An neuen Orten. Rainer Bucher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rainer Bucher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783429061623
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der Gemeindetheologie 1970 entwickelten sich denn auch ihre äußeren Paradoxien: Die Gemeinde sollte das Leben in Christus vermitteln und musste doch offenbar selbst ständig „verlebendigt“ werden, sie war auch in ihrem eigenen Selbstverständnis kein Selbstzweck, zog aber alle Bemühungen und Initiativen auf sich, sie war plötzlich die „Summe und Pointe aller Pastoral“256, und doch expandierten die nicht-gemeindlichen Handlungssektoren der Kirche, also Diakonie, Kategorialpastoral oder Bildungsarbeit, weit stärker.

      Die Gemeindetheologie 1970 formulierte ein spezifisches innerkirchliches sozialtechnologisches Projekt. Sie versprach Vergemeinschaftung jenseits der Repression einer unverlassbaren Schicksalsgemeinschaft und doch diesseits der unheimlichen und ungebändigten Freiheit des Einzelnen. Deshalb thematisiert die Gemeindetheologie auch primär Sozialformen, nicht aber pastorale Inhalte. Die werden auch in der Gemeindetheologie immer noch mit einer gewissen Selbstverständlichkeitsaura umgeben, mag diese Selbstverständlichkeit, etwa in der Sakramentenpastoral, auch nach und nach noch so hinfällig geworden sein. Ähnlich wie beim Papsttum soll über eine institutionelle Struktur gesichert werden, was in der liberalen Gesellschaft gefährdet erscheint: die Tradierung des Christlichen.

      Der Kern der Selbstwidersprüchlichkeit des gemeindetheologischen Konzepts gründet in seinem ambivalenten Verhältnis zur Freiheit. Diese Ambivalenz aber rührt aus dem Status der Gemeindetheologie als kriseninduziertem Rettungsprogramm. Und wieder gilt: Ähnlich wie das Papsttum im späten 19. Jahrhundert, und daher auch ähnlich emotional aufgeladen, zog die Gemeindetheologie enorme Rettungsphantasien einer durch die moderne liberale Gesellschaft und ihre ganz anderen Lebensstile unter Druck geratenen Kirche auf sich – wenn auch diesmal bei den eher modernitätsfreundlichen Teilen der Kirche. In einem kommt sie mit der forcierten Papstkirche der Pianischen Epoche überein: Durch Aufbau, Ausbau und theologische Unterfütterung einer spezifischen Sozialform von Kirche sollten die freiheitsbedingten Erosionsprozesse kirchlicher Konstitution gestoppt werden. Das aber scheint nicht zu gelingen.

       WIDER DEN SANFTEN INSTITUTIONALISMUS DER GEMEINDE

       Zur Priorität der Pastoral vor ihren sozialen Organisationsformen

      Dass die Gemeinde in einer massiven Krise steckt, ist eigentlich ziemlich klar erkennbar – nicht zuletzt am Erscheinen voluminöser Rettungsversuche257 (Wollbold, Müller). Jede andere Institution hätte aus der Tatsache, dass sie – so in Deutschland – seit 1950 fast 70 Prozent der regelmäßigen Teilnehmer verloren hat, irgendeine institutionelle Konsequenz gezogen. Nicht so, lange, das katholische Pastoralmanagement.

      Das ist nicht weiter verwunderlich, wenn Vertreter der katholischen Pastoraltheologie das, was da offenkundig nicht wie gewünscht funktioniert, weiterhin zur „Summe und Pointe aller Pastoral“258 erklären. Angesichts der Realität ist das mindestens mutig. Es setzt aber vor allem falsche Prioritäten im Grundsatzbereich. Über die aber lohnt sich jede Auseinandersetzung.

       1 Der Rückblick: Wie die „Gemeindetheologie“ entstand, und was sie wem versprach

      Ab den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ging es mit der „konstantinischen Formation“ hierzulande endgültig zu Ende. Die Pastoraltheologie hat darauf mit einer ganzen Reihe innovativer pastoraler Konzepte reagiert. Deren folgenreichstes war die Gemeindetheologie. Sie lief darauf hinaus, die auseinander getretenen Größen „kirchliche Sozialform“, „religiöses Sinnsystem“ und „gesellschaftliche Wirklichkeit“ neu zu arrangieren. Näherhin: Kirchliche Sozialform und religiöses Sinnsystem wurden unter dem Gemeindebegriff in ein spezifisches Nahverhältnis gebracht und (mehr oder weniger) kontrastiv der gesellschaftlichen Wirklichkeit gegenübergestellt. Der sachorientierten modernen Außenwelt mit ihrer rational-kühlen Handlungslogik wurde konzeptionell nun eine verdichtete gemeindliche Innenwelt mit religiös aufgeladener Kommunikations- und Subjektrhetorik entgegengesetzt.

