des zunehmenden Ressourcenmangels, eine Herausforderung, die man stärker diakonisch und über den Pastoral-Begriff als Pflicht zur unbedingten Solidarität (Gaudium et spes 1) mit allen Menschen begründen sollte.
Welche Konsequenzen material aus der Diskussion zu ziehen wären, wäre eigens zu erörtern. Man könnte etwa zwischen der Gemeinde als territorialer Angebotsstruktur und als punktueller, knotenartiger Rezeptionsstruktur innerhalb einer gesamtpastoralen Handlungskonzeption von Kirche unterscheiden. Vor allem aber käme es darauf an, nicht von den Sozialformen her auf deren Funktionen, sondern von den notwendigen kirchlichen Funktionen her auf die dafür notwendigen Sozialformen hin zu denken, was übrigens auch die Beteiligung möglichst vieler in diese Transformationsprozesse einschlösse.
DER LANGE WEG VOM ERLAUBNIS- ZUM ERMÖGLICHUNGSDISKURS
Die Gemeindeleitungsproblematik im Kontext der Konstitutionsprobleme der katholischen Kirche in den entwickelten Gesellschaften Deutschlands und Österreichs
1 Die Fragestellungen
Man kann die Frage nach einer in der katholischen Kirche heute möglichen Gemeindeleitung durch Laien in verschiedenster Weise kontextualisieren. Es wäre etwa möglich, sie diachron durch die Kirchengeschichte zurückzuverfolgen, in der bekanntlich die Einflussrechte der sogenannten „Laien“ auf allen Ebenen der Kirche sehr wandelbar waren, über lange Jahrhunderte jedenfalls sehr viel größer als heute,295 und für die neutestamentliche Zeit gar gesagt werden kann, dass, ich zitiere den Grazer Neutestamentler Christoph Heil, die „auf den galiläischen ‚Laien‘ Jesus von Nazareth zurückgehende Erneuerungsbewegung … in den ersten Generationen keine innergemeindliche Gegenüberstellung von ‚Klerikern‘ und ‚Laien‘ (kannte)“296. Marlis Gielen stellte zudem jüngst fest, dass
Frauen … in der ersten urchristlichen Generation funktionsidentisch mit Männern Aufgaben in der Gemeindeleitung wahr(nahmen), und zwar gleichermaßen im Bereich der Gemeindeorganisation wie im Bereich der vertiefenden Evangeliumsverkündigung297
und man im Neuen Testament vergeblich „nach einer Verbindung zwischen gemeindebezogenen Funktionsbegriffen und der Funktion des Vorsitzes bei der gemeindlichen Herrenmahlfeier“298 suche.
Man kann die Problematik natürlich auch auf die Erfahrungen mit dem c. 517 § 2 focussieren, der unter spezifischen Bedingungen erlaubt, Laien an der Ausübung der Hirtensorge („cura pastoralis“) einer Pfarrei zu beteiligen, und dann synchron durch die kirchlichen Weltregionen verfolgen, schließlich ist die katholische Kirche spätestens seit dem II. Vatikanum nicht nur realiter, sondern auch in ihrer konzeptionellen Selbstreflexion vom Eurozentrismus zur globalen Perspektive übergegangen, entdeckt sie dort ihre Katholizität nach innen und außen neu299 und reflektiert sie den Glauben erstmals im Horizont globaler Modernisierung.300
Hier soll demgegenüber das Thema zeitlich und örtlich eingerenzt werden: Es wird im Folgenden um Europa und speziell den deutschsprachigen Raum der Gegenwart gehen. Dabei soll die Gemeindeleitungsproblematik in drei Kontexten betrachtet werden, die neben dem kirchenrechtlichen für Kirchenbildungsprobleme einschlägig sein dürften.301 Ich werde von „außen nach innen“ vorgehen und die Gemeindeleitungsproblematik zuerst in einen religionssoziologischen, dann in einen pastoraltheologischen und schließlich in einen systematisch-theologischen Kontext gestellt wird.
Religionssoziologisch wird es um die Frage nach dem aktuellen Wandel in den Vergesellschaftungsprozessen von Religion in Europa gehen, einem Wandel, der gerade die katholische Kirche und ihre Sozialformen massiv umformatiert; pastoraltheologisch geht es um die Frage nach Konzeption und Realität der kirchlichen basisnahen Organisationsformen in den letzten Jahrzehnten, und systematisch-theologisch schließlich um die normative Selbstdefinition von Kirche, wie sie im II. Vatikanum vorliegt, welche normative Selbstreflexion das für unser Thema einschlägige Verhältnis von Laien und Klerikern grundlegend neu entwirft.
Alle drei Fragestellungen sind von manifesten Dialektiken und Spannungen durchzogen. Sie können hier nur in thetischer verkürzung erörtert werden. Zumal abschließend gezeigt werden soll, dass diese drei analytischen Kontextualisierungen der Gemeindeleitungsproblematik sich in einer gewissen Weise zu einem neuen Horizont zusammenschließen, von dem zu hoffen ist, dass er eine weiterführende Perspektive eröffnet.
2 Die Gemeindeleitungsproblematik im Kontext neuer Formen religiöser Vergesellschaftung
Das Christentum hatte sich seit der Spätantike als spezifisches Machtgebilde aufgefasst und entworfen, hat die Relevanz der eigenen Botschaft in eindrucksvolle, machtdichte Sozialformen seiner selbst umgesetzt. Das Christentum hat mit der „Pastoralmacht“302, so Foucault, eine völlig neue Form religiöser Organisation und mit ihr eine ganz neue Machtform entwickelt.
Mit dem Auseinanderbrechen der mittelalterlichen „christianitas“ in der Reformation begann nach dem Konzil von