      Diese Gemeindetheologie unterbreitete drei attraktive Versprechen. Zum einen schien hier ein Ort der anspruchsvollen Konkretion des Christlichen gefunden, zweitens verbreitete sie die Hoffnung, in den Modernitätsstrudeln der Gegenwart mit anderen, ebenfalls gegenwartssensiblen Katholiken und Katholikinnen dies sein und vor allem bleiben zu können, drittens aber versprach sie, das alte repressive Katholizismuskonzept der Pianischen Epoche zu überwinden: respektable Dinge allesamt. Viele haben vieles in diese Hoffnung investiert – und es wäre vermessen zu sagen, sie hätte immer nur getrogen.

       2 Die geheimen Imperative der Gemeinde – und warum sich die Menschen ihnen verweigern

      Die Gemeinde forderte dafür freilich einiges. Im Wesentlichen ein Vierfaches: Man musste erstens „dazugehören“, zweitens „mitmachen“, drittens sich (zumindest zumeist) über seinen Lebenslaufstatus (Kind, Jugendliche/r, Mann, Frau, „Senior/in“) identifizieren lassen und schließlich die „Gemeinde“ als Selbstverständlichkeit akzeptieren. Es galten also ein Integrations- und ein Aktivitätspostulat, es wirkte, gemeindlich reformatiert, die alte Standespastoral nach und es herrschte eine institutionelle Selbstverständlichkeitswahrnehmung.

      Am charakteristischen Schlagwort dieser pastoralen Epoche – „Lebendige Gemeinde“ – ist nun eine fünfte, wahrscheinlich die grundlegende Eigenschaft der Gemeindetheologie abzulesen: ihr latenter Institutionalismus. „Lebendige Gemeinde“ als Zielgröße erklärt das Leben einer sozialen Größe zum obersten Zweck des eigenen Handelns, nicht das Leben ihrer Mitglieder259 oder gar das Leben ihrer Mitglieder aus und mit dem Evangelium. Ganz abgesehen davon, dass, wem ständig Leben eingehaucht werden muss, ungewollt zugesteht, permanent vom Hinsiechen bedroht zu sein.

      Nun beginnt sich freilich die Lage zu ändern. Allerdings nicht, weil einige wenige Pastoraltheologen beginnen, die Gemeindeideologie der 1970er Jahre mit der Realität zu vergleichen260 – das würde den aktuellen Einfluss der Pastoraltheologie weit überschätzen. Die Änderungen kommen nicht aus dem Diskurs, sondern aus der institutionellen Wirklichkeit. Es sind vielmehr die Pastoralämter mit ihren einschlägigen pastoralplanerischen Initiativen, die de facto den Pfarrpriester zunehmend wieder zu dem werden lassen, was er schon in der Spätantike war: der Kleinbischof einer ganzen Anzahl von Pfarreien mit primärer Sakramentenspendefunktion und oberster, in vielen Bereichen eher formaler Leitungsgewalt. Es bleibt den Pastoralämtern unter den gegebenen Bedingungen freilich auch gar nichts anderes übrig, denn den „Pfarrfamilien“ gehen die Väter aus und laufen die Kinder, vor allem die Töchter, davon.

      Generell gilt: Gemeinden werden zu dem, wozu religiöse Gemeinschaften in entwickelten kapitalistischen Gesellschaften immer werden, so sie nicht das Alternativszenario der Versektung wählen: zu stets reversiblen und daher prekären Kundenzirkeln auf Freiwilligkeitsbasis. Die soziologischen Gründe hierfür wurden schon öfter analysiert. Sie laufen einerseits auf die Einsicht in die „lokale Entbettung sozialen Lebens“ hinaus: Soziale Identität wird immer weniger über lokale Beziehungen definiert. Unsere Nächsten sind nicht zuerst jene, die zufällig um uns herum wohnen, sondern jene, deren Nummer in unserem Handy gespeichert ist. Die vormoderne Identität von sozialem Beziehungsraum, lokalem Nahraum und gesellschaftlichem und zumeist auch kirchlichem Organisationsraum löst sich zunehmend auf.

      Zum anderen aber vergesellschaftet sich Religion in unserer Gesellschaft dramatisch neu: nicht mehr in geburtsabhängigen, also ständischen Schicksalsgemeinschaften, sondern marktförmig. Ein großer Teil der aktuellen Probleme der Kirche dürfte im Übrigen darin bestehen, dass sie diesen epochalen Kontextwechsel in ihrem konkreten Handeln weit gefügiger nachvollzogen hat als in ihren Reflexionsdiskursen, was zu einer unübersehbaren theoretischen, vor allem systematisch-theologischen Unterbestimmung ihres Handelns und zum Auseinanderklaffen eines marktkritischen theologischen Selbstverständnisdiskurses und eines marktförmigen Verhaltens führt. Dass eine Mehrheit der Kirchenmitglieder mittlerweile die Kirche schon ganz anders nutzt, als diese selbst es wünscht und vorschreibt, bleibt dann merkwürdig wenig beachtet, ja „unbekannt“.261

      Das